vonMarcus Christoph 24.06.2024

latin@rama

Seit 2008 Nachrichten vom anderen Ende der Welt und anderswoher.

Mehr über diesen Blog

Ein Hauch von Buenos Aires weht über den Platz vor dem Kanzleramt. Rund 200 meist argentinische Demonstrantinnen und Demonstranten haben sich am späten Sonntagvormittag bei heiterem, aber nicht zu heißem Juni-Wetter im Berliner Regierungsviertel eingefunden. Sie wollen gegen den Besuch ihres Staatsoberhauptes Javier Milei bei Bundeskanzler Olaf Scholz demonstrieren.

Zu hören sind Parolen und Gesänge, die von regierungskritischen Manifestationen in Argentinien bekannt sind. Besonders häufig wird „Milei basura, vos sos la dictadura“ (wörtlich: „Milei, Du Abfall, Du bist die Diktatur“) angestimmt. Ein Schlachtgesang, der schon auf Mileis Vor-Vorgänger im Amt, Mauricio Macri, häufige Anwendung fand. Trommeln und auch das für Protest in Argentinien typische Schlagen auf Kochtöpfen begleiten die ausdauernden Chöre der Anwesenden. Es fehlt eigentlich nur noch der Duft von „Choripán“ in der Luft, dem Bratwurst-Brötchen, das auf keiner der zahlreichen Demos in Argentinien fehlen darf. Ansonsten könnte die Veranstaltung von der Atmosphäre her auch auf den Straßen von Buenos Aires stattfinden.

Die Stimmung vor dem Kanzleramt ist friedlich, aber auch von einer natürlichen Bestimmtheit gekennzeichnet. Man merkt den Protestierenden an, dass sie aus voller Überzeugung hierher gekommen sind. Sie warten gespannt auf die Ankunft des „Kettensägen-Präsidenten“, wie zuletzt die Bild-Zeitung formuliert hatte.

Ezequiel Monteros

Organisator der Veranstaltung ist Ezequiel Monteros. Der 45-jährige Argentinier lebt seit elf Jahren in Deutschland und ist hier Vorsitzender von „HIJOS“, einer Organisation, die gegründet wurde von Personen, deren engagierte Eltern(-teile) während der letzten argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) ermordet wurden. Argentinien sei unter Milei zu einem „Laboratorium der internationalen Ultra-Rechten geworden, das die alten neoliberalen Rezepte der Chicago Boys anwendet“, beklagt er sich bei seiner Ansprache und erntet Beifall. Milei und seine Regierung leugneten die Verantwortung des Staates für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so Monteros mit Blick auf Mileis Umgang mit der Militärdiktatur.

Gegenüber Latin@rama erläutert der Organisator die Motive der Demonstration näher: „Wir sind hier, um die Anwesenheit Mileis in Deutschland zurückzuweisen.“ Dabei bezieht sich Monteros auf die am Tag zuvor erfolgte Preisverleihung der Hayek-Gesellschaft für Milei in Hamburg: „Wir denken, dass es unangemessen ist, dass ein Präsident, der die natürlichen Ressourcen seines Landes verkauft, der den sozialen Frieden im Land gefährdet und Massenarmut verursacht, der den öffentlichen Sektor unterfinanziert und Geld für Bildung und Gesundheit kürzt, hier einen Preis verliehen bekommt.“

An die Adresse von Olaf Scholz (SPD) gerichtet, sagt der Aktivist: „Mit so einem Präsidenten, der den Staat hasst, darf man sich nicht treffen.“ Milei mache mit seiner Politik genau das Gegenteil von dem, wofür das heutige Deutschland mit seinen Grundwerten stehe. „So jemanden darf man nicht legitimieren“, meint Monteros, der auch daran erinnert, wie Milei gerade Sozialdemokraten verunglimpfte. Milei hatte bei seiner Rede im Januar beim Weltwirtschaftsforum in Davos Sozialdemokraten, aber auch Christdemokraten, mit Nazis und Kommunisten in einen Topf geworfen, da sie allesamt „Kollektivisten“ seien.

