“Sie hatten die Bibel und wir hatten das Land. Und sie sagten zu uns: Schließt die Augen und betet. Und als wir die Augen wieder öffneten, hatten sie das Land und wir die Bibel.“ Eduardo Galeano
Ein Nachruf auf die Ayoré Luisa Picaneray
von Domingo Ábrego Faldín
Die immense Ebene des bolivianischen Tieflandes schuf mit ihren Quellen und Bäumen, die Schatten und Früchte spendeten, die Möglichkeit zu leben. Die Ayoréode hatten gelernt, zur Jagd und eigenen Verteidigung Waffen herzustellen, so wie den anderthalb Meter langen Schlagstock mit scharfer Spitze oder ihre Lanzen, Pfeile und Bögen aus dem harten Chonta-Holz. Aus der Agave und dem Perotó-Baum fertigten sie ihre Seile. Die Ayoréode glaubten an die Sonne, den Mond und die Sterne. Das Licht schützte sie vor Schlangen, Jaguaren oder Pumas. Ihre Haut pflegten sie mit Wildschweinfett und anderen Cremes, die sie mit Heilpflanzen versetzten. Sie hörten den Gesang der wilden Vögel, die den Regen ankündigten.
Im Dorf von Zapocó lebten 20 Familien am Ufer des gleichnamigen Flusses, an dessen spiegelnder Wasseroberfläche die Fische die Bewohner*innen grüßten und in dem sie badeten. Der Bergzug gegenüber im Osten erschien wie eine Schutzmauer. In der Regenzeit glänzte er bläulich und teilweise auch rötlich mit einer überbordenden Vegetation, wie den Orchideen, die in unterschiedlichsten Farben zwischen den Felsspalten wuchsen. In den einfachen mit Laub bedeckten Hütten schützten sie sich mit trockenen Holzstangen vor dem gefürchteten Jaguar. In den Nächten entzündeten sie Feuer durch das Reiben eines Holzstücks auf den Steinen, bis es brannte. Auf dem Boden sitzend rauchten sie ihre Zigarren aus Tabak, kochten Kürbis oder Maniok und brieten Schildkröten auf dem Feuer. Auch wenn sie ein Wildschwein gejagt hatten, verteilten sie das Fleisch in der Familie und unter der Nachbarschaft. Die Zusammenarbeit machte das Leben erst möglich. Die Nächte luden zur Liebe ein, zum Vergnügen, aber auch um Nachkommen zu hinterlassen, die dann ohne Hebammen aber mit dem Wunder eines freien Lebens geboren wurden. Die mütterlichen Hände und die der Familie gaben die Zuneigung, die im Falle unserer Hauptfigur Luisa Picaneray weit über hundert Jahre eines Lebens in Würde andauern sollte.
Aufwachsen inmitten von Wäldern
Árbol (Baum) Picaneray und seine Gattin Agua de Poza (Quellwasser) lehrten ihren sechs Jungen, wilde Tiere zu jagen. Zunächst, wie man Pfeil und Bogen herstellt. Dann übten sie, in zehn bis zwanzig Meter Entfernung auf Schweinshäute zu zielen. Und wer die Flugbahn so beherrschte, dass ein in die Höhe geschossener Pfeil schließlich auf einem Kürbis am Boden landete, war bereit, um das Haus zu verlassen. Barfuss wurden kilometerweite Wettrennen durch den Wald gelaufen. Doch die gefürchtetste Prüfung war der Ringkampf mit dem hochgewachsenen aber geschmeidigen Árbol, der es auch schon mit Jaguaren aufgenommen hatte. Wer Árbol zu Fall bringen konnte, hatte seine Ausbildung abgeschlossen. Doch manchmal ließ der sich auch fallen, wenn die Söhne zu erschöpft schienen, um sie anschließend zu umarmen. Nach all dem konnten sie eine Frau nehmen, die sie in ihrem semi-nomadischen Leben begleiten würde.
Geleitet von den Bäumen zogen die Menschen hunderte Kilometer durch das Land. In der Regenzeit schlugen sie ihre Lager an Berghöhen auf, in der Trockenzeit an Teichen oder Flüssen. Der Lauf der Sonne und des nachts die Sterne zeigten ihnen die Richtung zurück nach Zapocó, um nicht verloren zu gehen und zur leichten Beute von Jaguaren zu werden. Zapocó war ihre Hauptsiedlung und sie selbst schienen unbesiegbar, wenn sie ihren eigenen Regeln folgten.
