In Brasilien steht die Demokratie auf dem Spiel: Am 7. Oktober 2018 holte der rechtsextreme Kandidat Jair Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl 46 Prozent der Stimmen. Nur knapp schrammte er an einem Wahlsieg in der ersten Runde vorbei. Mit seinen rassistischen, frauenverachtenden, homophoben und demokratiefeindlichen Aussagen hat der Politiker auch international für viel Empörung gesorgt. Am 28. Oktober tritt er in der Stichwahl gegen Fernando Haddad von der Arbeiterpartei an – und führt in allen Umfragen mit großem Abstand. Wie konnte es dazu kommen?
Aufstieg und Fall Brasiliens liegen dicht beieinander. In den 2000er Jahren boomte die Wirtschaft im größten Staat Lateinamerikas: Rohstoffexporte spülten jede Menge Devisen in den Haushalt, das Land baute die Agrarindustrie aus und entwickelte sich zum zweitgrößten Nahrungsmittelexporteur der Welt.[1] Schon bald war Brasilien ein gefeierter Global Player und ein treibender Motor des internationalen Wirtschaftswachstums. Mit den Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft konnte die seit 2003 regierende sozialdemokratische Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) Sozialprogramme und steigende Mindestlöhne finanzieren. Millionen von BrasilianerInnen entkamen der Armut, der Hunger konnte fast komplett verbannt werden, mehr Schwarze und Arme schrieben sich, auch dank Quotenregelungen, an den Universitäten ein. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva schied Anfang 2011 mit einer rekordverdächtigen Zustimmungsrate von über 85 Prozent aus dem Amt aus. Diese optimistische, ja geradezu überschwängliche Stimmung ist heute geradezu ins Gegenteil umgeschlagen.
2013 geriet Brasilien aufgrund von Nachwirkungen der Weltfinanzkrise und sinkenden Rohstoffpreisen in eine schwere Wirtschaftskrise. Seitdem befindet sich das Land im Sinkflug. Millionen von BrasilianerInnen sind wieder auf Suppenküchen angewiesen, in den Krankenhäusern fehlen Medikamente, Beamte warten monatelang auf ihre Löhne. Die wirtschaftliche Talfahrt nahm im Jahr 2015 die Form einer schweren Krise des Staates und der Gesellschaft an, als das gigantische Ausmaß der Korruption im Lande ans Licht kam: Abgeordnete fast aller Parteien hatten sich von Unternehmen üppige Schmiergelder für die Zustimmung zu Projekten zahlen lassen. Ein Ermittlungsverfahren von historischer Bedeutung wurde eingeleitet und stürzte das Land noch tiefer ins Chaos. Die Hälfte der derzeit 594 Kongressmitglieder steht unter Verdacht, sich bereichert zu haben.
Symbolhaft für den brasilianischen Abstieg steht der Brand im Nationalmuseum von Rio de Janeiro: Das geschichtsträchtige Bauwerk brannte Anfang September 2018 komplett aus, weil es kein Geld für die Instandhaltung gegeben hatte.
Der janusköpfige Putsch
Auch etliche PT-PolitikerInnen wurden der Korruption überführt. Trotzdem gelang der Sozialdemokratin Dilma Rousseff im Jahr 2014 die Wiederwahl. Angesichts der Krise setzte sie zwar einen neoliberalen Finanzminister ein, doch das ging ihren konservativen Koalitionspartnern nicht weit genug – sie leiteten ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff ein. Tatkräftige Unterstützung bekamen sie dabei von den großen Medienhäusern und einflussreichen Unternehmerverbänden. Massenproteste und eine den Rechten oft wohlgesonnene Justiz taten ihr Übriges. Obwohl es keinerlei Korruptionsvorwürfe gegen Rousseff gab und ihr lediglich Haushaltstricks vorgeworfen wurden, gelang es den Rechten, sie im April 2016 abzusetzen.[2] Die Linke, und auch Rousseff selbst. bezeichnete die Amtsenthebung wiederholt als «parlamentarischen» oder «kalten» Staatsstreich.
