Weltweit schreitet die Verstädterung voran. Seit 2008 leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Nicht nur Stadtforscher*innen sind sich sicher, dass sich soziale Kämpfe zukünftig primär in den Metropolen abspielen werden.
„Heutzutage ist die Urbanisierung der größte Stabilisator des Kapitalismus“, sagt David Harvey im überfüllten Kulturzentrum CCSP in São Paulo. Der britische Marxist war im November 2014 der Einladung des linken Verlags Boitempo gefolgt, um sein neues Buch „Marx‘ Kapital lesen“ vorzustellen und über die Folgen kapitalistischer Stadtentwicklung zu diskutieren. Mit der von der Partie: die Professoren Nabil Bonduki und João Whittaker, Guilherme Boulos von der Wohnungslosenbewegung MTST und die Bewegung für kostenlosen Nahverkehr MPL.
Bereits im vergangenen Jahr tourte Harvey (Foto oben: bei einer Buchvorstellung im August 2014 in Quito) durch das größte Land Südamerikas und lockte tausende Zuschauer an. In kaum einem anderen Land wird der „Starmarxist“ so gerne und häufig rezipiert wie in Brasilien. Auch in São Paulo hat sich zwei Stunden vor Beginn hat sich eine lange Schlange vor dem schicken Kulturzentrum gebildet. Das junge Publikum klebt förmlich an den Lippen Harveys, der stilbewusst ein knallrotes Hemd trägt.
Seit Jahrzehnten erforscht der 78-Jährige die Verbindung zwischen Kapitalakkumulation und Urbanisierung. Mit seiner Neuinterpretation des Konzepts des „Rechts auf Stadt“, das der französische Soziologe Henri Lefebvre im Jahre 1968 formulierte, hat sich Harvey in der Wissenschaft einen Namen gemacht. Jedoch auch abseits der Hörsäle trifft Harvey als scharfer Analyst den Ton der Zeit. Für viele spricht der Geograf, der an der englischen Elite-Uni Cambridge studierte, die Sprache der Ausgeschlossenen und seine Worte entspringen der Realität vieler Stadtbewohner*innen. Marxistische Theorie trifft auf Aktivismus. So besuchte Harvey in der nordöstlichen Stadt Recife die Besetzung Ocupe Estelita und sprach den Aktivist*innen, die sich gegen Gentrifizierungprojekte wehren, vor Ort Mut zu.
Laut dem Briten ist die Stadt, die vom Kapital produziert wird, „in keiner Weise geeignet, die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen zu befriedigen“. Lediglich eine kleine Gruppe würde von der derzeitigen Urbanisierung profitieren, alle Megacities seien von schweren Wohnungskrisen erschüttert. Der Wahl-New Yorker erzählt von kompletten Straßenzügen, die aufgrund der Immobilienspekulation in der US-amerikanischen Metropole leer stehen. Demgegenüber haben tausende Menschen kein Dach über dem Kopf.
Jedoch ist dies keineswegs ein US-spezifisches, sondern ein globales Phänomen. Auf São Paulo treffen die Worte von Harvey besonders zu: Kaum irgendwo ist die soziale Exklusion so zementiert wie in der größten Stadt der südlichen Hemisphäre. Derzeit liegt die Metropole aufgrund einer Wasserkrise förmlich auf dem Trockenen. Das Wohnungsdefizit ist laut MTST-Sprecher Guilherme Boulos riesig. Tausende Familien können sich aufgrund der ständig steigenden Mieten ihre Wohnungen nicht mehr leisten und landen auf der Straße.
Jedoch gibt es für Harvey Hoffnung: Rund um die Erde leisten urbane soziale Bewegungen Widerstand und kämpfen für ihr „Recht auf Stadt“. Von Istanbul bis London, von São Paulo bis Athen vernetzen sich Bewohner*innen, die sich mit der gegenwärtigen Stadtentwicklung nicht abfinden wollen. Harvey betont, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich der neoliberalen Urbanisierung entgegenzustellen. Als Beispiel nennt der Geograph Wohnungsbaugenossenschaften in New York und weitere Bewegungen, die versuchen, sich im Alltag immer weniger vom Kapitalismus abhängig zu machen und Grundstücke der Marktlogik zu entziehen. Jedoch ist für Harvey auch weiterhin die direkte Konfrontation auf der Straße wichtig.
In São Paulo wird auf vielfältige Weise Widerstand geleistet. Die jahrelange Arbeit von urbanen Gruppen, wie der an diesem Tag anwesenden Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr (MPL), führte im vergangenen Jahr zu Massenprotesten im ganzen Land. Auch Harvey betont die Bedeutung der urbanen Mobilität – öffentlicher Nahverkehr sei ebenso wie Wohnungen ein Menschenrecht. Besetzerbewegungen wie die MTST haben eine Alternative für tausende Familien erkämpfen können.
Harvey betont jedoch, dass der Widerstand nicht bei urbanen Fragen stehenbleiben darf, da diese entscheidend ländliche Regionen tangieren. So führen Urbanisierungsprojekte weltweit zu umweltpolitischen Desastern, etwa Überschwemmungen.
Der urbane Widerstand steht weiterhin vor großen Herausforderungen. Viele Stadtbewohner*innen, vor allem in den krisengeschüttelten Ländern, hätten die neoliberale Ideologie soweit verinnerlicht, dass sie sich selbst für Krisen verantwortlich machen, meint Harvey. Dies habe in vielen Ländern Massenproteste verhindert: „Während der Wohnungskrise in den USA haben die Leute sich selbst die Schuld gegeben, anstatt das System anzuklagen“.
Zudem verschieben sich Klassengrenzen immer weiter. „Ist jemand der einen Hamburger brät, noch ein Proletarier?“ fragt Harvey. Ziel der Linken müsse es daher sein, über den „systematischen Raub“ des Kapitals aufzuklären und neue Koalitionen einzugehen. Wenn sich die Ausgeschlossenen und Verlierer des Systems zusammentun und das System in ihrem Alltag herausfordern, seien Veränderungen möglich. Widerstand könne laut Harvey, der an Occupy in New York und die Kundgebungen im Istanbuler Gezi-Park erinnert, „ansteckend sein: Es ist möglich, dass ein zunächst kleiner Protest global werden kann “.
„Die Revolution steht nicht vor der Tür, deshalb ist die Subversion unsere einzige Lösung“, sagt Harvey. Nach Vorträgen in fünf brasilianischen Städten in unter einer Woche, fast drei Stunden der Diskussion in São Paulo und tosendem Beifall schließt, der sichtlich geschaffte Harvey, seine Brasilien-Reise optimistisch. „Dinge können sich ändern, und sie können sich schnell verändern“.