Berlin, 4. November: Gut 300 Aktivist*innen haben sich auf dem Hermannplatz versammelt, um gegen die Gefahren des radikalen Rechtsrucks in Brasilien zu demonstrieren. Vítor Guimarães, Aktivist der Wohnungslosenbewegung MTST, ruft ins Mikrofon: „Wir werden gerade kriminalisiert, als Terroristen bezeichnet. Sie wollen die Lehrer zum Schweigen bringen, doch die Opposition existiert. Wir brauchen internationale Solidarität!“
In den folgenden Tagen berichtet Guimarães zusammen Juliana Gonçalves vom Marsch der Schwarzen Frauen auf öffentlichen Veranstaltungen und weiteren Treffen in Berlin und Frankfurt von der schwierigen Lage in Brasilien.
Denn was noch vor wenigen Monaten unvorstellbar schien, ist eingetreten: Das 210-Millionen-Land hat den Rechtsextremisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt – eine folgenschwere Entscheidung für Brasilien, Lateinamerika und die ganze Welt. Für „rote Verbrecher“ gebe es nur die Alternative Exil oder Gefängnis, tönte Bolsonaro im Wahlkampf, als Hauptfeinde nannte er die MTST, die Landlosenbewegung MST, aber auch die Arbeiterpartei PT und die kleinere Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL.
Bolsonaros Sieg war der Höhepunkt eines Staatsstreichs in mehreren Etappen: Im Juni 2013, als Millionen Brasilianer*innen für mehr soziale Menschenrechte auf die Straßen gingen, war die damalige Präsidentin Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT nicht mehr zu einem Kurswechsel fähig – die Medien lenkten die Proteste auf die Mühlen der Rechten, denen fortan die Straße gehörte. Die Anti-PT-Stimmung, alimentiert durch riesige Korruptionsskandale, wuchs von Jahr zu Jahr. 2014 wurde Rousseff zwar knapp wiedergewählt, doch sogleich konterkartierte sie ihr Wahlversprechen mit der Nominierung eines neoliberalen Finanzministers, dessen Kurs die größte Rezession der letzten Jahrzehnte nur noch verschärfte.
All dies bereitete den Boden für einen parlamentarischen Putsch gegen die Staatschefin 2016, offizielle Begründung: Haushaltstricksereien. Ihr Vorgänger und Mentor Luiz Inácio Lula da Silva wurde nach zwei Schauprozessen wegen Bestechlichkeit zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt, im April 2018 musste er ins Gefängnis. Nun hat Bolsonaro den Provinzrichter Sérgio Moro, der Lula hinter Gitter und um seinen wahrscheinlichen Wahlsieg gebracht und sich immer wieder durch gezielte Indiskretionen ins Tagesgeschäft eingemischt hatte, zum „Superminister“ für Justiz und Sicherheit designiert.
Auch die bürgerliche Rechte, die sich nie mit Rousseffs zweitem Wahlsieg abfand und im Zusammenspiel mit Medien und Justiz den „legalen“ Staatsstreich und die Hexenjagd auf Lula orchestrierte, wurde nun selbst von der braunen Welle überrumpelt: Im Parlament verlor sie zahlreiche Mandate an Bolsonaro-Freunde, und erstmals seit 24 Jahren kam ihr Kandidat nicht mehr in die Stichwahl. Anschließend hielten sich allzu viele rechte und liberale Demokraten zurück und verweigerten eine Stimmempfehlung für den gemäßigten PT-Kandidaten Fernando Haddad.
Die Arbeiterpartei, die ihren Führungsanspruch im progressiven Lager nicht teilen wollte, stand fast allein auf weiter Flur. Eine beeindruckende Basismobilisierung, mit der in der Woche vor der Stichwahl der Abstand zwischen Haddad und Bolsonaro spürbar verringert werden konnte, kam zu spät: 10 Prozent gültige Stimmen trennten die beiden am 28. Oktober.
Die Finanzmärkte sind´s zufrieden: Mit dem Vormarsch Bolsonaros stiegen die Aktienkurse und die Landeswährung Real. Vertreter deutscher Unternehmer und der Deutschen Bank in Brasilien sympathisieren einhellig mit dem Rechtsextremen, von dem sie sich eine ultraliberale Politik wünschen. Diese verspricht Paulo Guedes, künftiger „Superminister“ für Wirtschaft, Finanzen und Außenhandel. Mit ihm hat Pinochet-Bewunderer Bolsonaro einen waschechten Chicago Boy gefunden, der im Chile der 1980er Jahre die neoliberale Wende der Militärdiktatur aus nächster Nähe studiert hat, etwa die weltweit radikalste Privatisierung des Rentensystems. Nicht umsonst will Bolsonaro seine erste Auslandsreise nach Chile antreten, von woher schon vor seinem Wahlsieg die heftigsten Sympathiebekundungen tönten.