Vizepräsident Michel Temer von der Mitte-rechts-Partei PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro – Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) kam an die Macht. Mit Hochdruck setzt der selbst mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontierte Staatschef nun eine neoliberale Schockpolitik durch. Für die traditionelle konservative Elite sollte Temer als Steigbügelhalter dienen. Der Plan: den extrem unbeliebten Temer als Lückenbüßer nutzen, der mit einer brutalen Austeritätspolitik die Weichen für die Zukunft stellt, um anschließend mit einem bürgerlichen Kandidaten die Wahlen zu gewinnen und die PT in die Geschichtsbücher zu verbannen. Dafür musste nur noch die Politikone Lula aus dem Weg geräumt werden. Im Januar 2018 wurde der Ex-Präsident trotz dünner Beweislage in zweiter Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt, im April inhaftiert[3] und Anfang September definitiv von der diesjährigen Wahl ausgeschlossen.[4]
Eigentlich sollte nun der Weg für den Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin von der rechtsliberalen PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira – Partei der brasilianischen Sozialdemokratie), frei sein. Doch dieser Teil des Plans ging nicht auf. Die bürgerlichen Traditionsparteien stürzten bei den Wahlen Anfang Oktober 2018 vollständig ab: Alckmin kam auf gerade einmal 4,8 Prozent der Stimmen. Aber auch andere Kandidaten der bürgerlichen Rechten wurden abgestraft,[5] weil die konservative Elite mindestens genauso tief in die Korruptionsskandale verstrickt ist wie die Arbeiterpartei. Der gesamten politischen Klasse schlägt viel Wut und Ablehnung entgegen. Diese anti-politische Stimmung nutzt ein Mann geschickt aus: Jair Messias Bolsonaro.
Hass als Politikstil
Bolsonaro hat es geschafft, sich als Anti-Establishment-Kandidat zu inszenieren, obwohl der 63-Jährige selbst auf eine lange parlamentarische Karriere zurückblicken kann: Für sage und schreibe neun Parteien saß er 28 Jahre lang als Hinterbänkler im brasilianischen Kongress. In fast drei Dekaden gelang es ihm, gerade einmal zwei unbedeutende Gesetze durchzubringen. Trotzdem ist es dem Politiker aus Rio de Janeiro gelungen, sich im Wahlkampf als unbestechlicher Saubermann und Gegenpol zur korrupten Elite darzustellen. Auch wenn es bislang nicht gelungen ist, ihm persönlich Korruption nachzuweisen, so war er doch elf Jahre lang Abgeordneter einer der korruptesten Parteien Brasiliens.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Bolsonaro im Jahr 2016 bekannt. Bei einer live im Fernsehen übertragenen Abstimmung über die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff widmete er seine Stimme Carlos Alberto Ustra, einem der brutalsten Folterer der Militärdiktatur. Besonders pikant: Ustra hatte auch die junge Widerstandkämpferin und spätere Präsidentin Rousseff gefoltert.
Nun tritt Bolsonaro für die vormals neoliberale Kleinstpartei PSL (Partido Social Liberal – Sozialliberale Partei) an – mit großem Erfolg. Der Rechtsradikale versteht es, den Hass der bürgerlichen Rechten auf die PT anzustacheln und zu seinen Gunsten zu nutzen.[6] So nährt Bolsonaro die Angst vieler BrasilianerInnen vor einem «neuen Venezuela» und einer «Genderdiktatur». Der stramm rechte Politiker führt einen offensiven Kampf gegen die Errungenschaften der PT-Regierungen an: den sozialen Aufstieg von Millionen vormals armen Menschen, das neue Selbstbewusstsein von Frauen, Schwarzen und Homosexuellen. Das kommt bei großen Teilen der Mittel- und Oberschicht gut an, die sich durch die moderaten Reformen der PT vieler Privilegien beraubt sehen.
Unverhohlen hetzt Bolsonaro gegen Minderheiten, politische Gegner und Frauen. Zu einer Abgeordneten sagte er, dass sie es nicht verdiene, vergewaltigt zu werden, weil sie zu hässlich sei. Mehrfach beschimpfte er schwarze BrasilianerInnen und Indigene auf rassistische Weise. Einmal erklärte er, dass er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte. Pünktlich vor der zweiten Runde der Wahl ließ er medienwirksam verlautbaren, die gleichgeschlechtliche Ehe wieder verbieten, die erkämpften Rechte für LGBTI wieder abschaffen und die ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetze verschärfen zu wollen.
Das fundamentalistische Gepolter kommt bei den mächtigen evangelikalen Kirchen im Land gut an. Der Katholizismus befindet sich in Brasilien seit Jahren auf dem Rückzug, die Pfingstkirchler haben großen politischen und gesellschaftlichen Einfluss.[7] Ein Fünftel der Abgeordneten im Parlament zählt sich zur sogenannten Bibel-Lobby. Der evangelikale Sender Record ist das zweitgrößte TV-und Rundfunknetzwerk hinter dem Medienimperium Globo. Außerdem finden die Evangelikalen mit ihren Heilsversprechen viel Zulauf in den vom Staat vernachlässigten Armenvierteln. Der Erfolg Bolsonaros ist ohne die einflussreichen Pfingstkirchen nicht zu erklären.
