vonPeter Strack 24.04.2021

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Man werde alle nötigen Gerichtsverfahren in Gang setzen, erklärte der bolivianische Präsident Luis Arce auf einer Massenveranstaltung seiner Partei am 17. April, damit den 36 Opfern von Senkata, Sacaba und Huayllani Gerechtigkeit widerfahre. Was er anscheinend vergessen hatte: Zu den 36 Toten im Zuge der gewaltsamen Konflikte nach der Präsidentschaftswahl 2019 gehören auch Personen aus anderen Orten und aus den Reihen der Opposition. Bekanntlich beschloss das Parlament in Bezug auf letztere kürzlich eine Amnestie für die Täter.

Da die Opposition keine Wahlen gewinnen könne, plane sie immer wieder Putschversuche, so Arce. Mit Unterstützung aus dem Ausland. Das werde man nicht zulassen. Dabei hatte die Regierung nur wenige Tage zuvor vier Wahlen gegen die Opposition verloren. Aber deutlicher konnte er nicht ausdrücken, dass die Justiz weiter eine wichtige Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielen soll. Trotz der mal diskreteren (wie von der EU), mal deutlicheren (Human Rights Watch) Kritik aus dem Aus- und Inland am lawfare der Regierung,

Evo Morales hatte mit seinen Versuchen, sich an der Macht zu halten, die gewalttätigen Konflikte 2019 ausgelöst. Seine Führungsriege hatte diese später mit der Mobilisierung gewalttätiger Gruppen und dem Einsatz von Scharfschützen gegen Demonstrierende eskalieren lassen. Nach der jüngsten Veranstaltung machte der Kampagnen- und Parteichef der MAS jedoch deutlich, dass auch eigene Parteifreund*innen die autoritäre Restauration zu spüren bekommen sollten. Nach den Kommunal- und Regionalwahlen waren die Forderungen nach Erneuerung aus der eigenen Partei stärker geworden. Er habe die Kritik an seinem Führungsstil geduldig ertragen. Nun müsse die Einheit wieder hergestellt werden. Es gehe nicht, so Morales weiter, dass öffentlich über interne Meinungsunterschiede geredet werde. Genau das tat er in der Pressekonferenz: Einige Vertreter*innen der Basis hätten unter dem Vorwand der Erneuerung seine Führung in Frage gestellt. Selbst in der Regierung gebe es bei einigen Vizeministern kritische Stimmen. Die „Anti-Evistas“ müssten die Partei und den Regierungsapparat verlassen.

Doch anders als früher meldeten sich sofort auch wieder kritische Stimmen aus der eigenen Partei zu Wort. Evo Morales solle sich lieber von der alten Machtclique trennen, die ihn immer und immer wieder falsch berate, meinte der MAS-Abgeordnete Rolando Cuellar aus Santa Cruz.

Auch für die ehemalige Senatorin der MAS Eva Copa hatte Evo Morales ein wenig versöhnliches Etikett zu vergeben: „Verräterin“. Obwohl die Basisorganisationen für Eva Copa als Bürgermeisterkandidatin von El Alto optiert hatten, hatte die Parteispitze sie wie schon bei den Nationalwahlen marginalisiert. Copa gewann dann die Bürgermeisterwahlen auf dem Ticket einer anderen Partei. Und das mit zwei Dritteln der Stimmen. Die frisch gewählte Autorität entgegnete mit Bezug auf die Flucht von Morales im November 2019 ins Ausland: Ein Verräter sei der, der die Menschen im Konflikt alleine lasse. Sie hatte sich damals der Bürgerkriegsstrategie der Parteioberen entgegen- und für eine Verhandlungslösung des Konflikts eingesetzt.

Klagewelle gegen die Opposition: Rache, Gerechtigkeit oder Machtsicherung?

