Lange war der Himmel nicht mehr so blau. Die Hütten auf der anderenen Seite des Tals sind gut zu erkennen. Noch vor kurzem lagen sie fast permanent im Dunst einer Smogglocke, die das zentralbolivianische Cochabamba zu einer der am stärksten verschmutzten Städte Südamerikas gemacht hat. Im Fernsehen zeigen sie Bilder von klarem Wasser im sonst trübe fließenden Rio Rocha oder von Tieren, die sich vermehrt wieder städtisches Habitat aneignen. Seit zwei Wochen ist Ausgangssperre, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu bremsen.
Nur einmal pro Woche einen halben Tag lang darf jeweils ein Teil der Bewohnerinnen und Bewohner außer Haus, um sich in der Nachbarschaft mit Lebensmitteln einzudecken. Wer raus darf, hängt von der letzten Ziffer des Ausweises ab. Ab und an wird das in unserem Wohnviertel von der Stadtverwaltung am Markt, wo sich die Menschen konzentrieren, sogar kontrolliert. Die zahlreichen kleinen Läden, die sonst ein bescheidenes Dasein fristen, haben im Barrio Kami derzeit Hochkonjunktur. Das bestätigt auch Don Víctor, der am Ende der Straße fast alles hat, was man für den Haushalt benötigt.
Und die Hühnchenbraterei ein paar Häuser weiter, die nicht mehr arbeiten darf, wurde ebenfalls kurzerhand zum Gemüsestand umfunktioniert. Die Preise sind nicht mal höher als im Supermarkt. Wohlmöglich aufgrund eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls, aber auch dank der sozialen Kontrolle der Nachbarschaft.
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… informieren sich die Anwohner unserer Straße, wenn ein Transporter mit frischem Obst und Gemüse vorbeikommt oder wann der Müllwagen zu erwarten ist. Es gibt mehr oder weniger nützliche Gesundheitstipps, dabei auch viel Unfug, oder auch mal politische Statements. Mancher weist mit Bibelzitaten darauf hin, dass schon Jesajas die Situation vorhergesehen habe. Auch humorvolle Beiträge gibt es, die die Quarantäne erträglicher machen sollen. Wie der tanzende Jesus, der sich freue, in diesem Jahr nicht gekreuzigt zu werden.
Man erfährt von der Nachbarin, die Brot „nach Art der Cambas“, der Tieflandbewohner, gebacken hat und zum Verkauf anbietet oder hört Klagen über einen Anwohner, der mal wieder Abfall abfackelt. Eigentlich wie immer. Doch in diesen Tagen fällt das besonders auf. Denn neben den weißen Wolken ist dieser Tage sonst höchstens der Rauch der Waschpulverfabrik zu sehen.
Auch diese Produktionsstätte eines holländischen Konzerns hat in Zeiten des Corona-Virus Nachfrage genug und darf arbeiten. Immerhin, so heißt es in den Nachrichten, habe sie Reinigungsmittel an die Gefängnisse des Landes gespendet. Da sollen jetzt wenigstens die alten Häftlinge entlassen werden, um die hoffnungslos überfüllten Anstalten zu entlasten.
Die meisten Gefangenen sitzen ohnehin seit geraumer Zeit dort ohne ein Urteil in Untersuchungshaft. Im Gefängnis von Oruro ist es nach einem Todesfall am Vorabend wegen der sanitären Verhältnisse und prekären Gesundheitsversorung gerade zu einer Revolte gekommen.
An der Grenze
Manche Insassen kommen allerdings neu dazu. So der Bürgermeister von Patacamaya aus der Hochebene, dem Vernachlässigung der Amtspflichten vorgeworfen wird, weil er ein Patronatsfest für den Heiligen Josef während der Ausgangssperre nicht unterbunden habe. Obwohl die Grenzen schon dicht waren, heißt es, hätten dort sogar Musikgruppen aus dem Ausland gespielt. Zu Haftstrafen verurteilt wurden auch Taxifahrer, die in mitten der Quarantäne in Riberalta im Departamento Beni eine Protestdemonstration organisiert und Nahrungsmittel oder die Möglichkeit zu arbeiten gefordert hatten. Oder Bolivianer, die angesichts der Grenzschließung illegal aus Chile in ihre Heimat zurückgekehrt waren.