Chicago liegt in Brasilien
Doch Bolsonaro vertritt nicht nur ultrakonservative, sondern auch neoliberale Positionen. Das Wirtschaftsprogramm stammt maßgeblich aus der Feder von Paulo Guedes, den Bolsonaro zu seinen «Superminister» für Wirtschaft und Finanzen machen will. Guedes ist ein Erzliberaler, wie er im Buche steht: Der Investmentbanker hat an der berüchtigten Chicago-School studiert und für die Militärjunta in Chile gearbeitet. Der 69-Jährige hat Bolsonaro – der offen zugibt, nichts von Wirtschaft zu verstehen – dazu gebracht, seine anfänglich interventionistische Unterstützung für Staatsbetriebe aufzugeben und zum Privatisierungsbefürworter zu werden. Mit Guedes als Minister könnte die neoliberale Kahlschlagpolitik noch ungehemmter ausgeweitet werden. Beim Großkapital und speziell den Finanzmärkten kommt dieser Marktradikalismus gut an: Immer mehr Unternehmer und Finanzgurus üben den Schulterschluss mit Bolsonaro, seine neofaschistischen Ansichten scheinen nicht weiter zu stören.
Der Reservist genießt auch die Unterstützung der mächtigen Agrarlobby, welche die größte überparteiliche Fraktion im brasilianischen Kongress stellt. Bolsonaro hat angekündigt, «keinen weiteren Zentimeter» für indigene Territorien auszuweisen, den Amazonas weiter abzuholzen und Greenpeace aus dem Land zu werfen. Der Klimaskeptiker will außerdem aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen und das Umweltministerium dem Agrarministerium unterstellen, wo reaktionäre Agrarmultis den Ton angeben. Mit seinem bunten Potpourri an umweltfeindlichen Positionen hat Bolsonaro treue Verbündete in der Hauptstadt Brasília und auf den fazendas im brasilianischen Hinterland gefunden. Für UmweltschützerInnen und Indigene könnte der Schulterschluss fatale Folgen haben. Brasilien ist bereits jetzt die tödlichste Region für UmweltaktivistInnnen. Mit einer Präsidentschaft Bolsonaros könnten Landkonflikte und Menschenrechtsverletzungen noch weiter zunehmen.
Das Spiel mit der Angst
Zur unheiligen Allianz Bolsonaros gehören auch WaffenlobbyistInnen, PolizistInnen und Militärangehörige. Mit seinem Ruf nach law and order trifft der Politiker einen Nerv. Brasilien durchlebt eine schwere Krise der öffentlichen Sicherheit, viele Städte versinken in Gewalt. Im vergangenen Jahr 2017 wurden mehr als 63.000 Menschen ermordet – so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Die Mordrate ist mehr als 30-mal so hoch wie in Deutschland.
Auch in der Tourismusmetropole Rio de Janeiro nimmt die Gewalt zu und findet medial große Beachtung. Als Reaktion auf die zunehmenden Konfrontationen zwischen Polizei und Drogengangs ordnete Präsident Temer Anfang des Jahres per Dekret die Intervention des Militärs an. Seitdem liegt das Oberbefehlskommando der «Wunderbaren Stadt» bei den Streitkräften. Die Sicherheitslage hat sich seitdem jedoch nicht verbessert – im Gegenteil: Die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Drogenbanden haben in den letzten Monaten sogar noch zugenommen. Seinen traurigen Höhepunkt fand die Gewalteskalation Mitte März 2018, als die schwarze, linke Stadträtin Marielle Franco offenbar von rechten Milizen auf offener Straße ermordet wurde.
Bolsonaro nutzt die Verängstigung vieler BrasilianerInnen geschickt aus und stößt mit seinen Forderungen nach einer Bewaffnung der Bevölkerung oder der Einführung von Folter und Todesstrafe auf offene Ohren. Die Polizei soll im Stil des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte eine Lizenz zum Töten von mutmaßlichen Verbrechern bekommen. Der brasilianische Philosoph Vladimir Safatle nannte Bolsonaro einen «klassischen Faschisten».[8]
Viele BürgerInnen erhoffen sich von den populistischen Gewaltfantasien eine schnelle Antwort auf die Sicherheitsfrage. MenschenrechtlerInnen befürchten hingegen eine Explosion der Gewalt, sollte Bolsonaro tatsächlich gewählt werden. Insbesondere die arme, schwarze Bevölkerung der Vorstädte wird die blutigen Konsequenzen von Bolsonaros Politik der harten Hand zu spüren bekommen. Dennoch wählen auch viele Arme den rechten Revolverhelden. Wieso?
