„Wir haben die rechten Faschisten in die Flucht getrieben“, lautete eine der jüngst veröffentlichten Facebook-Erfolgsmeldungen diverser Stoßtrupps der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) nach ihren Einsätzen gegen Aktivist*innen aus der Tieflandmetropole Santa Cruz, im südlichen Tarija oder am Regierungssitz La Paz. Die vorgeblichen Faschisten hatten sich in Santa Cruz mit einem Generalstreik gegen die Verschiebung der Volkszählung eingesetzt. Georg Dietz kritisierte jüngst in einer taz-Kolumne eine gewisse Scheu in Deutschland, den Faschismus-Begriff zu verwenden. Diese Scheu gab es in Santa Cruz wohl nicht. Doch wer anderen solche historisch belasteten Etiketten anheftet, sollte auch sein eigenes Handeln daran messen: Die Auflösung des Gewaltmonopols des Staates, die Selbstjustiz auf den Straßen, Gewalt gegen politische Gegner durch parteinahe Organisationen, Führerkult, mangelhafte Gewaltenteilung, eine Sondereinheit des Militärs zum Ausspähen Oppositioneller, die verbreitete Praxis des Folterns, das Fehlen rechtsstaatlicher Garantien und eine polarisierende Ideologie mit klaren – zumal ethnisch gefärbten – Feindbildern sind durchweg fragwürdige Elemente, von denen manche allerdings auch auf Oppositionsseite zu finden sind. Sie zermahlen die politische Mitte und können durchaus an den historischen Faschismus erinnern.
Die Streikenden hatten mit Bändern oder Spielzeug Straßen in Santa Cruz abgesperrt oder wie in La Paz oder Tarija einfach eine Demonstration durchführen wollen. Deshalb waren sie hier wie dort von den Stoßtruppen der regierenden MAS mit Steinen, Feuerwerkskörpern, Holzlatten… angegriffen worden. Dies bei Passivität oder gar mit Unterstützung der Polizei.
Die schaute auch zu, als ein Journalist des TV-Senders UNITEL – u.a. von einem Mitarbeiter der Straßenbehörde – krankenhausreif geschlagen wurde. Dagegen misshandelte die Polizei selbst Sprecher des Bürgerkomitees von Quijarro bei deren Verhaftung. Denen wollten die Gerichte die Schuld für den ersten Toten des Konflikts in die Schuhe schieben. Sie schickten sie deshalb erst einmal für sechs Monate in Untersuchungshaft, obwohl sie am Tatort gar nicht anwesend waren. Der Sohn des Opfers schon. Nach seinen Aussagen war sein Vater bei einem Tränengaseinsatz der Polizei gestürzt und habe sich dabei den Kopf aufgeschlagen. Der Vater war vom Bürgermeister, seinem Arbeitgeber, losgeschickt worden, um eine Straßenblockade des Bürger*innen-Komitees aufzulösen.
Zivilisten übernehmen Polizeiaufgaben, Polizist*innen werden für die Regierungspartei instrumentalisiert
Auch wenn Straßenblockaden in Bolivien anders als in Deutschland ein übliches Mittel der politischen Auseinandersetzung sind (siehe auch den Kommentar „Straßenblockierer sind keine Terroristen“ von Tilmann Elliesen in Welt-Sichten), wäre ihre Auflösung auch im Plurinationalen Staat eigentlich Aufgabe der Polizei. Ebenso wie die Festnahme von mit Pistolen, Gewehren oder Sprengstoff bestückten Zivilisten an Blockaden durch die protestierenden Nachbar*innen. Auch wenn diese später samt Waffen an die Polizei übergeben und danach von dieser freigelassen werden. Keineswegs ein neues Phänomen. Dem Polizisten, der 2018 für die Tötung eines Studenten der Universität von El Alto bei einem Einsatz gegen Protestierende Studierende alleine verantwortlich gemacht und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, gab man schnell Hausarrest. Jüngst wurde er wieder in den Polizeidienst aufgenommen.
Morddrohungen
„Wir werden Camacho töten“, drohte Ever Rojas, Sprecher der regierungsnahen Kleinbauernorganisation CSUTCB in Bezug auf den mit 55% der Stimmen gewählten Gouverneur von Santa Cruz, „und wir werden die Rechte aus dem Land vertreiben.“ Umgekehrt wird fast der gleiche Prozentsatz an Stimmen, mit denen Luis Arce Catacora 2020 zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, als Argument herangezogen, dass die restlichen 45% keine Rechte haben.