Bereits kurz nach dem ersten Durchgang der Kommunal- und Regionalwahlen hatte eine Klagewelle gegen Oppositionelle eingesetzt. So soll sich der frühere Minister für den Erdöl- und Erdgassektor wegen Schädigung der Volkswirtschaft verantworten. MAS-Anhänger hatten während der Konflikte im November 2019 eine Gasleitung in den Cochabambiner Tropen gesprengt. Deswegen musste der Betrieb einer dortigen staatlichen Düngelmittelfabrik unterbrochen werden. Die Übergangsregierung hatte das seit Beginn an defizitäre und immer wieder wegen technischer Probleme stillgelegte Vorzeigeprojekt der MAS-Regierung jedoch nach der Reparatur der Gasleitung nicht wieder an den Start gebracht. Nun ist die Frage, was langfristig schwerwiegender ist: Die laufenden Defizite oder der Schaden, der durch den Stillstand oder gar eine Schließung der Fabrik entsteht. Der Auftragnehmer für den Bau der Fabrik, der koreanische SAMSUNG-Konzern, verlangt jedenfalls die Abzahlung der 843 Millionen US-Dollar an Krediten. Für die MAS-Regierung ist klar, dass der Übergangsminister für den Schaden verantwortlich ist, nicht der Minister, der das unwirtschaftliche Projekt auf den Weg gebracht und die Schulden aufgenommen hat. Und vor allem ist klar, dass es eine Möglichkeit ist, einen Prozess zu führen.

Bewaffnete Zivilisten und das Gewaltmonopol

Stoßtruppen der MAS im Chapare, Foto: Los Tiempos

Ein anderer Fall ist der von Yassir Molina, Chef der sogenannten „Resistencia Cochala“ aus Cochabamba. Während der Proteste gegen den Wahlbetrug im Oktober und November 2019 hatte die Polizei auf Befehl von oben darauf verzichtet einzugreifen, wenn es zu Übergriffen gegen die „Pititas“ kam. Die Pititas waren die Nachbarinnen und Nachbarn, die ihre Straßen und Viertel mit schlichten Bändern, Sofas oder anderen Barrikaden blockiert hatten. Morales hatte sie damals noch verspottet. Man müsse ihnen zeigen, wie man richtige Blockaden organisiert. Doch es blieb nicht bei den Pititas, den Bändchen. Um Yassir Molina organisierte sich eine Gruppe von mit Stöcken und Ketten bewaffneten Motorradfahrer*innen. Die wurden immer dann zur Hilfe gerufen, wenn mit Stöcken oder Macheten bewaffneten Anhänger*innen der MAS sich anschickten, die Blockaden aufzulösen. An der Huayculi-Brücke in Quillacollo hatten sie sogar einen Blockierer getötet. Der Konflikt eskalierte. Bei der „Resistencia“ wie auch bei den Kokabauern kam es zur Aufrüstung, zu geschärften Feindbildern und zu paramilitärischen Strukturen. Letzteres jedoch leugnet die “Resistencia Cochala bis heute. Während die MAS ganz offen den Aufbau von eigenen Milizen angekündigt oder zumindest gefordert hat. Man bedauerte nur, das man den Aufbau habe unterbrechen müssen, weil die Mitglieder den Mund nicht hätten halten können.

Doch um diese bedenkliche Entwicklung geht es bei dem laufenden Gerichtsverfahren gegen Yassir Molina nicht. Es geht um einen Protest vor der Generalstaatsanwaltschaft in Sucre, bei der Dynamit gezündet, die Straße und das Gebäude blockiert, und das Tor der Staatsanwaltschaft mit einem Graffiti versehen wurde. Beschädigung des kulturellen Erbes lautet ein Anklagepunkt neben unerlaubten Waffenbesitz und Gründung einer terroristischen Vereinigung.