Der Hang zum Autoritarismus ist in Brasilien nicht ohne die blutige Vergangenheit des Tropenstaats zu verstehen. Die Verbrechen der zivil-militärischen Diktatur von 1964 bis 1985 sind bis heute größtenteils unbestraft, eine wirkliche Aufarbeitung der dunklen Jahre hat nicht stattgefunden. So ist es möglich, dass der ehemalige Fallschirmjäger Bolsonaro ungeniert die Diktatur glorifizieren kann. So ließ er etwa verlauten, dass es der einzige Fehler des Militärregimes gewesen sei, gefoltert und nicht direkt getötet zu haben.[9] Bolsonaros Aussagen sind keine hohlen Phrasen. Aus seiner Verbundenheit zum Militär macht er keinen Hehl: Sein Vize, Hamilton Mourão, ist ein hochrangiger General. Auch weitere Militärs sollen Posten in seinem Kabinett bekommen.
Bei vielen BrasilianerInnen geht die Angst vor einem Rückfall in eine Militärdiktatur um – auch weil Bolsonaro offen antidemokratische Positionen vertritt. Mehrfach hat er in der Vergangenheit erklärt, den Kongress im Falle eines Wahlsieges abschaffen zu wollen. Unlängst verkündete er, «kein anderes Ergebnis» als seine Wahl zu akzeptieren. Bolsonaro will regieren – um jeden Preis. Ein Attentat auf ihn Mitte September 2018 konnte er geschickt für seine Zwecke nutzen: Nachdem ihn ein geistig verwirrter Mann während einer Wahlkampfveranstaltung niedergestochen und schwer verletzt hatte, führte Bolsonaro seinen Wahlkampf über mehrere Wochen vom Krankenbett aus und ließ sich für sämtliche TV-Debatten krankschreiben.
Schmutzige Kriegsführung über das Smartphone
Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump verachtet Bolsonaro die traditionellen Medien und kommuniziert fast ausschließlich über die sozialen Netzwerke. Kein anderer brasilianischer Politiker hat so viele Follower wie Bolsonaro. Gerade WhatsApp spielt eine zentrale Rolle im diesjährigen Wahlkampf: Von den 147 Millionen Wahlberechtigen benutzen 120 Millionen den Kurznachrichtendienst. Studien zeigen, dass ein Großteil der BrasilianerInnen seine politischen Inhalte ausschließlich über WhatsApp bezieht. Während bei Facebook und YouTube bestimmte Inhalte mittlerweile entfernt werden, gibt es bei WhatsApp keinerlei Regulierung. Anonym und ohne rechtliche Konsequenzen können User Gerüchte, Falschinformationen und Hetze verbreiten.
Für die Rechten ist WhatsApp zur wichtigsten Waffe geworden. Insbesondere die PT wird in diesem schmutzigen Online-Krieg attackiert. Wie Recherchen der Tageszeitung Folha de São Paulo zeigen, soll Bolsonaros Wahlkampfteam zusammen mit Unternehmern systematisch Falschinformationen verschickt haben.[10] Die Anschuldigungen gegen die PT sind haarsträubend: Ein geplantes Programm gegen Homophobie an Schulen, das während der PT-Regierung entwickelt worden ist, wurde als Mittel zur «Frühsexualisierung von Kindern» umgedeutet. Unlängst musste die PT erklären, keine Babyfläschchen in Form eines Penis an Kindertagesstätten verteilt zu haben. Solche Falschinformationen haben Millionen von Usern erreicht und viel Schaden angerichtet.
Der Wahlkampf von Bolsonaro stellt die politische Kommunikation auf den Kopf: Es geht ausschließlich um Emotionen und subjektive Wahrnehmungen statt um Fakten oder Argumente. So scheint es für die WählerInnen zweitrangig zu sein, dass Bolsonaros Wahlprogramm lückenhaft ist und der Politiker auf viele Fragen keine Antworten hat. Wenn es nicht um Sicherheit und «Werte» geht, wirkt Bolsonaro erschreckend uninformiert. Das ist wohl auch der Hauptgrund dafür, warum er TV-Debatten mit seinem Konkurrenten Haddad fernbleibt. Die Journalistin Eliane Brum spricht in Abgrenzung zum Konzept des «postfaktischen», auf dem Wahlkampf und Kommunikation Donald Trumps in den USA beruhen, von einer «Selbstwahrheit», die Bolsonaro kreiere: Wahrheit werde radikal subjektiv definiert, Ästhetik habe Ethik verdrängt; Inhalte zählten nicht mehr, sondern nur noch die Art und Weise, wie etwas gesagt werde.[11] Diese Strategie führt auch dazu, dass selbst die extremsten Aussagen, wie etwa Bolsonaros Ankündigung, die Vereinten Nationen zu verlassen, oder seine Bewunderung für Adolf Hitler, seinem Ansehen und seiner Beliebtheit bei den WählerInnen keinen Abbruch tun.
Hoffnung auf den Ersatz-Lula
Der Mann, der Bolsonaro noch schlagen könnte, heißt Fernando Haddad. Nur wenige Analysten hatten dem ehemaligen Bürgermeister von São Paulo Chancen eingeräumt. Denn Haddad ist Politiker der Arbeiterpartei PT, jener Partei also, die tief im Korruptionssumpf steckt und von weiten Teilen der Mittel- und Oberschicht verachtet wird. Nun ist Haddad mit großem Vorsprung vor dem Drittplatzierten Ciro Gomes in die Stichwahl eingezogen. Wie war das möglich?
Es scheint, als wäre wieder einmal die Taktik von Luiz Inácio Lula da Silva aufgegangen. Der Ex-Präsident sitzt wegen Geldwäsche und passiver Korruption hinter Gittern. Für die Linke ist Lula ein politischer Gefangener, für die Rechte der größte Verbrecher in der Geschichte Brasiliens. Der inhaftierte Lula ließ sich so lange als Kandidat aufstellen, bis ein Wahlgericht Anfang September 2018 seine Kandidatur verbot. Danach nominierte er Haddad als Nachfolger mit dem Ziel, möglichst viele Stimmen auf ihn umzuleiten – der Plan ging zunächst auf. Der ehemalige Gewerkschaftsführer Lula ist gerade im armen Nordosten immer noch extrem beliebt. Viele BrasilianerInnen denken sehnsüchtig an die Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs während seiner Regierungszeit zurück.
Haddad, Spross einer libanesischen Handelsfamilie, die in den 1940er Jahren nach São Paulo emigrierte, war unter Lula Bildungsminister. Während seiner Amtszeit schraubte er den Etat für Bildung von vier auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch, gründete Universitäten, führte Stipendienprogramme für sozial schwache Studierende und Quotenregelungen für Minderheiten ein. 2012 gewann er überraschend die Bürgermeisterwahl in der Megametropole São Paulo. Dort drückte er der Stadt vor allem mit Reformen im ökologischen und kulturellen Bereich seinen Stempel auf und entwickelte sich zum Liebling der progressiven urbanen Mittelschicht.
Als Präsidentschaftskandidat ist Haddad jedoch farblos geblieben: Ihm fehlt es nicht nur an Charisma im Vergleich zu seinem Übervaters Lula, sondern auch an uneingeschränktem Rückhalt in der armen Bevölkerung. Mit seinem nüchternen und sachlichen Stil wird es schwer werden, sich gegen den Rechtspopulisten Bolsonaro durchzusetzen. Auch mit einer moderaten Besinnung auf soziale Themen scheint Haddad bei den WählerInnen nicht zu punkten. Bolsonaro stellt sich als fast übermächtiger Gegner dar. Am Aufstieg des Rechtsradikalen ist auch die PT allerdings nicht unschuldig.
Im System angekommen
Obwohl Rechte während der PT-Regierungen regelmäßig «venezolanische Verhältnisse» heraufbeschworen, war die Politik der Partei alles andere als linksradikal oder sozialistisch. Die Partei verteilte die Früchte des Rohstoffbooms etwas gerechter, Millionen von BrasilianerInnen stiegen aus der extremen Armut auf, Hausangestellte bekamen erstmals einige Rechte. Grundlegende Reformen und ein Bruch mit dem Status quo blieben allerdings aus.[12] Stattdessen wurde auf strategische Bündnisse gesetzt: Dem verhandlungsgeschickten Lula gelang es, fast alle politischen und wirtschaftlichen Lager in sein Regierungsprojekt einzugliedern. Mit dieser Bündnispolitik hat die PT aber auch ihre Feinde gestärkt, die sie letztendlich stürzen sollten. Und die Partei zog auch den Zorn vieler Linker auf sich. Umstrittene Großprojekte und das von der PT hofierte Agrobusiness zerstörten weite Teile des Lebensraumes von indigenen Gemeinden und Kleinbauern. Die von der PT ins Land gebrachten Megaevents wie die Fußball-Weltmeisterschaft und Olympia spülten vor allem Geld auf die Konten von Baufirmen. Gleichzeitig wurden Tausende arme BewohnerInnen vertrieben und Proteste brutal niedergeschlagen.[13]
Als die gigantischen Korruptionsnetze aufgedeckt wurden, landete die Partei endgültig auf dem Boden des politischen Establishments. Hat die Partei aus ihren Fehlern gelernt? Nein, bis heute fehlt es in der PT an jeglicher Selbstkritik, oft flüchten sich PolitikerInnen in wirre Verschwörungstheorien. Für viele BrasilianerInnen wurde die PT, die einst mit hohen moralischen Standards angetreten war, zum Symbol für ein korruptes, korrumpiertes System. Davon profitiert nun auch der rechte Scharfmacher Bolsonaro.