„Wir sind 55%, 30 Jahre Haft für Añez“ steht in La Paz im Viertel Miraflores auf vielen Hauswänden; dies vor allem in der Umgebung des Frauengefängnisses, wo die ehemalige Präsidentin seit anderthalb Jahren inhaftiert ist.
Während der online geführten Gerichtsverhandlungen sammeln sich größere Gruppen vor der Gefängnistür, um die Politikerin lautstark als Mörderin zu bezichtigen und eben jene 30 Jahre Haft zu fordern, obwohl es im Verfahren um die Rechtmäßigkeit ihrer damaligen Regierungsübernahme und Delikte geht, für die die Strafprozessordnung maximal 15 Jahre Haft vorsieht. Ein Gutteil derer, die die Ex-Präsidentin von der Straße her einzuschüchtern versuchen, sind Ministeriumsangestellte, die in ihrer Dienstzeit anscheinend nichts Sinnvolleres zu tun haben.
Politische Stoßtrupps mit öffentlichen Geldern
Ob in Ministerien, im Justizwesen oder bei Arbeitsbeschaffungsprogramm: Die Grenzen zwischen Partei- und Staatsinteressen werden verwischt. Drei Monaten Arbeitsbeschaffungsprogramm folgen drei Monate Bereitschaft für die Teilnahme an Demonstrationen oder den „selbstorganisierten“ Stoßtrupps gegen Oppositionelle, wenn man danach wieder für weitere drei Monate beschäftigt werden will. Selbst Oppositionsbürgermeister sollen sich das Prinzip schon zu eigen gemacht haben. Auch der Dachverband der Bergbaukooperativen hat organisierte Gruppen, die nichts anderes zu tun haben, als für den Konfliktfall bereit zu stehen, um auf die Straße zu gehen.
Auf die Straße gehen auch Militärs oder Polizisten in Zivil, um sich unter oppositionelle Demonstrant*innen zu und diese aufzumischen. Als bei einem Ärzt*innenprotest eine Gruppe Demonstrierender festgenommen wurde, die sich nicht nur mit Schutzschildern gegen Steine werfende Regierungsanhänger zu schützen versuchten, sondern in deren Rucksäcken auch Feuerwerkskörper gefunden wurden, wurde der größere Teil – Militärs in zivil – schnell wieder freigelassen, drei andere jedoch für sechs Monate in Untersuchungshaft gesteckt.
Die Justiz ist auf einem Auge blind
Gegen paramilitärische, parapolizeiliche oder andere bewaffnete Gruppen vorzugehen, ist einer der Aufträge der GIEI, der Untersuchungskommission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nachgang der Wahlen, den Protesten und dem Rücktritt von Evo Morales 2019. Doch die geforderte Entschiedenheit zeigen Justiz und Sicherheitsorgane nur gegenüber Gruppen aus dem oppositionellen Spektrum. Die Köpfe der „Resistencia Cochala“, die damals mit Eisenketten und Prügeln gegen die Stoßtruppen der MAS auftraten, sitzen seit dem erneuten Regierungsantritt der MAS in Untersuchungshaft. Allerdings (noch) nicht wegen der Auseinandersetzungen in Cochabamba, sondern wegen eines Protestes vor der Generalstaatsanwaltschaft in Sucre, wo sie die Wände und das Eingangstor mit Rücktrittsforderungen gegen den Staatsanwalt beschmiert hatten. Eine Richterin, die entschieden hatte, sie sollten sich in Freiheit verteidigen, weil die Angeklagten auf den als Beweis vorgelegten Videos gar nicht zu sehen waren, wurde in unbezahlten Urlaub geschickt. Die Generalamnestie für die Anhänger*innen von Evo Morales dagegen wurde zwar auf Empfehlung der GIEI wieder annulliert, allerdings später auch keines der Strafverfahren wegen Gewalttaten, Folter oder Zerstörung öffentlicher Güter wieder aufgenommen. Der internationale Strafgerichtshof seinerseits stellte ein von der Übergangsregierung angestrengtes Verfahren wegen Verletzung des Völkerrechts durch Evo Morales ein. Die Regierung Arce war den Beweisanfragen des Strafgerichtshof nicht mehr nachgekommen.
Wo die Regierung den Staat mit der Partei gleichsetzt, kommt sie ihren menschenrechtlichen Aufgaben nicht mehr nach
Und so sah sich drei Jahre danach der Beauftragte der Interamerikanischen Menschenrechtskommission für Bolivien, der Mexikaner Joel Hernández, genötigt, die bolivianische Regierung darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Protest vom Staat geschützt werden müsse, das Abschneiden der Grundversorgung der Bevölkerung nicht von diesem Recht abgedeckt. Dazu gehören Grundnahrungsmittel, aber auch die medizinische Versorgung, die die Basisorganisationen der MAS und diesmal auch die Staatsangestellten nun erneut in 2022 zu unterbinden versuchten, um den Generalstreik in Santa Cruz zu brechen. Dabei wird die Situation zuweilen unübersichtlich. Der Absperrung der Zufahrtswege nach Santa Cruz durch Anhänger*innen der MAS, um den dortigen Generalstreik des Bürger*innenkomitees zu brechen, folgten Blockaden der Überlandstraßen im Hochland und an der chilenischen Grenze durch die Transportunternehmen. Die wandten sich gegen die Einschließung von Santa Cruz durch die MAS. Gleichzeitig kündigten die Kokabauern der Yungas, der Verband der städtischen Lehrer*innen und die Ärzt*innen-Vereinigung ihrerseits Streik und Blockaden in La Paz an, sollte die Regierung nicht nachgeben. Immerhin: Der Versuch der regierungsnahen Gruppen, Santa Cruz von der Gas- und Nahrungsmittelversorgung abzuschneiden, wurde ein paar Tage nach den Ermahnungen der CIDH während den Verhandlungen um den Volkszählungstermin einstweilen unterbrochen.
Ehemalige Weggefährten wenden sich vom MAS ab
Lino Villca, ehemaliger MAS Abgeordneter aus den Reihen der Kokabauern von La Paz, im Interview mit dem Journalisten Gonzalo Rivera spricht von anarchischen Zuständen. Aber auch unverblümt von seiner früheren Partei als einer weiteren Ausdrucksform des Faschismus im Bündnis mit Polizei und Staatsanwaltschaft. „Wenn wir demonstrieren, unterdrücken sie den Protest und sperren uns ein. Aber wenn sie die Bürgerinnen und Bürger misshandeln, gibt es keine einzige verhaftete Person.“ Die angeblichen Brüder, würden mit Sandalen und unter den Farben der Whipala, dem Banner der Hochland-Indigenas, getreten. Der Hass sei von Evo Morales gesäht worden. „Sie haben die indigenen Bewegung entehrt und entwürdigt. Wir indígenas gehen so nicht vor“.
Felix Santos, der mit einer neu gegründeten Bauernorganisation der Bewegung die Unabhängigkeit zurückgegeben will und der vor Jahren Evo Morales die „Bewegung zum Sozialismus“ als Partei in den Schoss gelegt hatte, stimmt Villca zu. „Wir Quechua sind keine Kultur der Konfrontation und Erniedrigung der anderen, sondern des Respekts.“ Die MAS dagegen führe das Land durch die Konfrontationsstrategie an den Abgrund.
Doch so wie die Mehrheit der Bevölkerung 2020 die Durchsetzung rechtsautoritärer Vorstellungen der Übergangsregierung verhindert und die MAS bei den Wahlen wieder in den Sessel gehoben hat, so schafft die Regierung unter Präsident Luis Arce Catacora es nun auch nicht, die angestrebte politische Hegemonie seiner Partei auf der Straße durchzusetzen. Und meist waren die in die Flucht getriebenen vorgeblichen Faschisten wenig später wieder am blockieren.
Trotz Faschismus- oder Putschvorwürfen, die durch ihren inflationären Gebrauch nicht nur an Schärfe, sondern auch an Bedeutung verlieren, bekommt Luis Arce den Widerstand nicht nur traditioneller Eliten, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung gegen das autoritär-korporatistische Staatsmodell der „Bewegung zum Sozialismus“ und gegen das Abschleifen der verbleibenden rechtsstaatlichen Schutzmauern zu spüren. Zumal der Präsident im Wahlkampf 2020 etwas anderes versprochen hatte.