Nun gehört Rita Laura Segato endgültig zu den Star-Intellektuellen Argentiniens. Die 67-jährige emeritierte Anthropologin lehrte und forschte über 30 Jahre lang von Brasília aus und ist eine exzellente Kennerin ganz Lateinamerikas, besonders das der immer noch allzu oft ignorierten Mehrheiten: Frauen, Indigene, afrolatin@s. Und sie mischt sich ein: Bei der Einführung der Quoten für Schwarze und indígenas an den öffentlichen Universitäten Brasiliens gehörte sie zu den einflussreichsten Stimmen. Unter Feministinnen galt sie schon länger als Geheimtipp, Ende 2015 nahm sie an der Büroeröffnung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires teil.
Nach dem Wahlsieg des Ultrarechten Jair Bolsonaro musste sie Brasilien den Rücken kehren. Nun pendelt sie – wenn sie nicht gerade auf einer Vortragsreise ist – zwischen ihrer Hauptstadtwohnung in San Telmo und ihrer heißgeliebten Wahlheimat Tilcara in der nordwestargentinischen Provinz Jujuy, wo indigene Rituale wie selbstverständlich zum Alltag der Menschen gehören.
Nach bahnbrechenden Interventionen über die rassistische Gewalt gegen Frauen in Guatemala und Mexiko sowie mit der Explosion der feministischen Bewegung in Argentinien wurde sie einem immer breiteren linken Publikum bekannt. Mit der Einladung, im April 2019 die Buchmesse zu eröffnen, ist sie in Buenos Aires im Mainstream-Feuilleton angekommen, ihre Essaysammlungen sind Verkaufsschlager.
Ein antikapitalistischer Konsens ist eine gute Basis, aber weder in der Analyse noch als Handlungsmaxime ausreichend, um breite Bündnisse gegen den neoliberalen bis ultrarechten Rollback in Lateinamerika und anderswo schmieden zu können. Auch patriarchale, rassistische und (neo-)koloniale Strukturen müssen erkannt und bewusst gemacht werden, um sie bekämpfen zu können. Dafür lohnt es sich, Rita Segato auch in Europa zu lesen. Was dem entgegensteht, schildert sie eindringlich in ihrer Rede zur Eröffnung der diesjährigen internationalen Buchmesse von Buenos Aires.
Wir veröffentlichen diese vielbeachtete Intervention als vorzügliches Beispiel für Segatos Grundhaltung: Sie plädiert für eigenständiges Denken, das sich gleichermaßen gegen die Fixierung vieler Intellektueller auf Europa, political correctness US-amerikanischer Provenienz oder zu kurz greifende Analysen der Gewalt gegen Frauen wendet.
Ihre genaue Kenntnis der barbarischen Verhältnisse in brasilianischen Gefängnissen oder der Frauenmorde in Ciudad Tijuana verbindet Rita Segato mit einem mitreißenden Optimismus des Willens. Zudem ist sie fest davon überzeugt, dass die feministische Massenbewegung im südlichen Südamerika gerade dabei ist, die politischen Koordinatensysteme dauerhaft zu verschieben.
Am 13. Juni 2019 tritt Rita Segato auf dem Kongress “Geographien der Gewalt” in Frankfurt/Main auf, der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mitveranstaltet wird.