Von Paul Schweizer
Dass die brasilianische Justiz parteilich ist und sich politisch instrumentalisieren lässt wird inzwischen auch international diskutiert. Weniger Aufmerksamkeit erregt dagegen die alltägliche Straflosigkeit, die bestimmte Verbrechen und Täter*innen genießen. Immer wieder kommt es zudem zur unverhältnismäßig strengen Verfolgung bestimmter Delikte und Bevölkerungsgruppen. Ein Beispiel hierfür ist die derzeitige Repression gegen Pixadores im Bundesstaat Minas Gerais.
„Ein Gespenst geht um in Brasilien, das Gespenst der Pixação.“ Die brasilianische Philosophin Marcia Tiburi bedient sich der berühmten marx-engelschen Metapher, um zu verdeutlichen, mit welcher Vehemenz der bürgerliche Diskurs Pixação verdammt. Aus europäischer Perspektive würde man Pixação als eine Form des Tag-Graffitis beschreiben. Während „Grafite“ in Brasilien mit seinen bunten Wandmalereien bildlicher Motive mittlerweile eine anerkannte Kunstform darstellt, sprühen Pixadores ihre Schriftzüge meist einfarbig, in verschlungenen Buchstaben auf jede nur erdenkliche Oberfläche im öffentlichen Raum brasilianischer Metropolen. In Städten wie São Paulo erklimmen sie Hochhausfassaden, um ihre Zeichen an den sichtbarsten Stellen anzubringen. Konservative Politiker*innen und Mainstreammedien sind sich einig: Pixação ist eine „Plage“, „Vandalismus“, „eines der größten aktuellen Probleme“. Sogar „Terrorismus“ wird in einem Atemzug mit Pixação genannt.
Dementsprechend hart sind die Forderungen der Bestrafung. Seit 1998 werden Pichação (im Gesetzestext mit „ch“ geschrieben) und auch unautorisiert angebrachtes Graffiti als „Verbrechen gegen die Umwelt“ geahndet, für welches bis zu ein Jahr Haft und Geldstrafen vorgesehen sind. Im Jahre 2011 wurde der Gesetzestext geändert, um explizit zwischen Graffiti und Pixação zu unterscheiden. Ersteres fällt seitdem nicht mehr unter den Strafbestand, wenn es ausgeführt wurde „um das bemalte Objekt künstlerisch aufzuwerten“. Vielfach wird gefordert die Strafen für Pixação zusätzlich zu erhöhen. Ein Gesetzentwurf aus dem Jahr 2015, sieht neben der Erhöhung der Haftstrafe auf bis zu zwei Jahre, den Ausschluss von jeglichen Sozialleistungen vor. Ein Paragraph des Entwurfs, beruft sich auf Studien die angeblich belegten, dass „dieses Verbrechen im allgemeinen von Arbeitslosen, Personen mit niedrigem Einkommen und Personen die informellen Tätigkeiten nachgehen und mehrheitlich staatliche Hilfeleistungen in Anspruch nehmen“ ausgeübt werde. Dieser Gesetzentwurfs kann als symptomatisch für die Strafverfolgung von Pixação und die brasilianische Justiz im Allgemeinen gesehen werden – allein schon die Tatsache ohne große Einkünfte zu leben oder auf sozialstaatliche Hilfe angewiesen zu sein, scheint bestraft werden zu sollen, vorzugsweise mit einigen Jahren Haft.
Tatsächlich stellt sich die Frage nach der vorgesehenen Strafe oft gar nicht. Auf den Straßen der brasilianischen Großstädte ziehen Polizeibeamte nämlich gerne den „unbürokratischen Weg“ vor. Die übliche Strafe nach Ergreifung von Pixadores erfolgt sofort und wird von Pixadores als „banho de tinta“ – „Farbbad“ – bezeichnet. Bei dieser außergerichtlichen Abrrechnung sprühen die Beamt*innen den Betroffenen Farbe in das Gesicht, auf die Hände sowie die Genitalien oder zwingen sie die Farbe zu trinken. Meist begleiten Beleidigungen und Schläge dieses gewalttätige Prozedere. Und manchmal geht diePolizei sogar noch weiter. Im August 2014 erschossen in São Paulo Polizist*innen zwei unbewaffnete Pixadores. Die Familien der Opfer sprachen hinterher von einer „Hinrichtung“ von Seiten der Polizei. Die Reaktion der Szene waren wütende Demonstrationen. Für kurze Zeit begleitete den Fall einige mediale Aufmerksamkeit – die beteiligten Beamt*innen wurden trotzdem bis heute nicht verurteilt.
