„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“, heißt es. Doch trifft das Sprichwort in post-faktischen Settings wirklich noch zu? Anfang Juni garantierte die bolivianische Regierung noch die Volkszählung im Jahr 2022. Nur einen Monat später war deren Durchführung angeblich nicht vor 2024 machbar (siehe Operation Macht I). Über zwei Millionen Dollar für eine Medienkampagne zahlte die Regierung, um die neue Sichtweise in der öffentlichen Meinung zu verankern. Und diejenigen, die einen Zwischentermin für 2023 forderten, wurden von Regierungsvertreter*innen als Putschisten bezeichnet.
Ein häufig von Präsident Luis Arce Catacora geäußerter Vorwurf für alle, die Proteste gegen seine Politik organisieren. Vor den Wahlen 2020 hatte er mit Rücksicht auf Stimmen aus der politischen Mitte die Übergangspräsidentschaft von Jeanine Añez noch als verfassungsgemäß bezeichnet.
Kaum gewählt sollte der inflationäre Gebrauch der Bezeichnung der Regierungsübernahme seiner Vorgängerin als Staatsstreich wohl dazu beitragen, die frühere Anerkennung ihrer Regierung durch das Verfassungsgericht und auch durch die eigene Partei in Vergessenheit geraten zu lassen.
Facebook warnt vor Fake News des Regierungskanals
Fakten sind dabei weniger wichtig, als den Anhänger*innen in der eigenen Medienblase das Gefühl zu vermitteln, auf der richtigen Seite zu stehen. Für Angriffe auf Oppositionelle, unabhängige Journalist*innen und für die Verbreitung der eigenen Position beschäftigt die Regierung auch sogenannte „Digitale Krieger“. Die Viralisierung von Falschmeldungen ist allerdings kein Privileg der Regierung. Selbst renommierte Journalisten wie Carlos Valverde verbreiteten beim jüngsten Konflikt ungeprüft Fake News, wie das aus Brasilien stammende Foto einer Frau, der ein Polizist Tränengas ins Gesicht sprüht.
Unabhängige Medien werden durch die Vergabe von Anzeigen unter Druck gesetzt. Denn Staat und Staatsunternehmen machen den Löwenanteil des Anzeigenvolumens aus. Und wenn kritische Journalist*innen bedroht werden, dann schweigt die Regierung und die Polizei bleibt tatenlos. Im bolivianischen Staatsfernsehen sind unabhängige Einschätzungen Mangelware. Moderatorinnen und Moderatoren bewerten die ausgewählten Nachrichten permanent im Sinne der Regierung. Meinungen von Oppositionellen oder den internationalen Gremien der Vereinten Nationen kommen nur vor, wenn sie den Regierungsdiskurs verstärken.
Jüngst erschien auf Facebook der Warnhinweis, verschiedene Beiträge des Staatssenders Bolivia TV auf der Internetseite seien gemäß unabhängigen Prüfungen Falschmeldungen gewesen. Die Regierung antwortete, es handele sich dabei um Äußerungen zum Thema COVID.
„Morde, eine Gruppenvergewaltigung und Kriminalität an den Blockadestellen überfordern die Polizei“, titelte die staatliche Nachrichtenagentur ABI einen Beitrag vom 10. November. Die angebliche Gruppenvergewaltigung durch Blockierer, so die zuständige lokale Behörde später, war ein leider häufig zu beklagender Fall von Vergewaltigung in einem Privathaus. Der eine Mord laut Vermutungen der Regierung ein Bandenkonflikt, der andere ein Motorradfahrer, der in ein zur Sperrung der Straße aufgespanntes Seil gefahren und dabei umgekommen war. Die von Präsident Arce verbreitete Meldung eines „rassistischen Übergriffs“ auf eine Ayoré-Gemeinde, bei der Wohnungen der indigenen abgebrannt worden seien, wurde auch in der deutschen Presse wiedergegeben. Tatsächlich hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe von Ayoréode gegeben, die die Straße blockiert hatten, und einer Gruppe um den Subgouverneur von Concepción, die diese Blockade aufzulösen versucht hatte. Die Etiketten „Mörder“, „Rassisten“, „Vergewaltiger“ dienen hier allerdings mehr dazu, die Proteste zu delegitimieren, als diskriminierende oder Gewaltstrukturen zu durchbrechen und die Durchsetzung von Menschenrechten zu fördern. Die Regierung zögert dabei auch nicht, die Anführer der Streiks persönlich für solche vermeintliche wie tatsächliche Straftaten verantwortlich zu machen.