Protest der “Resistencia Cochala” vor der Staatsanwaltschaft in Sucre

Nun richtet ein Graffiti weniger Schaden an als die Sprengung einer Gasleitung, eines Fußgängerüberwegs, als die Plünderung und Verwüstung einer Polizeistation oder die Schädigung der Asphaltdecke der Überlandstraße durch Sprengung des daneben gelegenen Berge. Doch für die MAS-Anhänger*innen hatte das Parlament ja bereits eine Generalamnestie verabschiedet. Als „Opfer politisch motivierter Verfolgung“ sollten selbst diejenigen von dem Dekret profitieren, die sich an der Erschießung von Protestlern in Santa Cruz beteiligt hatten.

Die Richterin in Sucre ließ Molina von der Resistencia Cochala zunächst wieder laufen, weil er auf keinem der Beweisvideos zu sehen gewesen sei. Prompt wurde die Richterin für einen Monat in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt und Molina von der nächsthöheren Instanz für zunächst ein halbes Jahr in Untersuchungshaft geschickt.

Zwischen Vergessen, Vertuschen und Warten auf Gerechtigkeit

Seit einem Monat in Untersuchungshaft sitzen auch zwei Minister und die Übergangspräsidentin Jeanine Añez. Dies wird begleitet von einer Medienkampagne im Staatsfernsehen mit Bildern von den Opfern der gewaltsamen Auseinandersetzungen von Senkata und Sacaba. Jeden Abend zur Hauptsendezeit berichten im Staatsfernsehen im Programm “Wir sind Demokratie” Menschen, die auf der Straße angeschossen oder in der Untersuchungshaft misshandelt oder gefoltert wurden, von ihrem Leiden und dem von Freund*innen und Angehörigen.

Angehörige von Opfern aus Senkata fordern Gerechtigkeit, Foto: ABI

Das ist wichtig, damit die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. Überzeugender wäre es jedoch, wenn auch diejenigen zu Wort kämen, die in den Monaten der Konflikte von Anhängern der MAS entführt, misshandelt oder zum Beispiel mit Benzin übergossen wurden, verbunden mit der Drohung, sie anzuzünden. Und damit sich solche Gräuel nicht wiederholen, wäre eine Analyse der Konfliktdynamik, der Akteure und Drahtzieher nötig und auch journalistisch geboten.(siehe auch die Journalistin Amalia Pando zur Drohung des Sprechers der Cocaleros, Feliciano Mamani im Vorfeld der Ereignisse von Sacaba, Hunderte Scharfschützen in Stellung bringen zu wollen).

Der Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission des Interamerikanischen Menschenrechtskomittees, der noch von der Añez-Regierung in Auftrag gegeben wurde, wird Ende Mai erwartet. Für die derzeitige Regierung ist die Verantwortung für die Toten klar: Die Übergangsregierung und die damalige Militär- und Polizeiführung. Ob der von den Kokabauern angekündigte Einsatz von Scharfschützen bei den Protesten gegen die Übergangsregierung im Bericht auftauchen wird, wird sich zeigen. Dass Menschen durch Waffen getötet wurden, die nicht zur regulären Ausstattung von Polizei und Militär gehören, ist dabei noch kein Beweis der Unschuld der staatlichen Kräfte. Schon unter der Morales-Regierung waren nicht-reguläre Waffen eingesetzt worden, so wie bei der Tötung des protestierenden Studenten Jonathan in El Alto. Umgekehrt ist auch die Identifizierung von Kalibern, die von der Polizei benutzt werden, nach der Plünderung der Polizeistationen, kein Beweis, dass ein Polizist der Täter war. Eine schwierige Aufgabe für die Expertenkommission der CIDH.

Schlagseite bei der Strafverfolgung

Eine Reihe von Militärs und Polizeichefs sowie Mitglieder mittlerer Rängen sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Und bei Angehörigen sowie bei der Polizei und dem Militär selbst rumort es. Man glaubt, zum Sündenbock für Konflikte gemacht zu werden, die andere zu verantworten haben.