Im Bundesstaat Minas Gerais bemühen sich die Behörden seit Jahren auch mit rechtsstaatlichen Mitteln härter gegen Pixação vorzugehen. Da das vorgesehene Strafmaß, von einem Jahr Haft für das Aufbringen von Farbe auf Wänden, aber zu niedrig erscheint, wurde schon 2010 auch Anklage wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ gegen Pixadores der Gruppe Os Piores de Belô erhoben.
Die Repressionsgebaren erreichten Ende März 2016 einen Höhepunkt als, die vom Stararchitekten Oscar Niemeyer entworfene Pampulha-Kirche in Belo Horizonte, mit Pixação besprüht wurde. Die Stadtverwaltung kündigte an eine Sonderkommission zur Verfolgung von Pixação einzurichten. Insgesamt wurden im Zusammenhang mit der Bemalung der Kirche drei Haftbefehle erlassen. Ein 25-jähriger soll die Tat nach seiner Festnahme gestanden haben. Ein mutmaßlicher „Komplize“ ist auf der Flucht. Am 3. Mai wurde auch der Pixador Goma, Urgestein der Szene in Belo Horizonte, in seiner Wohnung festgenommen. Ihm wird ebenfalls Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, sowie Aufruf und Beihilfe zu Straftaten vorgeworfen. Goma war einer von acht Pixadores, die 2010 mehrere Monate in Untersuchungshaft verbrachten. In seinem Wohnhaus betreibt er einen kleinen Laden, in dem er Sprühdosen, Marker, T-Shirts und andere Szeneartikel verkauft. Abgesehen vom Verkauf von Materialien, die für die Bemalung von Wänden verwendet werden können, wurden bis jetzt keine Beweise für die Vorwürfe vorgebracht.
Konservative Medien wie das mächtige Globo-Netzwerk berichteten über die Festnahmen und erklärten, dass den Behörden ein wichtiger Schlag gegen „die Kriminellen“ gelungen sei. In den sozialen Medien werden indes auch kritische Stimmen laut. Vor allem die Unverhältnismäßigkeit des Vorgehens von Polizei und Staatsanwaltschaft wird von vielen Seiten angeprangert. Szenemitglieder*innen, Sympathisant*innen und einige Intellektuelle äußern sich empört über die Repression und verweisen auf die Selektivität der brasilianischen Justiz. Die Untersuchungshaft sei ungerechtfertigt, es handele sich um „Schauprozesse“ und „Klassenjustiz“, so die Kritik. Immer wieder wird auf den Fall Samarco verwiesen. Die Bergbaufirma in der Kleinstadt Mariana, ebenfalls im Bundesstaat Minas Gerais, hatte im November 2015 eine riesige Umweltkatastrophe verursacht. Die Verantwortlichen für „das größte Verbrechen gegen die Umwelt der brasilianischen Geschichte“ blieben straffrei. Die als „Verbrechen gegen die Umwelt“ klassifizierten Schmierereien der Pixadores werden dagegen rigoros mit Gefängnis bestraft. Ein Sprüher sitzt seit einem Jahr im Gefängnis, während der Schriftzug für den er verurteilt worden war, schon nach 12 Stunden entfernt wurde.
Am 5. Mai, genau sechs Monate nach der Umweltkatastrophe in Mariana, fand in der Innenstadt Belo Horizontes eine Demonstration statt. Etwa 100 Personen zogen mit, von Pixadores gemalten Transparenten durch die Straßen und forderten ein Ende der Repression gegen Pixação und die Verurteilung der Verantwortlichen für die Umweltkatastrophe am Rio Doce. Der Aufruf des Protests lautete: “Justiça só contra nós não é justiça, é ditadura” – „Justiz nur gegen uns ist keine Justiz, sondern Diktatur“.
Alle Fotos: Maxwell Vilela