vonGerhard Dilger 21.03.2020

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Von Juliane Hartnack*, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Bereits am frühen Nachmittag des 9. März, viele Stunden, bevor sich die Demo zum Internationalen Frauenstreik von der Plaza de Mayo Richtung Kongress in Bewegung setzt, füllen sich die Straßen rund um das Zentrum von Buenos Aires. Überall leuchten die grünen Halstücher, die zum Markenzeichen des Kampfes für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs geworden sind. Unzählig sind Tanzperformances, Trommelakte und einstudierte Gesänge, Anfang und Ende der Menschenmenge in der Avenida de Mayo sind schon bald nicht mehr auszumachen – wieder sind es Hunderttausende, die auf unabsehbare Zeit letzte Massendemo im Lande.

Das Wetter meint es gut mit den Streikenden, die lähmende Hitze der letzten Tage ist einem angenehmen Lüftchen gewichen. Die schiere Masse der hier Versammelten und die Freude, die bei allen Begegnungen zutage tritt, sind auch 2020 auf der einer der symbolträchtigsten feministischen Demos wieder von ungeheurer Kraft.

Zugleich sind die Anliegen, die die Menschen auf die Straße treiben, bitterernst. Besonders gegenwärtig ist der Protest gegen die Feminizide und die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen. Aktualität erhält es, weil just am 8. März (8M) der brutale Mord der 25-jährigen Fátima Acevedo in der Provinzhauptstadt Paraná durch ihren Ex-Partner für Entsetzen sorgte. Er ist damit einer von 75 Feminiziden und Travestiziden seit Beginn des Jahres, ein exponenzieller Anstieg, allen Unternehmungen zur Sichtbarmachung und Bekämpfung der Gewalt zum Trotz.

In einem Audio, das Fátima zuvor an eine Freundin geschickt hatte, sprach sie ausdrücklich von ihrer Angst getötet zu werden und der Untätigkeit der Behörden. Die Verstrickung von Polizei, Justiz und den Verantwortlichen für die Morde und das Verschwindenlassen ist akut, die Gewalt gegen Frauen und Queers unverändert Grund für Zorn und den Kampf für Veränderung.

Schwerpunkt 2020: Die Schuldenpolitik

Mobilisiert das Gewaltthema die Massen seit Beginn der Bewegung wie kein anderes, ist gleichzeitig deutlich, dass die Forderungen des Vierten Internationalen Frauenstreiks darüber hinausreichen. In unverkennbarer Größe prangt über der Plaza de Mayo der Banner des diesjährigen Leitsatzes: „Die Schulden haben sie bei uns, nicht beim IWF und auch nicht bei den Kirchen”“ (La deuda es con nosotras y nosotres, ni con el FMI ni con las iglesias).

Er ist vor dem Hintergrund der internationalen Schuldenpolitik der letzten Jahre zu verstehen, die sich einreiht in die Geschichte der neoliberalen Reformen im Rahmen des Washington-Konsenses der 1990er Jahre. Das in Anschluss an den Streik veröffentlichte Kommuniqué fasst zahlreiche Anliegen unter dem Motto der Verschuldung zusammen. “Die Schulden haben sie bei uns” soll sichtbar machen, wer die wahren Betroffenen der Kürzungsmaßnahmen und Privatisierungen sind – als Folge von Staatsschulden und dem Druck internationaler Gläubiger.

Mit dem Thema der Verschuldung hat die Bewegung den Widerstand gegen den Neoliberalismus ins Zentrum feministischer Angelegenheiten gerückt – ein bemerkenswerter Erfolg des diesjährigen Streiks. So wird deutlich, dass die Verschuldung nicht ein abstraktes, auf den Finanzsektor beschränktes Thema ist, sondern die Lebensrealität der Menschen, und insbesondere von Frauen, konkret betrifft.