Als die Engel den Schutzring vergaßen
Eine alte Legende erzählt jedoch, dass der Bergzug gegenüber dem Dorf sich in Wolken mit einem farbenfrohen Regenbogen und begleitet von Engeln auf die Erde gesenkt habe. Diese hätten die Wolken in den blauen Himmel gesäht, begleitet von Flöten und Trommeln. Bei ihrer Rückkehr in andere Sphären hätten sie jedoch vergessen, den Schutzring zurückzulassen. Und deshalb seien die Ayoréode nun den Gefahren ausgesetzt, die von anderen Völkern drohen, die in ihr Territorium eindringen.
Eines fernen Tages kamen inmitten von dunklen Wolken, Regen, Donner und Blitz zehn weiße Männer mit funkelnden Augen, seltsamen Kleidern und Bärten an, hungrig und durstig. Die Leute hielten sie für die Engel, die aus der Zeit zurückgekehrt waren, und versorgten sie großzügig. Doch dann verfolgten die Fremden die jungen Frauen und verbreiteten mit ihren Schwertern Schrecken. Der Clanchef “Flügel des schnellen Vogels” empfahl jedoch Geduld, organisierte dann aber eine Truppe von 20 Männern in Kriegsbemalung und sie überraschten die Invasoren mit Pfeil und Bogen. Die versteckten sich im Wald, wurden aber einer nach dem anderen getötet. Die Legende sagt, dass in Zapocó danach hundert Jahre Frieden folgte. Allerdings wurden Nachkommen der Invasoren geboren, die zu Misstrauen im Clan führten. “Wir müssen unsere neuen Clanmitglieder respektvoll behandeln”, mahnte der Chef. “Sie sind Personen wie wir auch und tragen keine Schuld für die Taten der bärtigen Männer.”
Luisa verliert Eltern und Geschwister
Aus dieser Nachkommenschaft stammten auch Mond (Luna) und Sonne (Sol) Picaneray, die wiederum sechs Söhne hatten, das siebte Kind war ein Mädchen: Luisa Picaneray. Als Luisa fünf Jahre alt war, kamen mitten in der dunklen Nacht wieder weiße Männer mit Feuerwaffen in den Ort, um Jugendliche zu entführen und zu versklaven. Sie waren so brutal, dass zur Verteidigung zunächst keine Zeit blieb.
Luna und Sol wurden ermordet, einige Jugendliche, darunter auch Geschwister von Luisa flohen in den Wald, lauerten dort den weißen Männern auf und befreiten die Gefangenen. Weil neue Gruppen von Bewaffneten kamen, um sich zu rächen, verließen die Jugendlichen den Ort und zogen sich in die Wälder zurück. Luisa war verwaist und wuchs fortan bei anderen Familien auf.
Zapocó war zunächst nicht mehr als ein Lagerplatz, wurde dann aber erneut zu einem Dorf. Bis eines Tages Mitglieder der New Tribes und der Southamerica Mission in Ochsenkarren und Mulis mit seltsamem Gepäck kamen, wie sich Luisa hundertjährig erinnern sollte. “Viele Bibeln. Wer lesen lernte, bekam Nahrungsmittel. Die Fremden fragten nach allem und schrieben taka taka taka auf ihren kleinen Apparaten mit dem blauen Farbband.”
In der Stadt dem Schicksal überlassen
Luisa und andere weigerten sich jedoch und wurden so immer mehr an den Rand gedrängt. Unter falschen Versprechungen wurden sie in die Stadt gelockt und dort ihrem Schicksal überlassen. Sie ließen sich auf einem Grundstück neben der Eisenbahnstation nieder. “Mein Volk sprach kein Spanisch”, erinnert sich Luisa. “Man folgte den Frauen und zwang sie zur Prostitution. Ich war nie mit dieser schmutzigen Arbeit einverstanden. Die Männer akzeptierten das neue Leben, um nicht Hungers zu sterben.” Und je mehr die Metropole wuchs, desto weiter wurden die Ayoréode nach außen vertrieben. Weil 20 ihrer Landsleute als Holzfäller in den Beni verscheppt worden waren, suchte die heroische Luisa in den 1980er Jahren den Kinderschutzbund DNI-Bolivien auf und lernte so auf der Suche nach Gerechtigkeit den Autor dieses Beitrags kennen, den sie fortan “Dominguez” nannte. Immer wieder begegnete man sich. Als in den 1990er Jahren Männer am vierten Stadtring versuchten, ein Mädchen zu vergewaltigen, und als die jungen Ayoréode sie mit Messern verteidigten, landeten diese im Gefängnis, während der Vergewaltiger von der Polizei freigelassen wurde. Zusammen mit einem befreundeten Journalisten wurde der Fall bekannt gemacht. So vergingen die Jahre, ohne dass sich irgendeine staatliche Stelle um das Drama dieser Gruppe gekümmert hätte, die ihres Landes und ihrer Würde beraubt worden waren.