Über 700 Menschen, die aufgrund der Krise in Chile ihre Arbeit verloren haben, warteten unter schwierigen Bedingungen im Grenzort Colchane, 3800 Meter über dem Meeresspiegel, in wüstenartiger Umgebung darauf, nach Bolivien zurückkehren zu können. Dabei ist das Einreiseverbot völkerrechtswidrig.
Die fehlenden Kapazitäten im bereits bestehenden, militärisch kontrollierten Übergangslager im gegenüberliegenden Pisiga auf bolivianischer Seite dürften nicht als Argument dienen, die Heimkehr der Migranten zu unterbinden – zumal ein Angebot der feministischen Organisation Mujeres Creando, eine Gruppe von Frauen mit Kindern in La Paz aufzunehmen, ausgeschlagen worden war. In einem öffentlichen Brief appelliert der chilenische Bürgermeister von Colchane an die bolivianische Präsidentin, doch in sich zu gehen, statt den Speichelleckern in ihrem Umfeld zu folgen. Die Macht mache einsam und unsensibel, warnt er.
Nicht nur diese Kritik zeigt die Parallelen mit der der Vorgängerregierung. Unterstellte Evo Morales einst seinen Kritikern, von dem US-Imperialismus gesteuert zu sein, so wird jetzt die MAS vom Innenminister Arturo Murillo beschuldigt, die Rückkehrbewegung und vereinzelten Proteste im Land angestiftet zu haben, statt selbst für eine geordnete Rückführung unter menschenwürdigen Bedingungen zu sorgen, die das Risiko einer Verbreitung des Virus durch die Migranten minimiert. Erfreulicherweise weisen Medien wie die Tageszeitung Página Siete, die von der Regierung Morales wegen ihrer kritischen Arbeit noch als Teil eines Lügenkartells diskreditiert worden war, auch jetzt wieder auf die Missstände hin.
Was ist geplant?
Dabei steht Bolivien nach einem Monat mit wenigen Hundert bestätigten und wahrscheinlich mehreren Tausend tatsächlichen Infektionen noch ganz am Anfang der Pandemie.
Die Ausgangssperre, die zumindest in unserem Viertel wie in den meisten Landesteilen seit zwei Wochen weitgehend befolgt wird, soll an den Hotspots daher sogar noch verschärft werden. Die größte Stadt Santa Cruz, in der es fast die Hälfte der bestätigten Fälle in Bolivien gibt, soll ab Dienstag weiter militarisiert werden, damit auch noch diejenigen, die sich bislang mit Tricks wie fotokopierten Passierscheinen oder einfach aus Notwendigkeit auf den Straßen bewegten, zu Hause bleiben.
Nun ist nicht jede Person, die „von der Hand in den Mund lebt“, vor der Krise arm gewesen. Aber bei vielen der im informellen Sektor Beschäftigten ohne ein reguläres Gehalt, gut drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung, schafft der Wegfall des täglichen Einkommens ernsthafte Versorgungsprobleme.
Dies relativiert auch die Erfolgsmeldungen über die Armutsreduzierung in den letzten Jahren, die sich allein auf das verfügbare Geldeinkommen bezogen haben. Zwar sinken beim allgemein Lockdown auch die Ausgaben (etwa für Transport oder Schulmaterial), und die Regierung hat die Kosten für Strom und anteilig auch für das Wasser übernommen. Sie hat zusätzliche Bonuszahlungen für Eltern, Alte oder Menschen mit Behinderungen aufgelegt.
