„Als hätten sie miteinander darauf gewettet, wie lange die Männer, Frauen und Kinder, die doch Behandlung brauchen, durchhalten können…“ heißt es auf der ersten Seite des 2005 fertiggestellten Romans „Schwarzer Oktober“ von Adolfo Cáceres Romero. In dem sucht ein alter Geschichtslehrer im Krankenhaus vergeblich Linderung für seine Magenschmerzen. Man zählt das Jahr 2003 in Bolivien und das medizinische Personal hat sich mit einem Generalstreik den Protesten gegen den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada angeschlossen. Immerhin trifft der Protagonist mit Celia eine frühere Schülerin, die den Streik wenigstens unterbricht, um dem Pädagogen die Toilette aufzuschließen.
Über den Jahreswechsel 2017 zu 2018 erlebt Bolivien erneut einen Ärztestreik. Diesmal geht es nicht um den drohenden Ausverkauf der Erdgasreserven, sondern ein neues Strafgesetz. Das sieht trotz des Protestes von Äskulaps Jüngern, im Artikel 205 Gefängnisstrafen, Reparationen und Berufsverbot für Kunstfehler mit Todesfolge vor. Zunächst waren die Ärzte mit ihren Protesten ziemlich alleine.
Die Ärzte seien Geschäftemacher und Diebe, ätzte die Informationsministerin in Anspielung auf einen jüngsten Fall im staatlichen Hospital Obrero von La Paz, wo unter der Hand auf Kosten der Sozialversicherten Laboruntersuchungen für Privatkliniken gemacht worden waren. In zig von der Regierung bezahlten TV-Spots wird auf die Krankenhausbauten der Regierung verwiesen und klagen Patienten über Kunstfehler, wegen denen sie einen Angehörigen verloren haben. Die Ärzte kontern, dass bei der miserablen Ausstattung der Krankenhäuser eine gute Betreuung nicht möglich sei. Es zirkulieren Videos, bei denen einem Patienten im OP per Blasebalg Sauerstoff zugeführt wird, weil es kein funktionierendes Beatmungsgerät gibt. Im Paragraph 205 wird immerhin dem Arzt Straffreiheit zugestanden, wenn die Ausstattung eine Behandlung nach den Regeln der Kunst nicht zulässt.
Dass das öffentliche Gesundheitswesen Bolivien in der Krise und korrupt ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber das Kalkül ist nicht aufgegangen, dafür allein die Ärzte und das Pflegepersonal verantwortlich zu machen, den Volkszorn gegen die Ärzteelite zu mobilisieren, und neue Strafandrohungen und ein staatliches Kontrollsystem zu etablieren, bei dem die Standesvereinigungen keine Rolle mehr spielen sollen und der Staat die Behandlungsgebühren festlegt. In vielen Fenstern der Städte hängen Plakate „Ich unterstütze meinen Arzt“ und auch die Gründung einer parallelen Ärzteorganisation durch die Regierung traf zumindest bislang auf keine größere Resonanz.
Zu gering ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz. Die Ärzte bezeichnen das neue Strafgesetz als einen Türöffner für Erpressungsversuche, fordern ein davorgelagertes Schlichtungsverfahren durch medizinisches Fachpersonal unter Beteiligung der Gremien der Ärzteschaft. Auch die Unabhängigkeit der Behörden steht in Frage. Als in Chuquisaca jüngst die Verträge der Gesundheitsbehörde für das medizinische Personal im Staatsdienst für das neue Jahr verlängert wurden, mussten die Interessenten dafür zuvor nachweisen, dass sie mit der „freiwilligen“ fünfprozentigen Abgabe von ihrem Gehalt an die Regierungspartei auf aktuellem Stand sind und dass sie auf der Demonstration für die Wiederwahl von Evo Morales in Cochabamba waren. Dort hatte die MAS eine halbe Million Menschen versammelt. Damit sollte in den nationalen und internationalen Medien die Unterstützung für den Präsidenten sichtbar gemacht werden, an der die Mehrheit der Proteststimmen bei den jüngsten Justizwahlen Zweifel geweckt hatten.
Die Menschen sollten nicht naiv sein, entgegnete der Verantwortliche der Gesundheitsbehörde von Chuquisaca, als ein Video von der Kontrolle der Zwangsabgaben des Gesundheitspersonals an die Regierungspartei öffentlich wurde. Das sei doch allgemein bekannt und auch unter früheren Regierungen üblich gewesen. Nur: Die MAS war einst auch mit dem Ziel angetreten, den korrupten Machenschaften früher Regierungsparteien ein Ende zu bereiten.
Umgekehrt erweisen sich auch die Ärzte als Musterschüler, diesmal des Präsidenten. Als die MAS-Minister Verhandlungen nur unter der Bedingung zustimmen wollten, dass die Protestaktionen und der Streik im Interesse der Patienten ausgesetzt würden, antwortete der Ärztepräsident, Evo Morales habe als Kokabauernführer solchen Forderungen nie nachgegeben. Auch er sei überzeugt gewesen, dass Verhandlungserfolge nur unter dem Druck von Straßenblockaden und Protestmärschen zu erreichen seien. Und Morales hat damals auch selten einen Protest beendet, ohne dass die Freilassung von gefangenen genommenen Mitstreitern und die Rücknahme von Anklagen vereinbart wurden. Da fällt es jetzt schwer, sich auf die Unabhängigkeit der Justiz zu berufen.
Die Presse selbst sieht die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung von Journalisten, wenn sie bestimmte kritische Äußerungen verbreiten, die ein Richter als „Verleumdung“ einordnen könnte . Der Anwalt Eduardo León bemängelt, dass das Privateigentum in neuen Strafgesetzbuch kein schützenswertes Rechtsgut mehr und durch eine schwammige Definition einer Vielfalt von Produktionsformen ersetzt worden sei. Das gäbe es nicht einmal in der kubanischen Verfassung.
Bemerkenswert auch, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen ebenso wie die „politische Belästigung“ (acoso político) nicht länger als strafbar gelten. Letzteres war eingeführt worden, um gewählte Frauen davor zu schützen, von Männern aus ihrem Amt gedrängt zu werden. Eine beliebte Strategie, über Nachrücker die gesetzliche Quotenregelung auszuhebeln. Paradoxerweise hatte im letzten Jahr die Informationsministerin Gisela Lopez eine Journalistin wegen acoso político angezeigt. Yadira Pelaez war nach eigenen Angaben Opfer sexueller Belästigung durch einen Vorgesetzten im Staatsfernsehen geworden. Nachdem sie dies angezeigt hatte, war sie von der Ministerin (damals noch Chefin von Bolivia TV) entlassen worden. Die Journalistin hatte es daraufhin gewagt, das Vorgehen der Ministerin öffentlich zu kritisieren. Und trotz eindeutigem psychologischem Gutachten, und einer weiteren Anzeige einer anderen Kollegin, war ein Richter der Meinung gewesen, es gäbe keine Hinweise auf Übergriffe gegen die Journalistinnen, die die Aufnahme eines Verfahrens rechtfertigen würden. Umgekehrt wurde aber Haftbefehl gegen Pelaez, Mutter eines Kleinkindes, beantragt. Wenn aber „acoso político“ gar kein Straftatbestand mehr sei, argumentierte nun die Journalistin bei Eröffnung des Verfahrens gegen sie, warum müsse sie dazu überhaupt noch Stellung nehmen.
Wie schon 2013 hat der Konflikt, den die Regierung viel zu lange mit Tränengas und Aussitzen, statt mit Verhandlungen zu lösen versuchte, inzwischen neue Dimensionen erreicht. Nach sechs Wochen Ärztestreik gab die Regierung nach und erklärte sich bereit, den von den Ärzten kritisierten Paragraphen 205 zu annulieren. Doch wenige Tage, bevor die für Evo Morales prestigeträchtige Dakar-Rallye ins Land kommt, gibt es in verschiedenen Städten auch hungerstreikende Lehrpersonen. Die nicht regierungstreue Fraktion der Fernunternehmer ruft zu Straßenblockaden auf und auch die sogenannten Bürgerkomitees, sowie ein Teil der Gewerkschaften planen, ihren für den 21. Februar geplanten Generalstreik gegen eine erneute Kandidatur von Morales vorzuziehen.