Doch wie will die kriselnde Partei den Rechtspopulisten schlagen? Trotz einiger sozialer Akzente lautet auch Haddads Devise im Wahlkampf: Kompromisse statt Klassenkampf. So versucht Haddad angesichts der heraufziehenden Katastrophe, die Reihen hinter sich zu schließen und eine überparteiliche demokratische Front gegen Bolsonaro aufzubauen. Bislang ist er damit aber wenig erfolgreich. Der drittplatzierte Sozialdemokrat Ciro Gomes und Ex-Umweltministerin Marina Silva stellten sich halbherzig auf seine Seite, entschieden tat dies nur Guilherme Boulos von der Linkspartei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade – Partei für Sozialismus und Freiheit). Viele Konservative, wie der ehemalige Bürgermeister São Paulos und Anwärter auf den Gouverneursposten João Doria, unterstützen sogar offen Bolsonaro.
Und dieser versteht es, kurz vor der Stichwahl ungewöhnlich moderate Töne anzustimmen. In einer seiner ersten Ansprachen nach der ersten Runde der Wahlen versicherte er, das Sozialprogramm «Bolsa Família» für die ärmsten Familien nicht abschaffen zu wollen. Die Umfragen sprechen für sich: Bolsonaro könnte einen erdrutschartigen Sieg einfahren. Denn er genießt mittlerweile nicht nur großen Rückhalt unter weißen Männern aus der Mittelschicht, auch viele arme Menschen, sogar immer mehr Frauen, werden ihn wählen. Allerdings schlägt ihm auch viel Ablehnung entgegen.
Wenn aus Worten Taten werden
Eine Woche vor der ersten Wahlrunde demonstrierten Hunderttausende im ganzen Land gegen den Rechtsaußenpolitiker, der von seinen GegnerInnen nur verächtlich als o coiso (das Ding) bezeichnet wird. Der von Frauen ins Leben gerufene Hashtag #elenão ist zum Schlachtruf einer Bewegung geworden. Aber auch die Rechten haben ein enormes Mobilisierungspotenzial – und der Hass Bolsonaros hat auf der Straße blutige Auswirkungen. Landesweit kam zu Übergriffen von Bolsonaro-UnterstützerInnen auf Linke, JournalistInnen und LGBTI.[14] Der Capoeira-Meister Moa do Katendê wurde am Abend der ersten Wahlrunde, am 7. Oktober 2018, in Salvador da Bahia mit zwölf Stichen in den Rücken ermordet, nachdem er erklärt hatte, die PT gewählt zu haben. Am 17. Oktober erstach eine Gruppe von Bolsonaro-Fans eine Transsexuelle in São Paulo nach einer politischen Diskussion in einer Bar. In der südbrasilianischen Hafenstadt Porto Alegre überfielen Unbekannte eine junge Linke und ritzen ihr mit einem Taschenmesser ein Hakenkreuz in den Bauch. AktivistInnen befürchten, dass die Gewalt im Falle eines Wahlsiegs Bolsonaros nicht nur stark zunehmen, sondern auch staatliche Legitimierung erfahren könnte.