Doch im aktuellen Strafprozess gegen Añez geht es nicht um die Klärung der Vorfälle von Senkata und Sacaba. Denn als ehemalige Präsidentin könnte sie für ihr Regierungshandeln laut Verfassung nicht vor ein ordentliches Gericht gestellt werden. So wirft man ihr vor, noch als Senatorin an Terroraktivitäten, einem Aufstand und Putsch gegen die Regierung Morales beteiligt gewesen zu sein. Die Anzeige war ursprünglich gegen Fernando Camacho, den Sieger der Regionalwahlen in Santa Cruz, seinen Vater und den damaligen Militärchef eingereicht worden. Añez wurde später hinzugenommen. Die beiden Zeugenaussagen, die der Festnahme von Añez zugrunde lagen, bzw. nach Festnahme nachgeschoben wurden, handeln aber nicht von Bombenattentaten oder ähnlichem, was man sich unter Terrorismus vorstellen würde. Eine Zeugin ist eine frühere Ministerin von Evo Morales. Der andere ist der gleiche Zeuge, der schon beim Terrorismus-Prozess gegen die Tiefland-Eliten in der ersten Regierungsperiode von Morales aufgetreten war und der sich als Bote des damaligen Staatswanwalts bei der Erpressung von Oppositionellen keinen guten Ruf erworben hat.

Politische Verhandlungen unter Terrorverdacht

Foto von einer der Verhandlungen, wegen derer Jeanine Añez angeklagt ist, ohne beteiligt gewesen zu sein. In der Mitte drei Vertreterinnen von Evo Morales MAS, Quelle: infobae

Was beschreiben die Zeugen als Straftat: Verhandlungen zwischen Vertreter*innen der wichtigsten Parteien – darunter auch der MAS – unter Vermittlung der Katholischen Bischöfe, der europäischen Union und später auch der UNO. Die Frage war damals, wie das durch den Rücktritt von Evo Morales, seiner Minister*innen und der relevanten Leitungsfiguren von Senat und Parlament entstandene Machtvakuum gefüllt werden könnte. Erst müsse Evo Morales sicher außer Landes sein, habe die MAS-Vertreterin Adriana Salvatierra verlangt, bevor über den Übergang verhandelt werden könne. Dem sei man nachgekommen, berichtet Ex-Präsident Tuto Quiroga. Dafür habe er die nötigen Anrufe getätigt. Und während andere MAS-Abgeordnete andernorts noch über Alternativen nachdachten, wurde in den Räumlichkeiten der katholischen Universität vereinbart, dass die zweite stellvertretende Senatspräsidentin Jeanine Añez das Amt als Präsidentin übernehmen solle. Die befand sich da noch in ihrer Heimat in der Tieflandregion des Beni und war gar nicht an den Verhandlungen beteiligt. Trotzdem werden diese Verhandlungen ihr und ihrem damaligen Rechtsberater und späteren Justizminister nun zum Vorwurf gemacht. Abgesehen von der Frage, ob eine politische Verhandlung juristisch als Terrorismus eingestuft werden kann, ist offensichtlich, dass Añez daran nicht beteiligt war. Und weil das auch den Regierungsjuristen klar ist, versucht man der eigenen Basis vorzumachen, es ginge um Gerechtigkeit für die Opfer von Senkata und Sacaba und nicht um die Frage, ob es Ende 2019 Wahlbetrug, einen misslungenen Rücktritt der Morales-Regierung, einen Volksaufstand, einen Putschversuch oder eine Mischung von all dem gegeben hat.

Warum habe das Parlament damals mit der verbliebenen Mehrheit der MAS-Abgeordneten einstimmig die Wahlen wegen Betrugs annuliert und die Regierung von Añez als rechtmäßig anerkannt, fragt die Opposition. Weil es eine Diktatur gewesen sei, und man um Leib und Leben der eigenen Familien fürchten musste, das Argument der MAS. Warum der im Oktober gewählte Präsident Luis Arce Catacora im Wahlkampf noch eingeräumt hat, dass die Regierung von Añez verfassungsgemäss sei. Nein, nicht um die Wählerschaft der gemäßigten Mitte zu gewinnen. Er sei eben kein Universalexperte. Man habe ihm das eben damals so weisgemacht. Jetzt wisse er es besser. Auch der aktuelle Regierungssprecher Jorge Richter verwies angesichts von Videoaufnahmen früherer Stellungnahmen, in denen er von einem verfassungsgemäßen Übergang gesprochen hatte, darauf, dass sich in der Wissenschaft die Einschätzungen im Laufe der Zeit verändern könnten. Nur, in der Wissenschaft müsste man dafür Studien vorweisen.