Gute Geschäfte fürs Kapital und Krieg gegen die Armen – so lassen sich Bolsonaros wiederholte Äußerungen zusammenfassen. Trotz homophober, frauenfeindlicher und rassistischer Sprüche konnte Hassprediger Bolsonaro jedoch auch bei Armen, Schwarzen, Frauen und sogar Schwulen oder Lesben punkten, was auch auf seine Allianz mit mächtigen Pfingstkirchen zurückzuführen ist. Außerdem wurde die Bevölkerung mit gezielten Falschmeldungen über WhatsApp bombardiert, die sich rechte Unternehmer Beträge in Millionenhöhe kosten ließen.
Zuletzt befanden sich viele Brasilianer*innen in einer Art kollektiver Trance und waren für politische Argumente nicht mehr zugänglich. Es war ein Wahlkampf der Emotionen, Halbwahrheiten und Lügen, an Fernsehdebatten nahm Bolsorano zuletzt gar nicht mehr teil. Viele Wähler*innen machten für Gewalt, Korruption und Wirtschaftskrise in erster Linie die PT verantwortlich, obwohl die seit zwei Jahren gar nicht mehr in Brasília regierte. Die Wahl des langjährigen Hinterbänklers und Waffenfans, der vor allem durch verbale Aggressionen von sich reden machte, war auch ein Protest gegen das Polit-Establishment – kein Wunder, dass die AfD jubelte.
In den reicheren, „weißeren“ Städten und Kommunen des Südens und Südwestens triumphierte er, also dort, wo Krise und Gewalt gar nicht so spürbar sind – während die Armen vor allem im Nordosten den Kandidaten der Arbeiterpartei bevorzugten – vielen von ihnen ist klar, dass sie von den gewaltverheißenden Ankündigungen Bolsonaros nicht viel zu erwarten haben.
Finster sieht es in jedem Fall für die Menschenrechte aus: Bereits 2017 starben 63.000 Brasilianer*innen eines gewaltsamen Todes, Tendenz: steigend. Nirgendwo werden mehr Umweltaktivist*innen umgebracht als in Brasilien. Im Parlament kann Bolsonaro auf den Rückhalt der Waffen- und Agrarlobbyisten bauen, auch auf die Evangelikalen, die viel mehr Sitze haben als alle Linken zusammen.
Der Raubbau im Amazonasgebiet dürfte sich rapide beschleunigen und den Klimawandel befeuern. Die Gewalt gegen Indigene, Afrobrasilianer*innen, Schwule und Lesben hat nun den ausdrücklichen Segen des Staatschefs, der mehrere Generäle als Minister einsetzen wird. Anders als etwa in Argentinien wurde die zivil-militärische Diktatur (1964-85) in Brasilien nie aufgearbeitet, alle Folterer oder Mörder in Uniform wurden amnestiert.
Außenpolitisch sucht Bolsonaro des Schulterschluss mit den USA, zu China geht er auf Distanz, die Botschaft in Israel will er ebenfalls nach Jerusalem verlegen. Trumps Sicherheitsberater John Bolton will ihn in seinen Kampf gegen die „Troika der Tyrannei“ Kuba, Venezuela und Nicaragua einspannen. Vorbei ist die Zeit der regionalen Integration, im vergangenen Jahrzehnt ein Projekt der südamerikanischen Linken, die fast überall regierte – heute hält sie sich nur noch in Bolivien und Uruguay.
Nach dem Schock ist die Zeit der Reflexion über die Fehler und Versäumnisse der Regierungslinken gekommen. Kooptierung der sozialen Bewegungen, das weitgehende Aufgeben der Basisarbeit, Anpassung an die korrupte politische Kultur, die man doch bekämpfen wollte – um all dies zu ändern, wird es Jahre brauchen. Zugleich müsste man Bolsonaro eine breite demokratische Front entgegensetzen, damit sich die faschistischen Elemente nach dem Regierungsantritt Anfang 2019 nicht zu einem Regimewechsel auswachsen.
Der Politologe André Singer, bis 2006 Lulas Regierungssprecher, sieht dafür gute Chancen: In der Schlussphase des Wahlkampfs habe man eine „lebendige gesellschaftliche Bewegung für die Demokratie“ erlebt, an die es jetzt anzuknüpfen gelte.
Brasiliens, ja Lateinamerikas Demokratien sind so bedroht wie seit der Ära der Militärdiktaturen nicht mehr. In Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen ist es offen, ob sich die braune Welle, die über Brasilien hinweggeschwappt ist, nicht auch in anderen Ländern Lateinamerikas breit machen könnte – der Frust steigt. Offen ist aber auch, welche Politik Bolsonaro nach seinem Amtsantritt am 1. Januar 2019 im Einzelnen tatsächlich umsetzen kann und wird.
Und hierzulande ist eine neue, breite Solidaritätsbewegung vonnöten. Überlegungen hierzu fanden zum Beispiel vor wenigen Tagen beim Runden Tisch des Brasilien-Netzwerks KoBra statt.