Lirolay Rocío Moyano

Eigens mit dem Bus aus Amsterdam zur Demo angereist ist Lirolay Rocío Moyano. Die Argentinierin, die angibt, dass während der Militärdiktatur ihre ganze Familie ausgelöscht worden sei, redet Klartext: „Ich protestiere gegen alles, was Milei in Argentinien macht.“ Er mache Argentinien zu einer neuen Kolonie und verhökere das Land. Die Menschen hätten immer weniger Rechte, die scharfen sozialen Einschnitte der Regierung stünden nicht im Einklang mit der argentinischen Verfassung. Kurzum: „Was Milei macht, ist wirklich fürchterlich.“ Besonders quer im Magen liegt Moyano, die übrigens nicht zur argentinischen Gewerkschafter-Dynastie gleichen Nachnamens gehört, dass die Regierung Milei die verurteilten „Massenmörder“ der Diktatur freilassen wolle.

Mileis Vizepräsidentin Victoria Villaruel, die aus einer Familie hochrangiger Militärs stammt, setzt sich für eine Revision der Geschichtsschreibung ein mit dem Ziel, die Verbrechen der Militärs zu relativieren bzw. zu verneinen. Milei selber hatte wiederholt die von Menschenrechtsgruppen angenommene Zahl von 30.000 Diktaturopfern in Frage gestellt. Zum jüngsten Diktatur-Gedenktag (24. März) hatte seine Regierung den Staatsterror relativiert und sich dafür ausgesprochen, auch die Vertreter des Militärregimes mit in das Gedenken einzubeziehen, die bei den von Guerilleros verübten Attentaten ums Leben kamen.

Sandra Feferbaum-Siemsen

Ein solcher Umgang mit der Geschichte gefällt auch Sandra Feferbaum-Siemsen nicht. Ihr sozialdemokratischer Urgroßvater war nach dem Reichstagsbrand vor den Nazis geflüchtet und fand später in Argentinien Exil. Sandra lebt seit einem Jahrzehnt in Deutschland und setzt einer Relativierung von Massenmord ein entschiedenes Nein entgegen. Darauf müsse man besonders in Deutschland aufmerksam machen, wo ja bekanntlich auch die Leugnung des Holocausts unter Strafe steht.

„Milei und seine Leute leugnen Staatsverbrechen. Es kann nicht angehen, dass so jemand durch die Gegend reist und Diplomaten ihm die Hand reichen“. Milei dürfe man keinen Preis geben. Er zerstöre Argentinien mit seiner Politik, die zu mehr Hunger und Armut führe und mit der Streichung von Bürgerrechten einhergehe, so die Aktivistin. „Wir fordern zudem die Freilassung der bei den Protesten am 12. Juni vor dem Senat festgenommenen Demonstranten“, so Feferbaum-Siemsen. Die Zusammenstöße mit der Staatsmacht ereigneten sich, als Milei sein Privatisierungsprogramm im Oberhaus des Kongresses zur Abstimmung brachte. Vier der Festgenommenen seien immer noch in Haft, was öffentlich kaum bekannt sei.

Dass Milei in Argentinien zerstörerisch wirke, meint auch Graciela. Die Argentinierin, die nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden möchte, meint, der Präsident verkaufe mit seiner Politik das Land und zerstöre elementare Rechte auf Bildung, Gesundheit, Arbeit und Wohnung.

Erst im Februar hatte Milei den Kongress, also die demokratisch gewählte Volksvertretung der argentinischen Republik, als „Rattennest“ bezeichnet. Und was auch immer Milei unter dem von ihm wie ein Mantra verwendeten Begriff der Freiheit genau verstehen mag – Presse- und Meinungsfreiheit sind es sicher nicht. So ließ er zu Beginn des Jahres die traditionsreiche staatliche Presseagentur Télam schließen und Hunderte von Mitarbeitern im staatlichen Rundfunk vor die Tür setzen. Reine Symbolpolitik, denn die staatlichen Medien kosteten den Staat lediglich 0,017 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wie eine ZDF-Recherche jüngst ergab.