Doch auch wenn mit der Stromsubvention praktisch alle, und mit den Bonuszahlungen laut Schätzungen 80% der ärmsten und 60% der armen Haushalte erreicht werden dürften, reicht ein Drittel eines Mindestlohns gerade für das Nötigste. Und es gibt Personen, die zum Beispiel keine Kinder in der Schule haben und von den Zahlungen, die zu Schlangen vor den Banken geführt haben, nicht erfasst werden. So fordern diverse Berufsgruppen, wie Kellner, Bus- oder Taxifahrer, aber auch Organisationen von Prostituierten, ebenfalls berücksichtigt zu werden.
Wohl dem, der sich beizeiten um urbane Gemüseproduktion gekümmert hat. Es ist eine verschwindende und angesichts der großen Industrialisierungspläne bisweilen belächelte Minderheit. Und wenn die Pflanzen nicht direkt bei der Wohnung wachsen, sondern irgendwo in einem anderen Viertel, kommt man derzeit auch nicht hin.
Nachbarschaftshilfe
Diverse Stadtregierungen, soziale Organisationen, Fußballvereine und Unternehmen sammeln Lebensmittel und verteilen sie nach ihren jeweiligen Kriterien der Bedürftigkeit. Manche Familie hinterlässt am Haustor Mittagessen für Männer, die unter der nächsten Brücke schlafen und bei der Ausgangssperre nicht mehr betteln können.
In unserem Viertel kennt man sich. Der Sprecher der Straße hat Kontakt zur Stadtverwaltung hergestellt, damit zwei Haushalte alter Menschen versorgt werden können, die bislang keine Zahlungen bekommen haben. Sollte das scheitern, wird die Nachbarschaft aktiv werden.
Doch nicht überall sind die Basisorganisationen noch lebendig, oft leben die Menschen vereinzelt. Und die Situation ist schon gar nicht so normal wie in den abgelegenen Dörfern im Bergland von Potosí. Dort ist das Infektionsrisiko gering, wenn nicht gerade helfende Hände aus der Stadt oder gar Chile und Argentinien kommen, wobei es auch bereits zu Covid-19-Ansteckungen gekommen ist.
Da gerade Erntezeit ist, ist man in den entfernten Gemeinden sogar froh, dass die Schulen geschlossen sind und die Kinder helfen und lernen können, wie man sich selbst versorgt, berichtet Fernando Antezana von der Nichtregierungsorganisation Pusisuyu. Die Jugendlichen seien etwas genervt, weil sie wegen fehlender Transportmöglichkeiten nicht in die Stadt können, wie sie es sonst gewohnt sind. Aber Arbeit gebe es dort derzeit ohnehin nicht.
Und während der Nachwuchs aus den Dörfern auf den Feldern ist, spielen ganze Familien im Viertel Kami im Hinterhof Basketball, versammeln sich in großer Zahl zum Mittagessen an einem langen Tisch oder zur traditionellen Khoa am ersten Freitag im Montag. Bei diesem Dankopfer an Mutter Erde kommt derzeit natürlich wieder einmal das Danken zu kurz und stehen stattdessen die Wünsche vor allem nach Gesundheit im Mittelpunkt. Und doch ist es trotz Corona-Hypes in den Medien ein wenig wie die Ruhe vor dem Sturm.
Wie anderswo auf der Welt auch ist der bolivianische Staat mit der Corona-Krise überfordert. Schon jetzt in der Anfangsphase. Aber spätestens, wenn die Zahlen der Infizierten und Erkrankten steigen, die Krankenhausbetten knapp und die Budgets aufgebraucht werden, wird die Regierung auf eine breite Mobilisierung und Unterstützung durch die Bevölkerung angewiesen sein, statt vor allem auf Verbote, Militär und Polizei zu setzen.
Da wird es auch nichts mehr nützen, auf die Versäumnisse der Vorgängerregierungen bei der Stärkung des Gesundheitswesens hinzuweisen, darauf, dass Sportanlagen wichtiger waren als die Schaffung von Stellen in und die Ausstattung von Krankenhäusern. Dann wird die jetzige Regierung an den Ergebnissen, etwa an der Zahl der Toten, gemessen werden. Und die Aussichten stehen schlecht, dabei gut wegzukommen.
