vonGerhard Dilger 02.03.2011

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Moacyr Scliar ist tot. Und ganz Porto Alegre trauert. Das ist durchaus keine Übertreibung, denn gab wohl keinen Schriftsteller, der in Brasilien über alle – auch ideologischen – Grenzen so beliebt war. Das stimmt vor allem in seiner Heimatstadt. Hier war Scliar, der stets gut gelaunte, humorvolle und leidenschaftliche Arzt, Erzähler und Kolumnist jüdischer Herkunft auch noch ein Symbol des Regionalstolzes – allerspätestens seit seiner Wahl in die Brasilianische Akademie der Geisteswissenschaften vor acht Jahren.

73 Jahre wurde der Sohn einer bessarabischen Auswandererfamilie alt, mindestens 73 Bücher hat er  allein in Brasilien veröffentlicht. Er gehörte auch zu den meistausgezeichneten, meistübersetzten Autoren des Landes. Seine ins Deutsche übertragenen Klassiker wie Die Ein-Mann-Armee (1973) oder Ein Zentaur im Garten (1980) sind nur noch antiquarisch erhältlich, seine Kurzgeschichten wurden im deutschen Sprachraum nur vereinzelt veröffentlicht. In den USA hingegen fand er große Anerkennung.

Zum Allerbesten gehören neben einer ganzen Reihe von Romanen sicher seine phantastischen Erzählungen aus den 80er Jahren, die an den von ihm hoch verehrten Franz Kafka oder an Julio Cortázar erinnern.

Ich liebe Kurzgeschichten deswegen so sehr, weil sie so etwas wie die Fortsetzung der biblischen Parabeln sind. Die Kurzgeschichte (…) ist eine kurze Erzählung, die etwas Überraschendes birgt und eine Botschaft enthält…

… sagte er 1994 in einem ila-Interview. Seither schrieb er jedoch vor allem Romane, Essays und mehrere Zeitungskolumnen pro Woche, vorwiegend für die Regionalzeitung Zero Hora, am originellsten für die Folha de São Paulo: Jede Woche wählte er eine im Blatt publizierte Passage aus und spann sie zu einer fiktionalen Geschichte weiter.

Die Auseinandersetzung mit den jüdischen Wurzeln zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Sein Herz gehörte den Außenseitern, den Träumern, den gescheiterten Idealisten wie beispielweise Jungkommunist Valdo, der im letzten Roman Seid umschlungen, Millionen 1929 von Südbrasilien nach Rio zieht.

Scliars Kurzgeschichten, Romane und Jugendbücher zeichnen sich durch einen hintergründigen, oft melancholischen Humor aus. In der Novelle Max und die Katzen flieht der jugendliche Protagonist vor den Nazis aus Berlin nach Brasilien – ebenso wie der erfolgreiche jüdische Operettenlibrettist Fritz Oliven, dessen Enkelin Judith der Autor in Porto Alegre heiratete. Um das Buch, das den Kanadier Yann Martel zu seinem Erfolgsroman Schiffbruch mit Tiger inspirierte, kam es Ende 2002 kurzzeitig zu Plagiatsvorwürfen.

„Ele era bom, e do bem“, hieß es in einem der zahllosen Nachrufe, das heißt so viel wie: ein guter Literat – und ein guter Mensch, uneitel, großzügig, warmherzig. Er war ein großer Popularisierer der Literatur: Auf Buchmessen in aller Welt trat er ebenso auf wie in Provinzschulen. Gerne verglich er dieses „Missionieren“ von Neulesern mit seiner jahrzehntelangen Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitswesen, als er den abgelegensten Landstrichen seiner Heimat Rio Grande do Sul Impfkampagnen organisierte.

Am Sonntag ist Moacyr Scliar den Folgen eines Gehirnschlags erlegen.

Hier eines seiner letzten langen TV-Interviews (2010).

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