vonGerhard Dilger 23.05.2012

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

von Maggie Thieme

Mit einer lang erwarteten Retrospektive feierte das Malba (Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires) in Buenos Aires 2010/2011 die Künstlerin Marta Minujín (*1943), „den argentinischen Andy Warhol“. Gezeigt wurden bekannte und weniger bekannte Werke, Rekonstruktionen von zerstörten Installationen und einmaligen Aktionen, Pläne der nicht verwirklichten Arbeiten, Skulpturen und Filme aus dem Zeitraum von 1959 bis 1989. Die neben Eva Perón als berühmteste Argentinierin geltende Minujín ist noch heute künstlerisch aktiv und kombiniert ihr öffentliches Auftreten stets stylish, aber anders als ehemals Evita, mit mehr als einem Hauch parodistischer Selbstdarstellung.


Eine Kontextualisierung fällt schwer. Bekannt für ihre Überzeugung, dass alles Kunst sei, sprengt Minujíns überbordendes Œuvre jede Schublade. Und doch stünde Marta Minujín für drei Konstanten, meint Viktoria Noorthoorn, die Kuratorin der Ausstellung: „Die Fähigkeit zur ständigen Neudefinition ihrer Kunst, wie auch die Befähigung, in weltweiten Bezügen kreativ zu denken und zu handeln sowie die unumstößliche Überzeugung, jederzeit für die Freiheit von Körper und Geist einzutreten.“

Diese großzügigen Parameter stecken ein weites Feld ab, auf dem der quirlige Freigeist schon früh selbstbewusst und hemmungslos mit dem Zeitgeist spielte. Ihr erstes Auslandsstipendium in Paris inspirierte sie zur Schaffung bewohnbarer Skulpturen. Matratzenberge, die zunächst zerstört wurden und in späteren Weiterentwicklungen zu den ersten Happenings mit Menschen, mitunter aber auch Hunderten von Hühnern, Motorrädern und anderen effektvollen Protagonisten führten.

Die Komplexität ihres Schaffens lässt sich aus den verschiedenen Kategorien, die das MALBA kuratorisch und hilfeleistend bildete, ablesen. Von den „Ersten Werken“ (Primas Obras) geht es über die „Matratzen“ (Colchones) zur „Período Pop“. Den „Arbeiten über Massenmedien“ (Trabajo sobre los Medios) folgte die „Época Hippie“ und die „Performances“. „Aktionen in Lateinamerika“ (Acciones latinoamericanas) sahen sich den „Werken mit Beteiligung der Massen“ (Obras de Participación masiva) gegenüber. Und nicht zu vergessen, die Abteilung der Skulpturen.

Immer auf der Höhe der Zeit, avantgardistisch, frech, bewegte sie sich schwerelos durch Kunst- wie Lebensräume und verwob das Aufständische mit dem Schrillen zu durchaus bodenständigen Monumenten. Man denke z. B. an das Wahrzeichen von Buenos Aires, den Obelisken, den sie aus Panettone-Kuchen nachbilden ließ oder die Schaffung eines Parthenons, das mit den unzähligen, während der Diktatur verbotenen Büchern bedeckt war.

Es gab aber auch politisch direktere Aktionen, wie etwa die Performance „Nicapenning“ 1973 während einer Sotheby-Veranstaltung in New York, mit der Minujín auf die Situation in Nicaragua nach dem verheerenden Erdbeben aufmerksam machen wollte.

Auf Grund der politischen Situation in Argentinien, aber auch aus einem großen eigenen Interesse heraus, lebte und arbeitete sie oft im Ausland. Dabei nutzte sie jede Chance, um sich mit zeitgenössischen Künstlern und Theoretikern zu treffen. Kreative und gesellschaftskritische Einflüsse verschmolzen mit humoristischen Untertönen zu Unikaten. So schuf sie nach ihrer Begegnung mit Marschall McLuhan medienkritisch und selbstironisch zugleich ihre eigene interaktive Telefonzelle, das Minuphone, in der man während des Telefonierens sich selbst in einem Bildschirm auf dem Boden oder die psychodelischen Farbspiele der Innenwände beobachten konnte.