Die ersten Tage nach der Verhaftung verbrachte die Ex-präsidentin noch in einer Zelle der Kriminalpolizei

Auch Erinnerungen an andere Ungereimtheiten werden von der Regierung als Teil einer Destabilisierungskampagne denunziert, statt zur Sache zu kommen. So die Frage zum Zeitpunkt der Rücktrittsentscheidung, wie sie Evo Morales in einem in Buenos Aires veröffentlichten Buch zur Kenntnis gegeben hatte. Demnach lag sie vor der fraglichen Gesprächsrunde, die die Staatsanwaltschaft nun als Aufstand bzw. Terrorismus einzuordnen versucht. Während die brandschatzenden Fußtruppen der MAS, die sich damals bereits in La Paz auf den Weg gemacht hatten, dem Vergessen anheim fallen.

Vergessen wird von der Staatsanwaltschaft auch, dass an der fraglichen Sitzung Jeanine Añez wie erwähnt nicht beteiligt war. Wohl aber Vertreterinnen der MAS. Warum statt diesen also Añez und der spätere Justiz-Minister festgenommen werden, die sich damals noch weit weg im Tiefland aufgehalten hatten, ist juristisch wenig einleuchtend. Der aktuelle Justizminister forderte gleichwohl vorsorglich 30 Jahre Haft. 

Und so sitzt Añez nun im Frauengefängnis von Miraflores in ihrer Zelle, wenige Meter entfernt von Gabriela Zapata. Die muss alleine für einen Korruptionskandal den Rücken hinhalten, der die Regierung ihres Ex-Geliebten Evo Morales vor Jahren im Vorfeld des Verfassungsreferendums erschüttert hatte. Unter anderem ging es dabei um ein gescheitertes Eisenbahn-Bau Projekt des chinesischen CAMC-Konzerns. Wäre die Strecke zeitig gebaut worden, wäre der Marktzugang der umstrittenen Düngemittelfabrik nach Brasilien nun besser und die Defizite möglicherweise geringer.

Dass heute die Ex-Präsidentin Añez nicht mal ein Radio mit in die Untersuchungshaft nehmen und trotz 40 Grad Fieber, Bluthochdruck und Harnwegsinfektion nicht zwischenzeitlich in ein Krankenhaus gebracht werden darf, kann gleichwohl nicht mit der Verdunklungs- oder Fluchtgefahr begründet werden, aufgrund derer der Richter die Untersuchungshaft angeordnet hat.

Das Thema sei zu komplex, meinte die interamerikanische Menschenrechtskommission, um sie im Rahmen einer Schutzmaßnahme klären zu können. Gerade deshalb wäre angesichts der Unregelmäßigkeiten eine vorläufige Schutzmaßnahme für die Übergangspräsidentin angemessen gewesen, bis die dahinter stehenden Fragen geklärt werden können.

Regierungen wechseln, die Justiz bleibt die Gleiche

Der Fall erinnert in manchem an das vergangene Jahr. Damals wurde die ehemalige Stabschefin und spätere Anwältin von Evo Morales sieben Monate lang unter ähnlich restiktiven Auflagen in Untersuchungshaft genommen. Als seine Anwältin musste Patricia Hermosa mit Evo Morales telefonieren, auch wenn der aus dem argentinischen Exil zur Lebensmittelblockade der Städte aufrief. Es ging um den Versuch der Einschreibung des ex-Präsidenten als Kandidaten für einen Senatorenposten. Auch bei Hermosa lautete der Vorwurf damals u.a. Terrorismus. Die bolivianische Ombudsfrau kritisierte die illegale Festnahme, die Verletzung des Prinzips der Unschuldsvermutung und andere Verfahrensfehler, sowie frauenfeindliche Äußerungen. (Zum Lawfare der Übergangsregierung siehe den Beitrag vom Februar 2020 in der ila432 S51-53).