Erst in den vergangenen Jahren hatte die Regierung des rechtsliberalen Präsidenten Mauricio Macri (2015-2019) auf Drängen des IWF hin das Gesetz zur „historischen Wiedergutmachung” annuliert, das Menschen mit weniger als 30 Jahren Beitragszahlung in die Rentenkasse einen Aufschub gewährte, um dennoch die Rente beziehen zu können. Dieses Gesetz hatte sich besonders auf die Leben von Frauen positiv ausgewirkt, deren Hausarbeit und Fürsorgetätigkeiten nicht offiziell als Arbeit anerkannt werden. Nun fordert die Bewegung eine Erneuerung des Gesetzes, neben einem speziellen Rentensystem für Landarbeiterinnen.

Der tatsächliche Frauenkampftag jedoch ging der Demonstration voraus. Bereits einen Tag zuvor, am 8. März, fanden Versammlungen und Aktionen in den verschiedenen Vierteln der Stadt statt. Konkrete Geschichten von Prekarisierung und dem Widerstand wurden erzählt, debattiert und in größere Zusammenhänge gebracht. Solange der Zugang zum formellen Arbeitssektor für Travestis und Transpersonen bei 10 Prozent liegt, solange Frauen in den Armenvierteln vorwiegend Arbeiten im informellen Sektor übernehmen, solange reproduktive Arbeit unbezahlt bleibt, macht sich der Staat schuldig.

Das sind keine neuen Forderungen, aber sie haben angesichts der zunehmenden Verschuldung eine neue Dimension erreicht. Es ist ein Kreislauf der Abhängigkeit. Wem das sichere Einkommen und staatliche Unterstützung fehlt, verschuldet sich, und wer sich verschuldet, ist gezwungen, prekäre Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. “Vivas, libres y desendeudadas nos queremos”, lautet die Perspektive des Widerstands, “wir wollen lebendig, frei und schuldenfrei sein.”

Mit dem Streik und zahlreichen Aktivitäten rund um den 8M und 9M stellt sich die feministische Bewegung gegen die Logik der Ausbeutung und Verschuldung. Frauen tragen die Banner, Frauen halten die Reden, Frauen fahren am Tag nach der Demo einen Traktor auf die Plaza de Mayo, um ökologisch und lokal produziertes Gemüse zu verteilen – ein Zeichen gegen die gesundheitsschädlichen und ausbeutenden Verhältnisse, für die auch deutsche Agrar- und Chemiekonzerne mitverantwortlich sind.

Am Tag des Frauenstreiks muss die reproduktive Arbeit, die viele Frauen neben 10-14 Arbeitsstunden häufig auch noch leisten, jemand anderes übernehmen. Und heute erleben sie als Aus- und Anführende der Aktion die Souveränität, die ihnen sonst selten gewährt ist. Gerade in den traditionellen Familienmodellen liegt die Verwaltung des Geldes und die Entscheidungen, die damit getroffen werden, häufig beim Mann.

Mit Beginn der Dunkelheit treffen die Streikenden auf dem Platz vor dem Kongressgebäude ein –  anders als in den letzten Jahren, in denen die Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada Endpunkt der Demo war. Symbolisch ist das deshalb, weil hier bald endgültig über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs entschieden werden soll. Der Geruch frisch gegrillten Fleischs zieht über die Köpfe hinweg, die Massen drängen sich vor der Bühne, auf der Reden gehalten werden. Mittlerweile hat es sachte zu regnen begonnen, aber das wird heute niemanden davon abbringen, die Stellung zu halten, einzustehen für eine Zukunft frei von Gewalt und Verschuldung, für ein selbstbestimmtes Leben.

Fotos: Ana Cea

*Juliane Hartnack hat in Berlin und London Philosophie und Politik studiert. Sie lebte ein halbes Jahr in der kolumbianischen Amazonasgemeinschaft Refugio, arbeitete in einem Frauenhaus in Bogotá und ist derzeit Praktikantin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.

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