vonBenjamin Kiersch 18.06.2009

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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Dass in Latinamerika heutzutage phantastische Musik gemacht wird, ist ausgiebig im Internet dokumentiert, zuletzt in diesem Blog. Dass die heutigen Bands damit lediglich an Jahrhunderte alte Traditionen anknüpfen, ist weniger bekannt – dazu der zweite musikhistorische Beitrag des Tages.

Welche Musik vor ein paar hundert Jahren in den Kneipen und auf den Straßen von Buenos Aires, Cochabamba, Lima oder Santiago de Chile zu hören war, und vor allem, wie sich diese anhörte, darüber weiss man nämlich ziemlich wenig – bis jetzt. Das Ensemble Terra Australis aus Chile hat recherchiert, ist auf viele interessante Quellen gestoßen und präsentierte die Ergebnisse ihrer Forschung auf ihrer neuen CD „¡Cuándo mi vida, cuándo!“, sowie am 19. Mai in einem Konzert in der Nationalbibliothek in Santiago de Chile dem begeisterten Publikum.

Bei ihrer Suche nach populärer Musik stießen Tierra Australis zunächst auf Pater Gregorio De Zuola, einen spanischen Franziskanermönch, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Cochabamba im heutigen Bolivien kam und sich schließlich in Cuzco niederließ, wo er 1709 starb. Pater Gregorio war begabter Musiker, und nach der Messe muss er häufig noch auf eine Chicha in die Bars in der Umgebung gegangen sein, wo eifrig musiziert wurde. Der Padre hörte aufmersam zu und schrieb die Lieder, die ihm am besten gefielen, in ein Heft auf: So entstand der Códice De Zuola, die älteste bekannte Sammlung weltlicher Lieder Lateinamerikas.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=a6ekjzdpaYU[/youtube]

Zum anderen stießen Terra Australis auf die Musik Antonio Arandaz‘, ein Musiker aus Cádiz in Spanien, der zunächst in Buenos Aires arbeitete, dann die Anden überquerte und 1793 nach Santiago de Chile kam.  In Santiago gelandet, bewarb er sich zunächst als Musiker in der Kathedrale, wo er jedoch aus nicht überlieferten Gründen abgelehnt wurde. Daraufhin bestritt er seinen Lebensunterhalt mit der Organisation musikalischer Soireen, bei denen anzügliche Theaterstücke und antiklerikale Lieder zum besten gegeben wurden, zum Spaß der barocken Santiaguinos. Die Kirche beäugte diese Veranstaltungen, bei denen Menschen beiderlei Geschlechts bis spät in die Nacht zusammensaßen, äußerst argwöhnisch, und der Bischof mag sich geärgert haben, diesem Arandaz damals nicht doch den Organistenjob gegeben zu haben. Skurrilerweise befinden sich heute die einzigen erhaltenen Partituren von Arandaz in den Archiven der Kathedrale von Santiago, so dass man die blasphemischen Kleinode – die freilich für die heutigen Ohren recht brav klingen – heute wieder hören kann.

Weiterhin entstaubten Terra Australis ein Orgelbüchlein aus dem späten 18. Jahrhundert, das fast 200 Jahre lang auf einem Dachboden in Santiago gelegen hatte, und rekonstruierten den Text zu einem populären chilenischen Tanz, den „Cuando“, aus den Reiseerinnerungen des deutschen Botanikers und Zoologen Eduard Poeppig. Dieser hielt sich jedoch nur kurz in den Tanzlokalen von Valparaíso auf, bevor er auf seine Expedition durch Chile, Peru und – auf einem selbstgebauten Floß – auf dem Amazonas aufbrach, wo er neben musikalischen Kleinoden ca. 4000 Pflanzenarten dokumentierte.

So entstand eine einzigartige Sammlung musikalischer Raritäten von Frühbarock bis Klassik, die das Ensemble auf historischen Instrumenten wiederbelebt hat: Cembalo, Harfe, Blockflöten, Barockgitarre, Castañuelas, Violine und Cello sind in unterschiedlichster Kombination auf der Aufnahme zu hören. Einigen Kompositionen merkt man deutlich ihre spanischen Wurzeln an, andere sind bereits als chilenische Cuecas zu erkennen, während das Menuett aus dem – chilenischen – Klavierbüchlein wiederum deutlich die Handschrift eines Zeitgenossen Mozarts trägt.

Die Rekonstruktion der Stücke war nicht einfach – so sind vielfach nur Melodie und Text der Stücke erhalten, die Begleitung musste dem musikalischen Stil der Zeit entsprechend neu geschrieben werden, wobei der chilenische Komponist Carlos Zamora den Musikern hilfreich zur Seite stand. Dank der einfallsreichen Instrumentierung, der phantastischen Interpretation, nicht zuletzt der facettenreichen Stimme Cuadras ist die CD äußerst spannend anzuhören. Aufgefallen sind mir insbesondere „A cierto galán su dama“ in einer Version für Blockflöte, Charango und Tenor, und „Pajarillo fugitivo“, bei der sich die Blockflöte Carmen Troncosos und die Stimme Gonzalo Cuadras wunderbar umschmeicheln.

So ist es nicht verwunderlich, dass das Konzert am 18. Mai in der vollbesetzten Sala América der Nationalbibliothek in Santiago wunderbar war. Cuadra führte lustig und kenntnisreich das Programm, und das Ensemble präsentierte neben einigen Highlights von der CD auch neuere Kompositionen, um den Gegenwartsbezug der Musik zu illustrieren: so brillierte der Charango-Virtuose Freddy Torrealba mit einer Interpretation eines Stückes der Gruppe Inti Illimani, das große Ähnlichkeit mit den Stücken De Zuolas aufweist. Der Harfenist David Inalef beschloss den Abend mit einer zeitgenössischen Cueca aus Pirque, einem Vorort von Santiago, wo neben guter Musik auch weltbekannter Wein produziert wird: ein würdiges Ende eines spannenden Abends, der viel neues Licht auf die Alte Musik Lateinamerikas warf.

Im Unterschied zu den Granden des lateinamerikanischen Rock ist die Musik von Terra Australis leider noch nicht bei Myspace oder Youtube zu finden, die CD Cuándo, mi vida, cuando kann aber unter ensambleterraaustralis@gmail.com bestellt werden.

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kommentare

  • Wunderschöne Musik.
    Gibt es eine Möglichkeit, sich hier in Deutschland diese CD zu besorgen oder kann man sie nur in Chile bestellen?

    Kann der taz-shop diese CD nicht anbieten?

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