Auch bei Jeanine Añez scheint es eine Rolle zu spielen, dass sie eine Frau ist. Dass sie geschieden sei, wurde vom Richter als Beleg für fehlende familiäre Bindung und damit eine erhöhte Fluchtgefahr gewertet. Die Hauptverantwortlichen sowohl für die politische Verfolgung unter der Regierung Añez, als auch für die Polizei- und Militäreinsätze in Senkata und Sacaba hatten sich dagegen im November vergangenen Jahres ins Ausland abgesetzt. Und weil man sie nicht erwischen kann und Interpol sich wegen fehlender rechtsstaatlicher Garantien mehrfach weigerte, einen internationalen Haftbefehl auszustellen, hat man den letzten Chef der Migrationsbehörde unter der Übergangsregierung in Untersuchungshaft genommen. Er sei gar nicht mehr im Amt gewesen, als der frühere Innen- und der frühere Verteidigungsminister das Land verlassen hätten, argumentiert der Anwalt. Und weil die Staatsanwaltschaft dieses wichtige Detail in fünf Monaten nicht geklärt hat, wurde die Untersuchungshaft gleich noch einmal um einige Monate verlängert.

Anfangs verursachte diese politische Instrumentalisierung der Justiz noch massive Proteste. Wäre es nach dem Bürger*innen-Komitee von Santa Cruz gegangen, hätte es erneut massive Straßenblockaden und Generalstreik geben sollen, so wie 2019. Doch ihr Aufruf zu Koordinationstreffen fand nur ein mageres Echo. Nicht wenige fürchteten eine neue Eskalation der Gewalt zwischen Regierungsanhänger*innen und Regierungskritiker*innen. Und das bei wieder hohen Infektionszahlen mit COVID.

In Cochabamba wurden einzelne kleinere Straßenblockaden wie in Huayculi von der Polizei schnell aufgelöst. Bei den Blockaden würden die Lastwagen auf Nebenwege ausweichen. Die seien für deren Gewicht nicht ausgelegt, argumentierte der Polizeichef am Blockadepunkt. Und man wolle doch keinen Schaden anrichten. Die Rückfrage, ob das dann auch bei Straßenblockaden anderer, der MAS nahestehenden Gruppen gelte, konnte bereits eine Woche später klar mit “Nein” beantwortet werden.

Angesichts schlechter Aussichten, im Land Recht zu bekommen begab sich diese Woche dann eine Delegation oppositioneller Parlamentarier in die USA zur Interamerikanischen Menschenrechtskommission und Human Rights Watch. Das sei Landesverrat, urteilten sogleich Vertreter der Regierungspartei und man werde eine Untersuchung einleiten.

Viele Verfahren – wenig Gerechtigkeit

Aber weil solche und auch die Terrorismus-Vorwürfe wie gegen die Präsidentin juristisch auf schwachen Füßen stehen, bereiten die Minister von Arces Kabinett gleich eine Reihe weiterer Verfahren vor. Der ehemalige Vize-Innenminister wird angeklagt, weil er bei dem Empfang von Beatmungsgeräten zu einem Zeitpunkt anwesend war, als die damalige Parlamentskommission das nötige Empfangsdokument noch nicht ausgestellt hatte. Der ehemalige Wirtschaftsminister wird vorgeladen, weil er ohne Genehmigung des Parlamentes Sonderziehungsrechte beim IWF in Anspruch genommen, und weil er ohne Ausschreibung die Lizenz einer Stiftung verlängert hatte, die seit vielen Jahren für die Registrierung von Betrieben verantwortlich ist. Und gegen die Expräsidentin bereitet der Justizminister vier weitere Klagen vor. Unter anderem wegen der völkerrechtswidrig geschlossenen Grenze für bolivianische Bürger*innen während der Pandemie oder der fehlenden Ausstattung mit Beatmungsgeräten in den Krankenhäusern. Diejenigen, die die Versorgung der Krankenhäuser mit Sauerstoff blockiert und Ärzte bedroht hatten, weil sie damals COVID-Fälle diagnostiziert hatten, wurden – wie erwähnt – amnestiert. Bei den neuen Anklagen gegen Mitglieder der Übergangsregierung sind die Toten von Senkata und Sacaba dabei noch gar nicht berücksichtigt. Und wenn die Bevölkerung in El Alto oder die Organisation der „Interculturales“ nun den Rücktritt des Justizministers fordert, dann nicht wegen der parteipolitischen Instrumentalisierung der Justiz gegen die Opposition, sondern weil es noch keine Verurteilung gibt.