Ob die Durchführung von international simultaner Happenings, die 1966 zur gleichen Zeit in Berlin, Buenos Aires und New York stattfanden oder ökologische Erkundungen in Form tausender von Bienen und Kaninchen, die hinter Glaswänden ihre zarten Formen in sanfter Schwingung halten („Soft Forms in Movements“), Minujín erforscht und überschreitet gern tatsächliche, gedachte und gemachte Grenzen. Stets auch augenzwinkernd die eigenen, wie die „Rückkehr der Matratzen“ (The Soft Gallery, 1973) oder die Vervielfachung ihrer eigenen Person durch gleichgekleidete Schauspieler zeigt („Rayuelarte“, 2009).

Nicht immer werden diese Grenzgänge von allen gern gesehen, für so manchen Argentinier ist sie „La loca“, die Verrückte. Trotz Großveranstaltungen wie Brot für die Armen und Bücher für die geistig Hungernden, lässt die avantgardistische Attitude die Massen kalt. Und nicht nur die Massen, manchem Intellektuellen ist die Sozial- und Medienkritik nicht radikal genug, sie verpuffe nutzlos, da Minujín gesellschaftliche Institutionen nicht generell in Frage stelle.

Ja, es stimmt: „Marta ist alles und zugleich nicht alles, von dem wir denken, sie sei es.“ Und Ja: Sie ist “Freiheit, Mahlstrom, Selbstreferenz, ein Freudenfest, reine Kreativität und Exzess.“ Aber auch: „Methode, Präzision, Strenge, Ausdauer, Großzügigkeit und kritischer Geist.“ (V. Noorthoorn) Und: Nicht jeder muss sie mögen!

Dennoch war die Retrospektive eine fantastisch intensive Ausstellung. Die überwältigende Laudatio, die weltweit wahrgenommen, wirft darüber hinaus die Frage auf, was hat es mit dem Warhol-Vergleich auf sich? Was hat Marta Minujín nicht im Vergleich mit dem internationalen Warhol’schen Hype? Und hat sie den nötig?

Nötig hat sie ihn nicht. Witzig und frech machte sie 1985 mit Andy in New York gemeinsame Sache. Bezugnehmend auf die hohen Auslandsschulden Argentiniens übergab sie ihm stellvertretend den ideellen Gegenwert in Naturalien: Mais, das lateinamerikanische Gold. Auf den die Aktion dokumentierenden Fotos sitzen beide mit Platinperücken auf Küchenstühlen, unter sich ein irritierendes Meer aus Maiskolben.

Sie haben einiges gemeinsam in Bezug auf ihre Kunst und die Zeit in der sie tätig waren. Beispielweise in der Selbstvermarktung, hier steht Minujín Warhol nicht nach. Man kolportiert, sie hätte ihr eigenes Bett in der Galerie ihrer Wahl aufgeschlagen, bis man ihr endlich versprach, sie auszustellen. Woran es auch liegt, dass man sie mit Warhol vergleicht und nicht umgekehrt, ist eigentlich egal. Ob daran, dass ein Mann, wenn auch schwul, im Kunstbetrieb immer noch mehr Gewicht hat als eine Frau? Oder an der Arroganz der nördlichen Halbkugel, Menschen und Ereignisse unter dem Kreuz des Südens nicht unmittelbar in ihre Wirklichkeitswahrnehmung einzubeziehen?

Marta Minujín braucht keinen Vergleich zu scheuen, sie ist eine Maßeinheit für sich. Eine Künstlerin, ein avantgardistisches role model, eine bis heute aktive Frau, die in Deutschland noch auf Entdeckung wartet. Es bleibt zu hoffen, dass die Retrospektive auch einmal bis in unsere Breitengrade wandert.

Derzeit sind Minujín/Warhol auf der Kolonialismus-Ausstellung La Idea de América in Sevilla zu sehen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/the-rise-and-rise-of-marta-minujin/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert