vonGerhard Dilger 09.07.2013

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Von Claudia Fix, amerika21.de

 

„Auf die WM kann ich verzichten – wir brauchen öffentlichen Nahverkehr, Gesundheitsversorgung und Bildung!“ und „Die WM gehört mir nicht, aber mein Zuhause!“, skandierten rund 500 DemonstrantInnen am 4. Juli auf der Avenida Tronco in Porto Alegre.

 

Zur Demonstration aufgerufen hatten der Block für den Kampf um öffentlichen Nahverkehr und das örtliche WM-Basiskomitee gemeinsam mit Bewohnern des Stadtteils Cruzeiro do Sul, die von Umsiedlungen betroffen sind.

 

Die Avenida Tronco ist eine zweispurige Straße ohne Bürgersteig, rechts und links stehen kleine Häuser, es gibt Geschäfte, hin und wieder einen Imbiss. Hier baut die Stadtverwaltung von Porto Alegre eine vierspurige Entlastungsstraße, um den Verkehrsfluss in der Innenstadt zu verbessern. Die Baumaßnahme ist Teil der Infrastrukturmaßnahmen für die WM 2014, die aus Bundesmittel finanziert werden. Wer in den Häusern am Rand der Avenida Tronco lebt, wird „umgesiedelt“. Rund 1520 Familien werden ihr Zuhause verlieren.

 

Obwohl die Bauarbeiten längst begonnen haben, wissen die meisten noch nicht, wohin sie ziehen können. Viele wichtige Fragen sind nicht geklärt: Werden sie weiter in Häusern wohnen können oder müssen sie in Wohnungen umziehen? Wo werden diese gebaut? Am Stadtrand, weitab von Arbeitsplätzen, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten? Oder so nah der Innenstadt, wie sie bisher gelebt haben?

 

Da die meisten Häuser in der Avenida Tronco „informell“, also ohne offiziellen Grundbucheintrag, gebaut wurden, sind die vorgesehenen Entschädigungszahlungen minimal: 52.000 Reais sollen die Eigentümer von der Stadt erhalten, das sind rund 18.000 Euro. Viel zu wenig, um nach dem rasanten Anstieg der Immobilienpreise ein neues Haus oder Häuschen in Innenstadtlage zu erwerben.

 

Die ehemaligen Bewohner der Avenida Tronco werden in dieser Situation abhängig von staatlichen Zuschüssen zu Miete oder Kredit. Denn wer in einer Wohnung lebt, muss hohe monatliche Umlagen zahlen. Wer es schafft, ein neues Haus zu erwerben, muss die Ratenzahlungen aufbringen – Kosten, die im informellen Eigenheim bisher nicht anfielen.

 

Das Basiskomitee zur WM in Porto Alegre startete deshalb die Kampagne „Hausschlüssel nur gegen Hausschlüssel“, der sich der Block für den Kampf um öffentlichen Nahverkehr angeschlossen hat. Die betroffenen Familien in der Avenida Tronco fordern Klarheit über ihre Umsiedelung und wollen erst dann ihre Häuser verlassen, wenn die Stadtverwaltung ihnen andere Häuser zu Verfügung stellt. Nach einer dreistündigen öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel am 1. Juli, bei der rund 300 Aktivistinnen die bisherigen Proteste in Porto Alegre analysierten, riefen die Organisatoren dazu auf, in Vila Tronco zu demonstrieren.

 

Es war das erste Mal seit dem Beginn der Proteste in Porto Alegre vor Wochen, dass eine Demonstration nicht in der Innenstadt stattfand. Der mehrstündige Protestmarsch über die Avenida Tronco bis zum Shoppingcenter Barra verlief friedlich. Im Vorfeld hatten die Radios der Region und RBS, der regionale Ableger von TV Globo, berichtet, dass Sachbeschädigungen gegen die Gesundheitsstation und Geschäfte geplant seien.

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„Das ist nicht unser Vorschlag für diese Demonstration“, stellten der Block und das Basiskomitee bei einem Vorbereitungstreffen mit den Bewohnern des Stadtteils am 3. Juli deshalb klar. „Wir kommen, um unsere Solidarität auszudrücken und die Forderung nach einer Veränderung der Politik der öffentlichen Hand zu konkretisieren.“

 

Die Botschaft schien in Cruzeiro do Sul anzukommen. Die Geschäfte blieben geöffnet. Der offene Grill am Straßenrand sorgte für die Grundversorgung und im Verlauf der Demonstration schlossen sich immer mehr Menschen aus dem Stadtteil an: Mütter mit kleinen Kindern ebenso wie alte Menschen und Jugendliche. Eine kurze Attacke von Minderjährigen gegen einen Supermarkt wurde von Teilnehmern der Demonstration zügig beendet. Die Polizei zeigte wenig Präsenz, bis auf einen ständig über der Demonstration kreisenden Hubschrauber, der von einem zweiten Hubschrauber von RBS begleitet wurde.

 

Dies ist umso erstaunlicher, da die letzten drei Demonstrationen in Porto Alegre von der Polícia Militar durch den massiven Einsatz von Tränengas vorzeitig aufgelöst wurden. „Das war ein erfolgreicher und sehr schöner Protestmarsch“, war der Tenor der Beteiligten. Die Protestbewegung machte deutlich, dass ihre Forderungen auch nach der Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen und einer zusätzlichen Reduzierung des Fahrpreises um 5 Centavos, die das Stadtparlament von Porto Alegre nach einer intensiven zehnstündigen Debatte am 1. Juli beschlossen hatte, nicht erfüllt sind.

 

Umso mehr, als diese Fahrpreissenkung durch eine Senkung der Steuern für die privaten Busunternehmen ermöglicht wird – gegenfinanziert aus den öffentlichen Mitteln für Städtebau. Einer Gesetzesvorlage, die die transparente Darstellung der Kosten im öffentlichen Nahverkehr vor jeder weiteren Fahrpreiserhöhung im Internet vorsah, konnten sich die Parlamentarier nicht anschließen.

 

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