Das neue Strafgesetzbuch enthält durchaus Verbesserungen. So der Verzicht auf Untersuchungshaft bei geringfügigeren Delikten. Über zwei Drittel der Gefängnisinsassen haben derzeit kein rechtskräftiges Urteil. Manche bleiben länger in der Untersuchungshaft, als die mögliche Höchststrafe für den Delikt, wegen dem sie angezeigt sind. Umgekehrt berücksichtigt die Regierung zu wenig, dass vieles besser über das Zivilrecht geregelt werden kann. Oder wie der Präsidente der staatlichen San Andrés Universität von La Paz meint: Das Gesamtwerk sei gar nicht so schlecht. Nur habe die Regierung eine Reihe von Paragraphen eingebaut, die nicht verfassungsgemäß sind und grundlegende demokratische Prinzipien verletzen würden. In drei Wochen könnte eine Arbeitsgruppe unter der Beteiligung der Universität das Gesetzeswerk überarbeiten, bot er an, um es an allgemeine menschenrechtliche Standards anzupassen. Auch der Verband der Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen schloss sich der Kritik an, und bedauerte, in den Gesetzgebungsprozess nicht einbezogen worden zu sein. Zu viele Paragraphen seien schwammig formuliert oder schlichtweg verfassungswidrig.
Doch in einer Konfliktdynamik kommt die Sachdebatte leicht unter die Räder. Nun wird die Abschaffung nicht mehr nur einzelner Paragraphen, sondern des gesamten neuen Strafgesetzes gefordert, die Absetzung der Gesundheitsministerin…
In dem Roman „Schwarzer Oktober“ heißt es kurz vor Ende:
„- Was noch?, fragte der alte Geschichtslehrer, der fühlte, dass der Enthusiasmus der Streikenden ihn störte.
– Nun, das ganze Land ist paralysiert, antwortete Celia
- Das ganze Land?
- Ja, mein Lehrerchen, jetzt fordert der Kleinbauernverband den Rücktritt mehrerer Minister, und die Zentralgewerkschaft den des Präsidenten. Sie fordern die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, die Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasreserven, ein Autonomiereferendum, im Grunde all das, was in den Regionen und von den Kleinbauern gefordert wird. „
Am Ende des Romans trifft der Geschichtslehrer einen kleinen alleingelassenen Jungen:
„Vielleicht ist das alles nur ein Traum, sagte er zu ihm. (…).
- Wie heißt Du?
- Waman
- Ein schöner Name. Und deine Mutter?
- Wacolina.
- Und was habt ihr in Parotani gemacht?
- Die Straße blockiert.
- Und wo ist dein Vater?
- Der blockiert im Chapare.
- Und wie heißt der?
- Evo.“
Zwei Jahre nach dem Schwarzen Oktober, Neun Monate nach Fertigstellung des Romans, Ende 2005, wurde kein fiktiver, sondern ein realer Evo Morales erstmals zum Präsidenten Boliviens gewählt.
Titelfoto: Pagina Siete; Evo Morales bei der Einweihung eines neuen Krankenhauses in Riberalta während dem Ärztestreik (Foto: ABI) ; bei den Protesten kam es zu zahlreichen Festnachem (Foto: Pagina Seite); In Cochabamba werden selbst die Tierre zu den Protesten bemüht: „Ich Esel habe das Strafprozessbuch verabschiedet“ (Foto: Osvaldo Chacón, Opinion); Umgeben von Vertretern der regierungsnahen sozialen Organisationen kündigt der Präsident an, das Parlament um die Annullierung des Paragraphen 205 zu bitten (Foto: ABI)