Sowohl auf der Straße als auch im Parlament ist ein deutlicher Ruck nach ganz rechts zu verzeichnen. Bei den Kongresswahlen und den Wahlen zu den Landesparlamenten, die zeitgleich zu den Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben, haben harte Rechte so viele Sitze geholt wie nie zuvor. Bolsonaros Minipartei PSL stellt nun nach der PT die zweitgrößte Fraktion. Flávio Bolsonaro, ein Sohn des Präsidentschaftskandidaten, der seinem Vater an Radikalität und Hass in nichts nachsteht, wurde mit den meisten Stimmen in der Geschichte Brasiliens ins Parlament gewählt. Dennoch: Auch Linke konnten Erfolge zu verbuchen. Die PSOL hat die Zahl ihrer Mandate auf zehn verdoppelt. Mehrere schwarze Frauen und die erste Indigene schafften den Einzug in den Kongress, zahlreiche Trans-Frauen den Einzug in Landesparlamente. Ob diese kleinen Hoffnungsschimmer ausreichen, um den starken Rechtsruck aufzuhalten, ist jedoch fraglich.
Wohin steuert Brasilien?
Nicht nur Linke zeichnen ein dunkles Bild von der Zukunft und ziehen historische Vergleiche zu Diktaturen in vergangen geglaubten Epochen. Ist das berechtigt? Ja. Zwar gibt sich Bolsonaro kurz vor der Stichwahl einen demokratischen Anstrich, allerdings gibt es keine Zweifel, was das Ziel seiner Politik ist: Erst vor einigen Wochen forderte Bolsonaro auf einer Wahlkampfveranstaltung, politische Gegner zu erschießen; sein Vize träumt davon, die Verfassung zu ändern, um den Präsidenten mit mehr Macht auszustatten; im Falle eines Wahlsieges werden Militärs Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen; die Bevölkerung soll bewaffnet und eine fundamentalistische und umweltpolitische Wende ohne Rücksicht auf die Rechte von Frauen, LGBTI und Indigenen eingeleitet werden; soziale Bewegungen könnten verboten und Minderheiten mit staatlicher Billigung vom aufgeheizten Mob verfolgt werden. Am 21. Oktober erklärte der Kandidat per Videobotschaft unter anderem: «Diese roten Verbrecher werden aus unserem Heimatland verbannt. Es wird eine Säuberung werden, wie sie in Brasiliens Geschichte noch nie vorgekommen ist […], entweder gehen sie nach Übersee oder sie gehen ins Gefängnis», und an die Adresse Lulas: «Du wirst im Gefängnis verrotten! […] Haddad wird bald bei dir sein, aber nicht nur zu Besuch.»[15]
Die entscheidende Frage im Falle einer Präsidentschaft Bolsonaros wird sein, ob die demokratischen Institutionen wenigsten noch teilweise funktionieren und bestimmten Vorhaben einen Riegel vorschieben können. Falls nicht, steuert Brasilien darauf zu, ein autoritäres Regime werden, in dem Gewalt, Hass und Verfolgung zur Norm werden. So stimmen die BrasilianerInnen am 28. Oktober 2018 nicht nur zwischen zwei Kandidaten ab, sondern über zwei grundlegende Zukunftsmodelle: Demokratie oder Rechtsautoritarismus.
Eine Online-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Niklas Franzen ist Redakteur bei der Tageszeitung neues deutschland. Derzeit ist er in Brasilien, um von der Präsidentschaftsstichwahl zu berichten. Twitter: @niklas_franzen
[1] Chodor, Tom: Neoliberal Hegemony and the Pink Tide in Latin America. Breaking Up With TINA?, Basingstoke 2015.
[2] Dilger, Gerhard: Brasiliens Putschisten wollen die ganze Macht. Motive und Hintergründe für das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 07/2016, unter: www.rosalux.de/publikation/id/8828/
[3] Dilger, Gerhard: Mythos Lula, in: die tageszeitung, 9.5.2018, unter: https://rosaluxspba.org/de/der-mythos-lula/
[4] Löding, Torge: Brasiliens surreale Wahl – Favorit Lula von Gericht gestoppt, Online-Publikation, unter: https://rosaluxspba.org/de/prasidentschaftsfavorit-aus-dem-gefangnis/
[5]Löding, Torge: Brasilien und der «Effekt Bolsonaro», Online-Publikation, unter: www.rosalux.de/en/news/id/39380/brasilien-und-der-effekt-bolsonaro/
[6] Dilger, Gerhard: Demokratie oder Barbarei, in: neues deutschland, 9.10.2018, unter: www.neues-deutschland.de/artikel/1102941.praesidentschaftswahlein-in-brasilien-demokratie-oder-barbarei.html
[7] Oualalou, Lamia: Brasilien liebt Jesus, in: Le Monde Diplomatique, September 2014, unter: https://monde-diplomatique.de/artikel/!284427
[8] Safatle, Vladimir: Um fascista mora ao lado, in: Folha de São Paulo, 18.10.2018, unter: www1.folha.uol.com.br/colunas/vladimirsafatle/2017/03/1863080-um-fascista-mora-ao-lado.shtml#_=_
[9] So im Radiosender Jovem Pam, 8.7.2016, unter: http://jovempanfm.uol.com.br/panico/defensor-da-ditadura-jair-bolsonaro-reforca-frase-polemica-o-erro-foi-torturar-e-nao-matar.html
[10] Mello, Patrícia Campos: Empresários bancam campanha contra o PT pelo WhatApp, in: Folha de São Paulo, 18.10.2018, unter: www1.folha.uol.com.br/poder/2018/10/empresarios-bancam-campanha-contra-o-pt-pelo-whatsapp.shtml
[11] Brum, Eliane: How a homophobic, misogynist, racist ‘thing’ could be Brazil’s next president, in: The Guardian, 6.10.2018, unter: www.theguardian.com/commentisfree/2018/oct/06/homophobic-mismogynist-racist-brazil-jair-bolsonaro
[12] Papacek, Thilo: Rückkehr des Tintenfisches, in: Ada Magazin, Juli 2018, unter: https://adamag.de/wahl-brasilien-lula-da-silva
[13] Franzen, Niklas: Olympia für wen?, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 21/2016, unter: www.rosalux.de/publikation/id/9024/olympia-fuer-wen
[14] A Pública: Apoiadores de Bolsonaro realizaram pelo menos 50 ataques em todo o país, in: A Pública, 10.10.2018, unter: https://apublica.org/2018/10/apoiadores-de-bolsonaro-realizaram-pelo-menos-50-ataques-em-todo-o-pais/
[15] Bolsonaro kündigt «Säuberungen» an, Süddeutsche Zeitung, 23.10.2018, unter: www.sueddeutsche.de/politik/brasilien-bolsonaro-saeuberung-1.4181458
Ein schwarzer Sonntag – die Sehnsucht nach dem starken Mann
In Hessen zieht die AfD mit 13% in den Landtag ein und ist damit in allen Landesparlamenten vertreten.
In Brasilien gewinnt ein Extremkandidat die Wahlen und auch das kann Angst machen.
Was ist los in der Welt?
Warum erstarken überall die rechtsnationalen Extremisten und Populisten?
Woher kommt sie wieder die Sehnsucht nach dem starken Mann?
Der Wunsch danach scheint so groß, dass er blind macht für den Verlust von demokratischen Werten.
Warum entscheiden sich Wähler für die Einschränkung ihrer bürgerlichen Freiheiten entschieden.
Ob bei uns in Deutschland, ob in Holland, in Frankreich, in Österreich, in Ungarn oder in Polen und Italien – überall erstarken die eher undemokratischen Kräfte.
Wer wählt sie und warum?
So mancher Politiker sucht bewusst die Konfrontation. Egomanische Typen befeuern die Spaltung..
Kritik jeder Art wird als Verleumdung abgetan. Stichwort: Lügenpresse.
Mit der Unzufriedenheit wird Politik gemacht. Ängste werden bewusst geschürt.
Hier bei uns brennen dem Wähler eigentlich Themen wie bezahlbarer Wohnraum, Pflege, Kitaplätze, Bildungspolitik, soziale Gerechtigkeit, Klimawandel und öffentlicher Nahverkehr auf den Nägeln.
Das „Problem“ Flüchtlinge ist in den Medien viel präsenter als es in den Köpfen der Bürger.
Da werden Kontroversen künstlich hochgeputscht und ein Volkszorn demonstriert, den es so eigentlich gar nicht gibt.
Jede Seite lebt in ihrem eigenen Mikrokosmos und in ihrer eigenen Informationsblase.
Fakt ist: es gibt unterschiedliche Wahrheiten, genauso wie unterschiedliche Wahrnehmungen.
Was kann man tun?
Vielleicht schafft man es ja mal, die Perspektive zu wechseln, sich in das Gegenüber hinein zu versetzen und in den Dialog zu kommen.
Man darf sich nicht auf einfache Antworten einlassen. Man sollte Informationen aus möglichst verschiedenen Quellen sammeln, bevor man sich eine Meinung bildet.
Ansonsten: mitwirken, sich einmischen, wo immer es möglich ist, damit das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit überwunden werden kann.
Klar, das kann in manchen Ländern lebensgefährlich sein. Es gibt viele Menschen, die es trotzdem tun, die sich nicht einschüchtern lassen und auch bei Repressalien für ihre Meinung einstehen.
Großer Respekt dafür. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.