Es sei wie im Krieg, schimpfte neulich der Verteidigungsminister über die mangelnde Disziplin in Santa Cruz. Da müssten die Bürgerinnen und Bürger schlichtweg gehorchen. Diese Gewöhnung an militärische Denkweisen und autoritäre Strukturen ist einer der Kollateralschäden der Corona-Krise in Bolivien. Dass die für den 3. Mai geplanten Wahlen verschoben wurden, wird als notwendiges Übel akzeptiert.
Darüber und einen neuen Termin werde man erst nach Ende der Ausgangssperren befinden, ließ Eva Copa verlauten, Senatpräsidentin und Mitglied der Mehrheitsfraktion der MAS. Zuhause zu bleiben, um die Gesundheit zu schützen, dürfe keineswegs heißen, still zu sein und den Mund zu halten, hält María Galindo in ihrem Radioprogramm von Mujeres Creando in La Paz der verbreiteten Sprachlosigkeit entgegen.
UNITAS, ein Dachverband von Nichtregierungsorganisationen, fordert eine stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft in die Corona-Strategie der Regierung. Andere ergreifen Chancen, die sich ergeben. Sie bieten direkt oder auf den Corona-Webseiten der Regierung kostenlose psychologische Beratung, Übungen zum Stressabbau oder Online Rechtsberatung im Falle häuslicher Gewalt an.
Geplante Ausbildungsmaßnahmen für Personal von staatlichen oder privaten Diensten werden aus dem Home-Office heraus auf Online-Schulung umgestellt. Die Angst vor einem unkontrollierten Anwachsen der Epidemie in Bolivien wächst, aber die ebenso überforderte Zivilgesellschaft beginnt, sich immerhin wieder zu regen. Dass der Covid-19 relativ spät nach Bolivien gekommen ist, wird helfen, sich besser auf die Katastrophe vorzubereiten und sie dadurch zu mildern.
Und danach?
Wird sich das autoritäre Denken verfestigen? Oder wird gar das derzeitige Wirtschafts- und Entwicklungsmodell in Frage gestellt? Wird gefragt, was tatsächlich wichtig im Leben ist, und wie dies am besten organisiert werden kann? Wird die urbane Landwirtschaft aufblühen, werden die ländlichen Gemeinden aufgewertet? Werden in den Städten die kleinen Läden wieder stärker frequentiert und die Nachbarschaftsorganisationen an Bedeutung gewonnen haben? Wird dezentraler gearbeitet werden und die Luftverschmutzung verringert?
Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Hugo Carlos Felipe Mansilla, der vor vielen Jahrzehnten an deutschen Universitäten gelehrt und dort habilitiert hat, ist skeptisch. Diejenigen, die derzeit mit Blick auf den blauen Himmel oder das klare Wasser im Fluss solche Fragen aufwerfen würden, seien die gleichen, die dies schon vorher getan hätten. Und sie seien nach wie vor in der Minderheit.
Am Gründonnerstag flog der Priester der Kirche von Cala Cala in Cochabamba – wenig ökologisch – im Militärhubschrauber über unser Viertel und spendete aus der Luft den Ostersegen, den die Nachbarin von gegenüber, die den Flug offensichtlich über Internet verfolgt hatte, mit einem weißen aus dem Fenster wehenden Tuch entgegennahm. Und der evangelikale Prediger an der nächsten Ecke stellt wegen fehlenden Gottesdienstbesuchs seinen Lautsprecher nach draußen, um die Osterbotschaft zu verbreiten.
[…] einem früheren Beitrag hat Latinorama über den Alltag in der Quarantäne im Kami-Viertel von Quillacollo berichtet. Der Psychologe Harold Albornoz analysiert auf der Homepage der Schweizer […]