Sorge um die anderen
Bis sie schließlich am siebten Stadtring ihre Siedlung Degüis gründeten, dessen Grundstück aber durch den Bau eines Marktes und einer Gesundheitsstation immer weiter reduziert und zu einer übervölkerten Raststätte wurde. Luisa Picaneray erfüllte die Rolle einer Mutter, Großmutter und Ersthelferin. Sie heilte Kranke, sorgte für Brot, Kleider und Medizin und organisierte wenn nötig Krankenhausaufenthalte. In kritischen Situationen bat sie den Reporter “Dominguez” um Hilfe, aber musste – obwohl immer umgeben von der Familie – bis ins hohe Alter noch betteln. Mit zierlicher Gestalt, einem Lächeln im Gesicht, den Haaren die so weiß waren wie die Wolken von Zapocó und unterstützt von Übersetzern bat sie an ihrem Lebensende den Reporter: “Ich möchte, dass wir zusammen nach Zapocó gehen und du dort aufschreibst, wie das Leben früher gewesen bist. Denn Schreiben kannst du gut.” Dabei ahmte sie mit ihren Händen die Schreibbewegung nach. Doch dafür reichte die Zeit nicht mehr.
Als Luisa dem Sterben nahe war, entdeckte “Dominguez” in ihrem luftigen Zimmer mit dem Bett ohne Matratze eine lehmverschmierte Bibel. Angesichts ihres Zustandes besuchte er sie fortan häufiger, brachte etwas Lebensmittel mit, organisierte eine Matratze und ließ die zugigen Wände abdichten. Als Luisa nicht mehr alleine gehen konnte, sang sie ihm in ihrer Sprache ein traditionelles Klagelied, übersetzt: “Ich möchte in Zapocó sterben, ich möchte jetzt sterben”. Tari Chiqueno, seine Ehefrau Tati Picaneray und die nahen Angehörigen nahmen sie auf. “Dominguez” organisierte einen Rollstuhl, in dem sie begleitet von ein paar Kindern durch die Nachbarschaft gefahren wurde, um sich für ihre letzte Reise ohne Rückkehr zu verabschieden.
Abschied für immer
Der Mond, die Sonne, die Sterne, der Blitz und Donner verschwanden jenseits des Berges von Zapocó, in das sie nicht mehr hatte reisen können. Zu ihrer Beerdigung kam nur eine kleine Gruppe Freund*innen und Verwandte. So als wäre diese Frau nur ein Gespenst in einer Stadt gewesen, die sich als Motor des Fortschritts versteht. Luisas Körper wurde in einem einfachen Holzsarg in der Erde neben weiteren Ruhestätten von Ayoreode-Landsleuten ohne Kreuz begraben. An jenem Tag glänzte die Sonne zwischen den weißen Wolken vom Himmel, wie ein funkelnder Mantel für ihren Weg ins Jenseits. Nur wenn die weißen Herren sterben, kommt die Presse, wird Trauer und eine Schweigeminute dekretiert. Doch wenn eine Frau wie Luisa stirbt, herrscht Schweigen, Einsamkeit und Vergessen vor. Was bleibt, ist die Herausforderung, zu tun was möglich ist, um Zäune einzureißen und Gerechtigkeit für dieses Volk zu einzufordern.
Laut Ausweis ist Luisa Picaneray an einem 1. Mai 1920 geboren worden, doch die Mehrzahl ihrer Nachbarn glauben, dass sie über 110 vielleicht sogar 115 Jahre alt geworden ist.
Der Nachruf von Domingo Ábrego auf Luisa Picaneray wurde von Peter Strack auf ein Drittel der ursprünglichen Länge gekürzt, übersetzt und bearbeitet.