Foto: Vincent Havel

Mileis Abneigung gegenüber der Presse hatte auch Auswirkungen auf das Programm seines Besuchs in Berlin. So sei auf Wunsch des argentinischen Präsidenten die gemeinsame Pressekonferenz mit Scholz abgesagt worden, wie es deutscherseits hieß. Dass Journalistinnen und Journalisten kritische Fragen stellen könnten, dies wäre wohl schon zu viel der Freiheit. Entsprechend wenig drang von dem einstündigen Arbeitsgespräch nach draußen. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte, dass Scholz sich bei dem Gespräch für mehr Sozialverträglichkeit bei den Wirtschaftsreformen in Argentinien stark gemacht habe. Bereits am Freitag hatte Hebestreit angedeutet, dass mit Milei nicht gerade ein Gesinnungsgenosse den sozialdemokratischen Kanzler besuchen werde. „Man kann sich in der Weltpolitik nicht aussuchen, mit wem man es zu tun hat.“

Das Verhalten Mileis überrascht auch eine weitere Teilnehmerin der Demo in Berlin überhaupt nicht: „Milei hält seine Meinung für die einzig Richtige“, sagt die Psychologin aus Buenos Aires, die namentlich nicht genannt werden will. Menschen gegenüber, die nicht so denken wie er, verhalte sich Milei aggressiv und demütigend. „Der Andere ist dann ein Feind, den man mit der Motorsäge vernichten muss.“ Milei fühle sich wie ein Messias, spreche mit seinem verstorbenen Hund, sei stets misstrauisch und völlig größenwahnsinnig. Ihre Diagnose fällt eindeutig aus: „Ein schwerkranker paranoider Mensch.“

Was mag der kühle Norddeutsche Scholz über seinen Gesprächspartner gedacht haben?

Nach dem Gespräch der Staatslenker kommt es vor dem Kanzleramt zu einer kurzen Begegnung zwischen dem argentinischen Präsidenten und seinen Landsleuten – mit Sicherheitsabstand, versteht sich. Die Menschen sehen durch das Metallgitter der deutschen Regierungszentrale hindurch, wie Milei – von Scholz begleitet – das Gebäude verlässt. Bevor er in die auf ihn wartende Staatskarosse steigt, reckt er seine Arme kurz huldvoll in die Höhe. Er wirft den pfeifenden Demonstranten einen Blick zu, der aus der Entfernung eher spöttisch wirkt.

Ohne von der Menge Notiz zu nehmen, betritt dann auch kurz Karina Milei, die in der argentinischen Verfassung nicht vorgesehene Schwester des Präsidenten, die Szenerie. Die 51-Jährige, die als engste politische und einflussreichste Beraterin ihres Bruders gilt, taucht sofort ins Auto ab. Der Konvoi von Motorradstaffel und Limousinen dreht dann noch eine Runde um die Rasenfläche zwischen Kanzleramt und den Abgeordnetengebäuden. Die Menge pfeift und buht solange, bis die Fahrzeuge aus dem Blick geraten. Ein sonniger argentinischer Vormittag in Berlin geht zu Ende.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/was-milei-macht-ist-wirklich-fuerchterlich/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Argentinien ist durch die Herkunft der Mehrzahl seiner Einwohner das „europaeischste“ Land in ganz Lateinamerika (zusammen mit dem benachbarten Uruguay). Die meisten Einwanderer in Argentinien waren arme Maenner von Sueditalien. Sie heirateten einheimische Mestizinen der Spanier und Indianerinen. Nur wenige Frauen kamen von Europa nach Lateinamerika: Das hat alle Lateinamerikaner gepraegt. Die ersten einheimischen Ahnmuetter waren ueberall Indianerinen mit der geduldigen Meinung ueber ihren Spanier : „Na ja, der ist eben so !“. Die Portugiesen waren entspannter . In Nordamerika, auch im Norden der USA waren es die entspannten Franzosen welche als Pelzkaeufer in den Siedlungen der Indianer mit Indianerinen lebten. Wie ueberall in Lateinamerika wurden auch in Argentinien afrikanischen Sklaven „importiert“. In Argentinien sind ihre Nachkommen heute in der Bevoelkerung eingemischt. Im Westen Argentinien leben weiterhin Indigenenvoelker. Aber das Wesen der sueditalienischen Landarbeiterklasse ist im politischen Wesen vieler Argentinier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert