vonGerhard Dilger 18.04.2025

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Seit 2008 Nachrichten vom anderen Ende der Welt und anderswoher.

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Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa (2010) ist am 13. April gestorben, genau zehn Jahre nach seinem Kollegen Günther Grass (1999) und Eduardo Galeano aus Uruguay. Dass Bob Dylan 2016 ebenfalls und nicht mehr ganz überraschend die begehrte Auszeichnung aus Stockholm bekam, fand der peruanisch-spanische Grandseigneur „frivol“. Der „Song and Dance Man“ (Dylan über Dylan) sei der Auszeichnung nicht würdig, urteilte der Flaubert-, Victor-Hugo, Sartre- (1964) und García-Márquez (1982)-Bewunderer, denn der Barde aus Minnesota sei ja gar kein „großer Schriftsteller“.

Mit ähnlichen Vorurteilen hatte Eduardo Galeano zu kämpfen, wie etwa das verhaltene Echo in den deutschen Feuilletons nach dessen Tod am 13. April 2015 zeigte. Dabei gehört der Uruguayer mit seinen Aphorismen und kunstvollen Prosa-Poemen wie Gabriel García Márquez oder Vargas Llosa selbst zu den meistgelesenen Autoren den Subkontinents. Berühmt wurde Galeano, der als junger Journalist auch Ho-Chi-Minh oder Che Guevara interviewte, mit dem antiimperialistischen Best- und Longseller „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (1971), von dessen Form er sich zuletzt distanzierte – keineswegs jedoch vom Inhalt (in den Worten einer führenden deutschen Politikerin: „Links sein heißt antiimperialistisch sein“).

Vargas Llosa, der in den 1960ern bei AFP in Paris arbeitete und zugleich zu einem der Großen des lateinamerikanischen Roman-Booms wurde, fand hingegen, sein „Antipode“ Galeano habe die Region in jenem dependenztheoretisch beeinflussten Werk „karikiert“: „Mit seinen Thesen über Lateinamerika hat er sich vollständig geirrt“. Immerhin gestand er Galeano „literarisches Talent“ und „intellektuelle Qualitäten“ zu und würdigte dessen politisches Engagement. Galeano wiederum hüllte sich über seinen liberalen Kollegen in vornehmes Schweigen, dessen Abdriften ins Reaktionäre – zuletzt unterstützte er die ultrarechten Präsidentschaftskandidat:innen Keiko Fujimori (Peru), José Antonio Kast (Chile) und Jair Bolsonaro (Brasilien) gegen die gemäßigten Linken Pedro Castillo, Gabriel Boric und Lula da Silva – bekam er nicht mehr mit.

Zu seiner Arbeitsweise äußerte sich Eduardo Galeano in einem längeren Interview im Café Brasilero in Montevideos Altstadt. Sein damals aktuelles Werk war „Zeit die spricht“ (dt. Ausgabe 2005).

GD: Wie ist „Zeit die spricht“ entstanden?

EG: Dieses Buch ist das Ergebnis von acht Jahren harter Arbeit. Es besteht aus 333 Geschichten. Sehr viele habe ich weggelassen – übrig geblieben sind die, die sich miteinander verknüpft haben, die zusammenpassten. Wie bunte Fäden kommen sie zusammen, um ein Gewebe zu bilden.

Wie hat man sich das vorzustellen – arbeiten Sie mit einem Zettelkasten?

Nein. Manchmal schreibe ich mir etwas auf, damit ich es nicht vergesse, dann bearbeite ich es, ausgehend von einer Skizze, einem Gekritzel. Oft fängt es mit den winzigen Notizbüchern an, die ich immer in der Hosentasche habe, in denen ich die Dinge aufschreibe, die ich höre, an die ich mich erinnere oder von denen ich denke, dass sie einen gewissen Zauber haben.

Diese Dinge sind wie Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen kann: vom Kleinen aus das Große, vom Besonderen das Universelle, von dem, was winzig erscheint, das, worauf es wirklich ankommt. Ich mache also Notizen, und dann fange ich an, den Text zu bearbeiten, schreibe eine Version, zwei, zehn oder zwanzig. Deswegen brauche ich so viel Zeit: Um Geschichten zu erzählen, bei denen kein Wort zuviel ist. Es geht also um die Suche nach den Worten, die aus der Notwendigkeit geboren werden, dass man sie ausspricht, die es wert sind zu existieren, die besser sind als die Stille. Das erfordert sehr viel Arbeit.

Und es ist wohl schwieriger, als Essays zu schreiben?

Ja, viel schwieriger. „Die Füße nach oben“ (2000) habe ich in zwei Jahren geschrieben. Und während ich es verfasst habe, habe ich weiter an „Zeit die spricht“ gearbeitet. Für die kurzen Texte brauche ich am längsten. Mir gefällt der kleine Raum, die Konzentration. Es sind Gedichte, die so tun, als wären sie Prosa.

Die Struktur von „Die Füße nach oben“ ist anders: Da gibt es kleine Texte, die eingeschoben sind in einen Essay, der eher traditionell geschrieben ist. Diese langen Texte schreibe ich schnell, die kosten mich keine Mühe. Der Text, der mir gefällt, ist der, der mich Arbeit kostet, das Konzentrat, das in wenigen Worten viel aussagt. Wie die Engländer sagen, less is more… Außerdem kann ich so eine perfekte Übereinstimmung zwischen Verpackung und Inhalt finden.

Wo besteht da der Zusammenhang? 

Das hat mit meinen Ideen zu tun, mit meiner Art, die menschliche Geschichte zu sehen. Meine Weltsicht geht aus vom Respekt für alles, was verachtet wird, für die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge und von meinem tiefen Misstrauen gegenüber allem Großkotzigen, Spektakulären, Mächtigen. Bei dieser extrem konzentrierten Literatur fühle ich, dass Hand und Handschuh zusammenpassen, denn es ist eine Hommage an die ganz kleinen Dinge. Diese Minitexte fügen sich also in eine größere Struktur…

…das Gewebe, von dem Sie vorher sprachen?

Daraus wird eine andere Wirklichkeit, darum geht es mir. Ich versuche das zusammenzufügen, was von einem weltweit funktionierenden Mechanismus der Trennungen auseineinandergerissen wird, der alles zerbricht, was er berührt. Er trennt die Seele vom Körper ab, die Vergangenheit von der Gegenwart, das Gefühl vom Verstand.

Wie schon in Ihren vorherigen Büchern werden viele Texte durch kleine Vignetten illustriert. Was steckt dahinter? 

Das sind Bilder aus der peruanischen Region Cajamarca. Die meisten hat ein Freund entdeckt, der seit 40 Jahren daran arbeitet. Einige von ihnen sind Tausende Jahre alt, 10.000, 15.000 Jahre, und sie sind phantastisch, so perfekt wie von Picasso. Sie sehen aus, als wären sie letzte Woche entstanden. Aber es sind anonyme, in Felsen eingravierte Werke.

Mir gefällt es sehr, all das wiederherzustellen, was verachtet worden ist, wie zum Beispiel die Holzschnitte in „Die Füße nach oben“ von José Guadalupe Posada, dem mexikanischen Künstler, der vor 100 Jahren gestorben ist, aber lebendiger ist als wir. Oder jene in „Wandelnde Worte“ (1997) von dem Brasilianer José Francisco Borges, dem letzten Mohikaner der Cordel-Tradition (Heftchen-Balladen aus dem brasilianischen Nordosten, GD). An jenem Buch haben wir zusammen drei Jahre lang gearbeitet, auch darin gibt es die Übereinstimmung zwischen Bild und Wort, die wiederum der Korrespondenz zwischen Form und Inhalt entspricht.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Die Bücher schreiben mich. Ich weiß nie, was ich machen werde, ganz allmächlich wachsen sie in mir und werden zu dem, was sie werden wollen. Wir Uruguayer sind langsam. Die uruguayischen Kühe gebären langsam. Die uruguayischen Fußballspieler nehmen den Ball an und überlegen zehn Minuten lang… Ich nehme mir meine Zeit, ohne Konzessionen an den kommerziellen Druck. Ich lebe von dem, was ich schreibe, das reicht. Aber Versuchungen gibt es immer, mir haben sie Millionen versprochen. Das ist eine Falle: Wenn du da einsteigt, kommst du nicht mehr heraus.

Wie meinen Sie das? 

Zum Beispiel literarische Verträge auf Zeit, ein Buch in einem Jahr, dann zwei Jahre darauf das nächste. Oder der Zwang, an diesen anstrengenden Werbetourneen teilzunehmen… Ich arbeite mit kleinen, unabhängigen Verlagen, das verschafft mir Freiheit. Das andere wäre gelinde gesagt unbequem – und paradox: Wenn ich gegen die Zivilisation bin, die alles zur Ware macht, was es berührt, für die Dinge wichtiger sind als Menschen, die den solidarischen Internationalismus durch die Globalisierung der Ware ersetzt, warum sollte ich mich selbst zur Ware machen? Es wäre unerträglich. Ich habe mich immer geweigert, solche Verträge zu unterschreiben, wie sie manche meiner Freunde unterschrieben haben, denn ich habe gesehen, wie sehr sie dadurch zu Gefangenen wurden. Dann hört die Literatur auf, ein Vergnügen zu sein und wird zur Pflicht.

Das war im November 2004, wenige Tage zuvor hatte die Linksallianz Frente Amplio ihren ersten von mittlerweile vier Wahlsiegen errungen, und in den USA schaffte George W. Bush ganz entspannt die Wiederwahl.

Noch einmal vier Jahre Bush & Co. – was bedeutet das für uns?

Es ist ein Sieg der Angst. Die Welt ist einer Diktatur der Angst unterworfen, einer unsichtbaren Diktatur, die nur manchmal sichtbar wird. Die US-Öffentlichkeit ist besonders empfindlich, wenn Panik gesät wird. 60 Prozent glauben an die Existenz des Teufels. Er wechselt seine Verkleidung, vorher war es der Kommunismus, heute ist es der islamische Terrorismus.

Es ist kein Zufall, dass wenige Tage vor dieser Katastrophe für die Menschheit Bin Laden aufgetaucht ist, um seine Drohungen auszustoßen und große Katastrophen anzukündigen. Ich weiß nicht, ob er von Bush bezahlt wird, aber verdient hätte er es. Was wäre das Gute ohne das Böse?

Dabei ist das „Gute“ eine absolut verrückte Art, die Welt zu organisieren: Pro Tag werden 2,5 Milliarden Dollar in die Industrie des Todes gesteckt. Mit den Ausgaben von zehn Tagen könnte man das Leben aller Kinder retten, die jedes Jahr an heilbaren Krankheiten sterben oder verhungern. Aber zur Rechtfertigung dieser Militärausgaben braucht der kapitalistische Himmel einen Teufel, und wer eignet sich besser als Bin Laden mit seinem Bärtchen, seiner Maschinenpistole, diesem Blick.

John Kerry wäre Ihnen also lieber gewesen?

Wäre ich US-Bürger, ich hätte für Ralph Nader gestimmt, denn ich glaube, das Schlimmste für eine Demokratie ist eine Einheitspartei, die sich als zwei Parteien ausgibt, wie wir es in Uruguay 170 Jahre lang mit den Blancos und den Colorados gehabt haben. Mit Nader gab es eine kleine Möglichkeit, dass etwas anderes hätte entstehen können. Aber das verleitet mich nicht zu der Ansicht, dass Bush das Gleiche ist wie Kerry, natürlich ist Bush viel schlimmer.

Wir sind in der Hand eines Verrückten, der von Leuten umgeben ist, die alles andere als verrückt sind und diesen irrationalen Diskurs organisieren. Wie die Betrunkenen negieren die Verrückten das Offensichtliche. Bush sagt, die Welt werde immer sicherer, während sie in Wahrheit an allen Stellen explodiert.

Manche sagen ja, solange die USA in anderen Teilen der Welt beschäftigt sind, können sie in Lateinamerika nicht so viel Unheil anrichten. Sehen Sie das ähnlich?

Auf die direkten militärischen Unternehmungen trifft das zu, die Marines sind in Irak beschäftigt. Aber bei uns landen andere Soldaten, die genauso viel oder sogar mehr zerstören: die Technokraten des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation. Diese Machtstruktur setzt uns mehr zu als je zuvor. Es stimmt also nicht, dass ihnen Lateinamerika egal ist, dass sie uns in Ruhe lassen.

Nun ist ja auch in Uruguay gewählt worden…

Ja, aber hier war es ein Sieg über die Angst. Das ist neu. Hier hat die Rechte nämlich auch eine Angstkampagne gefahren, die haben die Frente Amplio mit den Tupamaros gleichgesetzt und suggeriert, die Linken seien Entführer, Mörder, Diebe, Vergewaltiger und Feinde der Demokratie. Ein Kandidat für die Vizepräsidentschaft sagte, alle Uruguayer müssten sich gleich kleiden, so wie die Chinesen zu Maos Zeiten.

Auch der Sieg im Wasser-Plebiszit war ein Sieg über die Angst. Verbreitet wurde, Uruguay werde sich ohne die Privatisierungen in ein Land der schwarzen Brunnen verwandeln, die Uruguayer seien Exoten, Marsmenschen in einer Welt, wo das Wasser privat verwaltet werde, diese Lüge hat der Kulturminister verbreitet!

Tatsache ist: Die Spielräume für die neue Linksregierung werden eng sein.

Ja, es ist klar, dass Uruguay nicht die Kraft hat zu sagen: Wir werden die Schulden nicht mehr bezahlen. Das wäre realitätsfremd. Aber Uruguay kann und muss sich mit den anderen lateinamerikanischen Ländern zusammentun, um gemeinsam gegen den Würgegriff der Verschuldung und der internationalen Märkte anzugehen. Die Großen – Brasilien, Argentinien und Mexiko – müssen davon überzeugt werden, dass auch sie denselben stählernen Gesetzen der internationalen Machtstruktur unterworfen sind. Wenn sie glauben, sie können sich alleine retten, dann sind sie geliefert. Es gibt keinen Raum für die Einsamkeit.

Was ist das Besondere an der uruguayischen Linken?

Die Frente Amplio ist wirklich ein Bündnis mit vielen Widersprüchen. Als Sohn von Marx und Enkel von Hegel bin ich davon überzeugt, dass der Widerspruch der Motor der Geschichte ist. Deswegen mache ich mir auch nicht das Geringste aus den Widersprüchen der Frente, sie sind ja der Beweis, dass sie lebendig ist. Andere Genossen sind darüber entsetzt, die kommen sich superrevolutionär vor und sind Anhänger einer linearen Logik. Sie verwechseln Einheit und Konformismus.

Und dann die Geduld. Die Frente ist ganz langsam aufgebaut worden, ab 1971 und mit einer brutalen Unterbrechung durch die Militärdiktatur. Danach ist dieser Impuls, diese Energie wieder aufgegriffen worden und Bewusstsein für Bewusstsein, Haus für Haus, erobert worden, mit einer geradezu chinesischen Geduld. Das war unglaublich, denn üblicherweise ist die Linke sehr ungeduldig. Jetzt ist diese Entwicklung in den Wahlsieg gemündet.

Könnten Sie den gewählten Präsidenten in wenigen Worten charakterisieren?

Tabaré Vázquez ist sehr nüchtern, ernsthaft, verantwortungsvoll und kohärent. Sein ganzes Leben lang haben seine Taten und sein Handeln übereingestimmt. Er ist sehr, sehr uruguayisch in seiner sanften, verhaltenen Art zu reden. Er treibt die Nüchternheit auf die Spitze, wenn man das sagen kann.

In puncto Vergangenheitsbewältigung haben sich die führenden Frente-Vertreter sehr vorsichtig geäußert…

Ja, wie eigentlich auf allen Gebieten. Wir müssen um die Rückgewinnung der Erinnerung und gegen Uruguay als Paradies der Straflosigkeit kämpfen. In den Jahren des erzwungenen Gedächtnisverlustes mussten wir den Müll unter dem Teppich verstecken und den Mund halten. In der ersten Etappe geht es darum, den Artikel vier des entsetzlichen Amnestiegesetzes auszuschöpfen, gegen das wir 1989 erfolglos ein Plebiszit organisiert hatten. Dieser Artikel, wonach Untersuchungen in Mordfällen durchaus möglich sind, ist nie angewendet worden. In dieser ersten Etappe könnte man schon einiges erreichen.

Aber hat die künftige Regierung den politischen Willen dazu?

Ja, zur ersten Etappe bestimmt, das hat Tabaré Vázquez auch versprochen. Dann sehen wir weiter. Es ist ein langer Weg, aber es nützt nichts, groß herumzuschreien. Es geht darum, langsam mit klarem Ziel zu handeln.

All das klingt doch sehr nach dem, was der brasilianische Präsident Lula immer sagt. Nur ist der jetzt schon fast zwei Jahre im Amt, und die Ergebnisse sind bescheiden. Die neoliberale Logik scheint übermächtig.

Die Regierung Lula ist sehr widersprüchlich. Die Freigabe der Gensoja zum Beispiel ist schwer zu verstehen. Die besten Signale gehen in die Richtung, die gemeinsame Front zu erweitern, in der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, oder innerhalb der Welthandelsorganisation der Versuch, mit Indien, Südafrika und China zusammenzuarbeiten. Doch auch hier ist der Ausgang offen. Uruguay jedenfalls ist zur Kooperation mit Argentinien und Brasilien verurteilt, wir können uns nicht in ein eigenes Abenteuer stürzen.

Wie fühlen Sie sich heute angesichts der Nachrichten aus den USA und der Hoffnung, die in Uruguay mit Händen zu greifen ist?

Solche Situationen sind eine Herausforderung. Viele US-Amerikaner denken, die Welt sind sie. Die Welt sieht das vielleicht anders. Es ist an der Zeit, nein zu sagen, wir dürfen uns nicht weiter wie Blätter im Wind treiben lassen. Wir müssen den Widerstand organisieren, im Namen des Planeten, der in diesem Rausch der Gewalt und des Konsums unterzugehen droht.

Die Welt muss ihnen sagen: Ihr dürft nicht über uns verfügen. Das gilt besonders für uns Lateinamerikaner, denen die Erniedrigung jahrhundertelang eingetrichtert worden ist. Uruguay ist ein kleines, fast geheimes Land, das nie in den Medien auftaucht. Unser Wasser-Plebiszit hat jedoch Aufmerksamkeit verdient. Jetzt ist das Wasser als öffentliches Recht und Gut für alle in der Verfassung verankert und die privaten Geschäftemacher sind draußen. Das sollte man uns nachmachen!

Eduardo Galeano auf der Buchmesse von Brasília, 13. April 2014

Der Fußballnarr pflegte die Männer-WMs mit Karl-Ludolf Hübener und anderen Freunden in seiner Wohnung zu zelebrieren. 1997 veröffentlichte er den Klassiker „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, posthum folgte „Cerrado por fútbol“ (nach dem Schild, das er während der WMs an seine Haustür hängte). In einem Interview anlässlich der WM 2010 in Südafrika ließ Eduardo Galeano seiner Begeisterung freien Lauf.

Wer wird Fußballweltmeister?

Zum Propheten tauge ich nicht. Und außerdem, das gestehe ich Ihnen, will ich die Zukunft gar nicht wissen. Wenn eine Zigeunerin meine Hand nimmt und mir anbietet, sie zu lesen, flehe ich sie an: „Señora, bitte seien Sie nicht grausam“. Ich will nicht wissen, was geschehen wird, ja, nicht einmal vorweg spüren, denn das Beste im Leben wartet immer hinter der nächste Ecke. Und ich füge hinzu: Zum Glück gehen die Vorhersagen daneben. Die Zeit macht sich über jene lustig, die sie erraten möchten.

Was halten Sie von der deutschen Mannschaft?

Erstaunlich! Sie hat die Kraft und die Schnelligkeit der alten Zeiten, dazu eine Eleganz und eine Freude, vielleicht der Beitrag so vieler jungen Spieler, die in ihre Reihen aufgenommen wurden, der Einwanderer oder Einwandererkinder. Im Fußball wie im Leben bedeutet die ethnische Vermischung Verbesserung.

Und warum haben es die Argentinier letztlich nicht geschafft?

Sie haben in mehreren Spielen geglänzt und jetzt sind sie weg, gedemütigt durch ein Schützenfest: Das macht mich traurig, auch wenn der deutsche Sieg mehr als gerecht war. Wo hat Argentinien versagt? Offensichtlich hat es das Mittelfeld vernachlässigt, es fehlte an den Verbindungen zwischen vorne und hinten, und Messi wurde nach allen Regeln der Kunst von der deutschen Abwehr blockiert. Vielleicht hat das auch ein wenig mit der Messi-Abhängigkeit zu tun. Wenn es einen so außergewöhnlich guten Spieler gibt, kommt es fast zwangsläufig zu so etwas. Jedenfalls, das ganz nebenbei, Messi spielte während der ganzen WM viel besser als der andere Superstar Cristiano Ronaldo. Der war da, aber keiner hat ihn gesehen.

Pelé zweifelte ja vor der WM Diego Maradonas Trainerkünste an. Hatte er Recht?

Im heutigen Fußball verrichtet der Trainer eine unsaubere, ja hochgiftige Arbeit: Es ist der Sündenbock der Niederlagen, und dasselbe Volk, das ihn in den Himmel gehoben hat, schickt ihn später in die Hölle. Vor ein paar Jahren schon wussten die Leute nicht mehr, was Trainer heißt, dann nannte man ihn technischen Direktor.

Die meisten südamerikanischen Stars spielen in Europa. Kann man diesen Fußball-Rohstoffexport abstellen?

Nein. Wir Länder des Südens werden weiter Hände und Füße für die Arbeit in den Norden der Welt exportieren.

Brasilien ist mit seinem Dunga-Rezept gescheitert. Was würden Sie Ihren Nachbarn im Hinblick auf die WM 2014 empfehlen?

Ich gebe und erhalte ungern Ratschläge, aber uns Lateinamerikanern geht es nicht gut, wenn wir die Erfolgsrezepte der Europäer nachahmen. Weder im Fußball noch sonstwo. Wir haben das auch nicht nötig. Ich habe schon mehrfach über die jetzige deutsche Mannschaft folgendes Lob gelesen und gehört: „Sie spielen wie Südamerikaner“. Das Dunga-Rezept war nicht das beste für die südamerikanischste aller südamerikanischen Mannschaften: Woran krankte Brasilien, dass es solche Medikamente brauchte?

Wie lautet Ihre bisherige WM-Bilanz?

Mein guter Freund Pacho Maturana, der zwei National- und mehrere Vereinsmannschaften in diversen Ländern trainiert hat, pflegt zu sagen, und er irrt sich nicht:„Der Fußball ist ein Zauberreich, in dem alles passieren kann“. Wir Lateinamerikaner waren glücklich, zum ersten Mal in der Geschichte kamen vier unserer Mannschaften ins Viertelfinale und dann, mit einem Schlag, paff! war nur noch Uruguay alleine gegen Europa übrig. Mit dieser Ausnahme ist die WM wieder eine EM. Vorher gab es schon keine Afrikaner mehr, ganz Afrika ist nicht mehr bei dieser WM dabei, der ersten WM in Afrika. Die Boateng-Brüder sind die dramatische Metapher des Geschehenen: Der Boateng, der für Ghana spielt, ist weg, und übrig ist der Boateng, der für Deutschland spielt.

Es waren ja die Himmelblauen, die den afrikanischen Traum beendet haben. Wie haben Sie die letzten Momente der Partie Uruguay gegen Ghana erlebt?

Das war ein Hitchcock-Film. Das hat mir den Atem geraubt. Mir und allen, die das spannendste aller WM-Spiele gesehen haben. Wie man weiß, gewann Uruguay, und gleichzeitig wurde so die Niederlage von ganz Afrika besiegelt. Ich habe das gefeiert, und zugleich habe ich eine tiefe Trauer verspürt. Im Fußball wie im Leben gibt es Freudenmomente, die schmerzen.

Warum ist diese uruguayische Mannschaft so stark?

Weil sie an das glaubt, was sie tut, und die Begeisterung gleicht das aus, was ihr fehlt. Ich weiß nicht, ob sie ins Finale kommt, aber wieder ist es wundersam wahr, dass ein Land mit weniger Einwohnern als ein Viertel von Buenos Aires fähig sein kann, die Welttrophäe zu erobern. Wir alle feiern das, die wenigen, die wir sind, denn Uruguay ist ein äußerst fußballverrücktes Land, hier schreien alle Babys bei ihrer Geburt Gooooooool!!!!

Im Celeste-Trikot steckt viel Energie. Und die Geschichte hilft auch. Unser Ländchen hat zwei Fußball-Olympiaden gewonnen, als es die WM noch nicht gab, und zwei Weltmeisterschaften, die erste hier in Montevideo, und dann die von 1950, als wir Brasilien bei der Einweihung des größten Stadions der Welt, dem Maracanã, vor 200.000 tobenden Zuschauern besiegt haben.

Mario Vargas Llosa war – wie die meisten Autoren der Boom-Generation, zu der der Kolumbianer García Márquez, Carlos Fuentes aus Mexiko oder der Argentinier Julio Cortázar gehörten – zunächst ein Linker. Wie viele fortschrittliche Intellektuelle distanzierte er 1971 sich von der Revolutionsregierung, als der Dichter Heberto Padilla wegen regimekritischer Gedichte verhaftet wurde. Er wandelte sich schließlich zum überzeugten Neoliberalen und Linkenfresser, der deswegen von vielen progressiven Lateinamerikaner:innen als Gegner betrachtet wurde. Dass er 2006 einen Band mit einfühlsamen Reportagen aus Palästina veröffentlicht hatte, nahmen die wenigsten von ihnen zur Kenntnis.

Vargas Llosa erlebte ich in München, wo er 2004 seinen Roman „Das Paradies ist anderswo“ über die Feministin Flora Tristan aus seinem Geburtsort Arequipa vorgestellt hatte. In Begleitung seiner deutschen Agentin Michi Strausfeld empfing er mich sehr charmant im Bayerischen Hof, für das Gespräch bekam ich genau 15 Minuten. Seine etwas peinliche Lobeshymne auf den kolumbianischen Hardliner Álvaro Uribe blieb schließlich ungedruckt.

Mario Vargas Llosa in München, Mai 2004

In Ihrem neuen Roman verschränken Sie die Lebensgeschichten der frühsozialistischen Frauenrechtlerin Flora Tristan mit der ihres Enkels Paul Gauguin. Ist „Das Paradies ist anderswo“ ein historischer Roman?

Ich habe die grundlegenden Fakten im Leben der beiden Figuren respektiert. Aber es ist eben ein Roman. Ich habe mir viele Freiheiten genommen, alle Lücken in den Lebensgeschichten mit Erfindungen und Fantasien ausgeschmückt, Figuren dazuerfunden und historische Figuren mit großer Freiheit behandelt.

Wann hatten Sie die Idee für diesen Roman?

Als ich als Student erstmals Flora Tristans Memoiren „Reise nach Peru“ gelesen habe. Das war in den Fünfzigerjahren. Mich beeindruckten ihre Persönlichkeit, ihre rebellische Haltung, ihr Mut, über Dinge zu reden, die damals tabu waren – über ihre familiären Probleme, die Tatsache, dass sie aus ihrem Haus geflohen war, ihren Mann und ihre Kinder verlassen hatte. Von da an versuchte ich alles zu lesen, was ich über sie finden konnte. Damals gab es wenig Literatur über Tristan, dann erschienen Studien in Frankreich. Aber bis vor kurzem war sie eine Unbekannte.

Und Gauguin?

Die Idee, ihn einzubauen, kam mir erst, nachdem ich mit dem Roman angefangen hatte. In allen Biografien von Flora Tristan wurde ihr Enkel Gauguin erwähnt, mit einem Charakter, der der seiner Großmutter sehr ähnlich war. Dann kam ich darauf, einen Kontrast herzustellen, weniger zwischen ihren Persönlichkeiten, sondern mehr zwischen ihren Utopien, den Bildern einer perfekten Gesellschaft, die sie beide hatten. Die waren antagonistisch, aber ihre rebellische Haltung war sehr ähnlich.

Hat Sie Flora Tristan damals auch als sozialistische Aktivistin fasziniert?

Beeindruckt hat mich vor allem, dass sie als eine der ersten aktiv gegen die Frauendiskriminierung gearbeitet hat, gegen die Tatsache, dass Frauen geknechtete, ausgegrenzte Wesen ohne jegliche Rechte waren. In dieser Hinsicht war sie eine echte Pionierin. Außerdem hat sich in ihrem abenteuerlichen Leben die ganze Problematik des 19. Jahrhunderts gut ausgedrückt. Tristan und Gauguin decken ja das ganze Jahrhundert ab: Sie wurde 1803 geboren, er starb 1903.

Flora Tristan und Sie wären heute wohl politische Gegner.

Auf jeden Fall, aber diese Gegnerschaft wäre voller Respekt. Bei all ihrem Idealismus und ihrer grenzenlosen Großzügigkeit war sie eine „Kollektivistin“: Sie glaubte, dass die wichtigsten Werte eines Individuums von seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt werden. Das Problem der Frau als Individuum existierte für sie nicht, sie wollte vielmehr Lösungen für alle Frauen. Sie wollte kollektive Lösungen für die großen sozialen Probleme, und darin würde ich ihr tatsächlich vollkommen widersprechen.

Zugleich glaube ich, dass sie libertär war. Nie wäre sie einer totalitären, stalinistischen Vision verfallen. Einige ihren Initiativen haben keine Anerkennung gefunden. Sie ist die Erste, die eine Arbeiter-Internationale gedacht hat. Vier Jahre vor dem Kommunistischen Manifest hat sie das Büchlein „L’Union Ouvrière“ veröffentlicht, wo sie sagt: Wir Frauen sind allein nicht stark genug, das Frauenproblem zu lösen. Wir müssen uns mit den anderen Opfern der Gesellschaft, den Arbeitern, zusammentun – und zwar über Grenzen hinweg.

Das ist der Gedanke der Internationale. Marx und Engels haben ihr diese Urheberschaft nie zugestanden. Engels hat sie außerdem plagiiert: In seinem Buch über die englische Arbeiterklasse plündert er regelrecht Tristans Buch über England, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu erwähnen!

Verschwunden sind solche Verhaltensweisen ja bis heute nicht.

Aber viele der Reformen, die Flora Tristan vorgeschlagen hat, sind in der westlichen Welt Wirklichkeit geworden. Der Gedanke der sozialen Sicherheit etwa, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, wenigstens dem Gesetz nach. Was sich glücklicherweise nicht durchgesetzt hat, ist ihr Vorschlag einer Lebensplanung für alle Menschen von der Wiege bis zum Grab.