Selbst die Opposition setzt auf die Justiz. Da wird die frühere MAS-Abgeordnete Lidia Patty, auf deren Anzeige die Verhaftung von Jeanine Añez zurück geht, angezeigt: Weil sie die Wahlen von 2019 mit ihrer Stimme für ungültig erklärt und das Mandat von Añez verlängert habe. Wenn die Regierung nicht legal gewesen sei, habe auch sie sich strafbar gemacht. Oder gegen den Präsidenten Arce wird Anklage wegen Diskriminierung und Verweigerung von Grundrechten erhoben. Er hatte im Wahlkampf gewettert, die Anti-COVID-Impfungen seien nicht für die Reichen, für die Oligarchie aus der Tarija-Region, sondern für das Volk. Beide Anzeigen wurden von der Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß zurückgewiesen.

Terrorismus? Strassenblockade aus Protest gegen Wahlbetrug 2019, Foto aus Cochabamba: Peter Strack

Für die Eröffnung eines in der Verfassung vorgesehenen Sonderverfahrens gegen die ehemalige Präsidentin ist aber eine 2/3 Mehrheit im Parlament erforderlich. Dafür werden Stimmen der Opposition benötigt. Carlos Mesa, Chef der größten Oppositionspartei zeigte sich offen, auf diesem Wege die Menschenrechtsverletzungen während der Konflikte aufzuklären. Allerdings unter der Voraussetzung, dass ein solches Verfahren nicht von der Regierung kontrolliert und instrumentalisiert werde. Doch dafür müsste es ein Interesse an ehrlicher Aufklärung der Vorgänge und ihrer Hintergründe geben.

Justiz und mangelndes Rechtsbewusstsein als koloniales Erbe

Jenseits allen Parteienstreits ist für fast 90% der Bolivianer*innen laut Umfrage des Radionetzwerks ERBOL eines klar: Die Justiz liegt am Boden und erfüllt nicht ihre Aufgabe, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Auch Evo Morales beschwerte sich: Hätte die Justiz ihre Arbeit richtig gemacht, dann hätten Fernando Camacho in Santa Cruz, Reyes Villa in Cochabamba und Iván Arias in La Paz auch nicht die Wahlen gewonnen. Sprich: Weil man sie nicht hätte kandidieren lassen.

Doch der mit der Justizreform beauftragte Minister Iván Lima und die dazu berufene Expertenkommission wurden von der Arce-Regierung nur wenige Tage nach der konstituierenden Sitzung wieder zurückgepfiffen. Zu wichtig scheint eine abhängige Justiz zur Absicherung der eigenen Macht. Die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, der Caudillismo und das schwache Rechtsbewusstsein seien auch ein Erbe der Kolonialzeit und des republikanischen Staates des 19. Jahrhunderts, meint zumindest der Sozialphilosoph und Politologe H.C.F. Mansilla. Daran haben auch die Deokolonalisierungsprinzipien des Plurinationalen Staates bislang wenig geändert.

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https://blogs.taz.de/latinorama/lawfare-zwischen-amnestie-und-amnesie/

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