vonNiklas Franzen 31.12.2014

Latin@rama

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Ende September berichteten wir hier über den Widerstand von Moinho, der letzten Favela in der Innenstadt von São Paulo. Nachdem mehrere BewohnerInnen die Eröffnung eines Denkmals störten, um auf die prekäre Situation in dem Viertel aufmerksam zu machen, stattete ihm Bürgermeister Fernando Haddad Ende Dezember einen Besuch ab. Seit mehreren Jahren wehrt sich Moinho gegen Räumungsversuche. Bei rätselhaften Bränden wurden große Teile der Gemeinde zerstört, viele Menschen starben. Seit über 25 Jahren besteht die Favela, in der heute mehr als 2.000 Menschen leben. Vor seiner Wahl 2012 versprach Haddad eine Regularisierung des Gebietes. Bis heute warten die BewohnerInnen jedoch auf die dringend notwendigen Infrastrukturmaßnahmen.haddadmoinho2

Pünktlich um 15 Uhr betritt der Bürgermeister, gefolgt von einem Heer von Funktionären und Medienvertretern, die Favela. Durch die offenliegende Abwasserleitung waten die Besucher zum Fußballplatz in der Mitte des Areals, wo der Bewohnerverein einen kleinen Lautsprecher aufgebaut hat. Die BewohnerInnen versammeln sich in einem Kreis, um die Besucher. Die Sonne knallt auf den Platz.

Pflichtbewusst scherzt Haddad, Sohn libanesischer Einwanderer, kumpelhaft mit einer Gruppe Jungen, bevor er seine kurze Ansprache hält. Auch Vertreter der städtischen Wasserbehörde SABESP und vom Stromversorger Eletropaulo kommen zu Wort. Die Skepsis der BewohnerInnen ist groß. Die Reden werden immer wieder durch Zwischenrufe gestört. „Ich will nicht länger in einer Holzhütte wohnen“, ruft eine junge Mutter, die ein Kind auf dem Arm hält. Haddad, der einen schicken grauen Anzug trägt, hört geduldig zu und verspricht schließlich, dass noch Anfang Januar mit dem Bau einer regulären Strom- und Abwasserversorgung begonnen wird.

Dafür müssen jedoch einige Familien umgesiedelt werden. Zudem soll der Verbleib der Gemeinschaft durch ein Register, in dem alle BewohnerInnen erfasst werden, entschieden werden. Die allerdings sind sich uneinig über die Zukunft in Moinho: Einige wollen bleiben, andere würden auch den Umzug in Sozialwohnungen akzeptieren. Die Gemeinde liegt zwischen zwei Bahnlinien, Züge rattern im Minutentakt vorbei. Oft kommt es zu schweren Unfällen. Auch Haddad betont: „Wir rennen gegen die Zeit, jederzeit kann ein neues Unglück passieren“. Die Angst, in die Peripherie, weit weg vom pulsierenden Zentrum, „abgeschoben“ zu werden, teilen alle.

Der junge, bärtige Caio vom Bewohnerverein spricht die Zweifel vieler aus: Auch beim den letzten Treffen machte Haddad, der für viele als linke Seele der Arbeiterpartei PT gilt, bereits zahlreiche Versprechen. Erst nach mehreren Protesten besucht er nun endlich wieder Moinho. „Aber warum sollte gerade jetzt etwas passieren?“

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“Weniger Versprechen und mehr Wohnungen”

„Ich komme alle drei Monate wieder, bis alles geregelt ist“, entgegnet er den Zweifeln und erntet dafür viel Applaus. Nach einer Stunde verabschiedet sich der Bürgermeister mit einem kurzen Rundgang durch die Gemeinschaft und eilt dann in einem Wagen mit schwarz getönten Scheiben zum nächsten Termin.

Humberto José Marques Rocha, Vorsitzender des Bewohnervereins, ist insgesamt zufrieden mit dem Treffen. „Es ist gut, dass er hier war. Jetzt müssen wir abwarten“, sagt der große, dünne Mann, der eine Sportbrille trägt, in seiner nett eingerichteten Hütte im Herzen der Favela. Stolz zeigt er sein neues Smartphone.

Neben den Fotos der Söhne hängt ein riesiger Flachbildschirm an der Wand. Von der Decke der Holzhütte tropft es. Alessandra Moja Cunha ist skeptischer: „Er kam nur, weil wir ihn unter Druck gesetzt haben. Wir sind erst zufrieden, wenn er alles erfüllt hat, was er versprochen hat“, sagt die junge Sprecherin der Gemeinschaft.

Der Besuch des Bürgermeisters war höchstens ein Schimmer am Horizont, sind sich die BewohnerInnen einig. Ein Ende ihrer Probleme ist nicht in Sicht – jedoch geht damit auch der Kampf für ein würdiges Leben weiter. „Moinho lebt“ steht auf einem Graffiti am Eingang der Gemeinde.

 

Fotos: Lea Bähr

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https://blogs.taz.de/latinorama/moinho-hofft-weiter-favela-bekommt-besuch-von-oben/

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kommentare

  • Stimmt schon, der Haddad ist einer der letzten PT-MohikanerInnen bei dem das Attribut „links“ nicht sofort zur Trauer- bzw. Wut-Satire gerät. In dieser ansonsten mittlerweile perfekt angepassten Raubritterneooligarchie innerhalb der brasilianischen Pareien(fast)monokultur aus Gleichen und Noch-Schlimmeren.
    Dass die protestierenden Moinho-BewohnerInnen allerdings (bis zum Protesttag im September) sechs Mal erfolglos versucht hatten bei Haddad vorzusprechen (um ihn an seine Versprechen bzw. Versprecher zu erinnern und eben DESHALB protestierten) wird hier „elegant“ verschwiegen. Die PT ist längst ein weiteres zu schleppendes Kreuz für die Verbrauchsmenschen im Land (gente-de-gastar, ein hervorragend treffender Ausdruck von Darcy Ribeiro) geworden. Auch wenn das die die hier oft schreiben in ihren urbanen Büchertürmen noch immer nicht erkennen (wollen).
    „Bei rätselhaften Bränden“ ist, weiters, eine rätselhafte Ausdrucksweise. Denn rätselhaft ist an der Brandinflation in São Paulo’s Favelas gar nichts. Das kann in „Caros Amigos“ ausführlich nachgelesen werden. Und ich wies idem schon darauf hin (http://www.tonimartin.com.br/antonio_giles/brazils-true-order-and-progress-story/). Spekulative und Sozialsäuberungs-Brandstiftung ist das.

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