Von vielen Linken – in Lateinamerika und anderswo – werden sie ja als Romancier geschätzt, aber als liberaler Intellektueller kritisiert…

Ja, an meinen liberalen Ideen halte ich fest. Ich glaube, die Demokratie ist der Weg, um Vorurteile auszuschalten. Flora Tristan wäre heute eine große Verteidigerin der Frauenrechte in der islamischen Welt, wo die Ausbeutung und brutale Diskriminierung der Frauen am offensichtlichsten ist.

Ursprünglich hatten Sie sich ja gegen den Irakkrieg ausgesprochen, dann aber nach Ihrem Aufenthalt im letzten Sommer Ihre Meinung geändert. Wie sehen Sie die Rolle der USA nach den Bildern der letzten Wochen?

Durch die Folterungen haben die USA ihre Legitimität verloren. Es ist ja ein gutes Argument, die Demokratie in den Irak bringen zu wollen. (In den Worten einer führenden deutschen Politikerin: „Menschenrechte müssen universell gelten“, GD). Aber die Folterungen, vor allem in diesem Ausmaß und noch dazu in Abu Ghraib, dem Symbol für Saddam Husseins Verbrechen schlechthin– das ist ein tödlicher Schlag für die Koalition. Das Schlimmste ist wohl der Verlust eines großen, gemäßigten Sektors, der trotz des Krieges und der Gewalt noch davon überzeugt war, dass es dem Irak jetzt besser geht als unter Saddam. Diese Menschen unterstützen jetzt den so genannten Widerstand, und das ist tragisch.

Aber einen Zusammenstoß der Fundamentalismen sehen Sie nicht, Islamisten contra Bushs Neokonservative?

Nein. Saddams Diktatur war absolut monströs. Die Möglichkeit einer Entwicklung hin zu mehr Demokratie rechtfertigte für mich die militärische Intervention. Ohne Unterstützung in der irakischen Gesellschaft ist das nicht zu erreichen. Aber ist die Lösung der Rückzug, damit al-Qaida und alle terroristischen Organisationen den Irak übernehmen? Das wäre nur eine Lösung für die Feinde des Westens und der Demokratie.

Zurück nach Lateinamerika. 15 Jahre neoliberale Reformen haben ja nicht zum großen Wohlstand geführt …

In den meisten Gesellschaften sind die liberalen Reformen gescheitert, weil sie sehr schlecht umgesetzt wurden. Alberto Fujimori in Peru oder Carlos Menem in Argentinien, um nur die Extrembeispiele zu nennen, haben die unvermeidlichen Privatisierungen nicht gemacht, um den Wettbewerb zu fördern, sondern sie haben aus öffentlichen Monopolen private gemacht. Die damit verbundene riesige Korruption hat den Liberalisierungsgedanken diskreditiert.

Aber diese Regierungen wurden doch enthusiastisch vom Internationalen Währungsfonds unterstützt …

Der IWF ist ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen fixiert. Kein Liberaler, der diesen Namen verdient, wird diese Art der Politik gutheißen. Wo liberale Reformen gut gemacht worden sind, wie in Chile oder auch in Spanien, da waren sie erfolgreich. Vielleicht wären noch die zentralamerikanischen Länder zu nennen. Aber in anderen Ländern ist die Lage sehr beunruhigend, in Venezuela, Ecuador, Bolivien …

Und in Brasilien? Dort setzt Präsident Lula die liberalen Reformen seiner Vorgänger fort.

Lula hat sich für eine sehr pragmatische Position entschieden. Ich glaube, er hat verstanden, dass seine ursprünglichen Vorstellungen untauglich waren. Den Rückhalt der Finanzwelt hat er ja, sein Problem ist jetzt politisch: Viele seiner Wähler fühlen sich verraten.

Ist es nicht problematisch für die Demokratie in Lateinamerika, wenn Regierungen immer öfter das machen, wofür sie gerade nicht gewählt wurden?

Das Problem stellt sich ja für Regierungen entwickelter Länder ganz ähnlich dar. Man muss realistisch sein, die Spielräume für Regierende sind doch sehr begrenzt. Nehmen Sie Deutschland, wo die sozialdemokratische Regierung einschneidende Kurskorrekturen vornimmt. Es gibt eben einen internationalen wirtschaftlichen Kontext, der das Unmögliche bestraft.

In der Literatur kann man das Unmögliche machen, aber in der Politik ist es nicht sehr angebracht.

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