Mit der halben Wahrheit die Wirklichkeit verfälschen
Auch die halbe Wahrheit verfälscht die Wahrnehmung. In seiner jüngsten Regierungserklärung unterschlug der Präsident, dass die geringe Inflationsrate mit staatlichen Subventionen und einer rasant steigenden Staatsverschuldung erkauft wird. Da wird ein Rückgang der Rate der Arbeitslosigkeit von 4,5 auf 4,2% gelobt, aber verschwiegen, dass die meisten Menschen informell tätig sind, dass nur weniger als ein Fünftel der Arbeitenden sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und ihr Anteil in der Regierungszeit der MAS deutlich abgenommen hat. Auch geht der Anstieg des Exports von verarbeiteten Produkten nicht so sehr auf eine vermeintlich erfolgreiche Industrialisierungspolitik zurück, sondern zum größten Teil auf Gold und Soja. Diese Produkte werden nur wenig weiterverarbeitet und haben deshalb einen geringen Wertschöpfungsgrad durch die Verarbeitung. Sie richten dafür aber um so größere Schäden für die Umwelt an.
Vor der Menschenrechtskomission der Vereinten Nationen erklärte die bolivianische Botschafterin, man achte das Abkommen von Minamata zur Reduzierung des Quecksilber-Einsatzes in der Bergwerkswirtschaft. Man schütze und garantiere das Recht auf eine gesunde Umwelt. Dabei hat der Quecksilbereinsatz in Bolivien seit dem Abkommen drastisch zugenommen. Und der Sonderbeauftragte hatte gerade die Tatenlosigkeit der Regierung diesbezüglich beklagt. NRO hatten stark erhöhte Quecksilberwerte bei Blut- oder Haaranalysen in indigenen Gemeinden dokumentiert.
Es gebe auch heute noch ausländische Interessen, so Arce jüngst vor Aymaras im Altiplano, die es auf „unsere Reichtümer“ abgesehen hätten. Namen nannte er nicht. Dabei hatte seine Regierung, statt die illegale Bergwerkswirtschaft zu kontrollieren, gerade diese zerstörerische Art von Goldausbeutung entgegen anderweitiger Verpflichtungen selbst in Naturschutzgebieten erleichtert. Kooperativen produzieren steuerbegünstigt 99 Prozent des bolivianischen Goldes, gehen aber gesetzeswidrig Joint Ventures mit ausländischen Konzernen ein. Darunter sind auch chinesische Staatsunternehmen.
In der Goldabbauregion gibt es laut dieser lesenswerten Reportage in „El Deber“ nicht nur chinesisches Kapital, sondern auch chinesische Vorarbeiter und Fahrzeuge mit chinesischem Nummernschild. Auf eine Nachfrage des Autoren des Beitrags in El Deber antwortete das Bergbauministerium, es sei nicht zuständig, um Informationen zum Thema weiterzugeben.
Grabenkämpfe in der Regierungspartei
Diejenigen Medien in Deutschland, die gewohnt waren, Äußerungen der MAS ungeprüft wieder zu geben, bekommen allerdings Probleme in der Berichterstattung, seit in der „Bewegung zum Sozialismus“ heftige Grabenkämpfe aufgebrochen sind. Es benötigt anscheinend keine Oppositionsvertreter*innen mehr, um den Innenminister zu beschuldigen, den Drogenhandel zu schützen statt zu bekämpfen, den Bauminister als korrupt zu bezeichnen, oder die eigene Partei zu beschuldigen, Gelder von einem Drogenhändler angenommen zu haben. Eigentlich ein Tatbestand, wegen dem der Partei die Zulassung entzogen werden könnte. Der Chef der Wahlbehörde sah es allerdings nicht einmal für nötig an, die Echtheit des vorgelegten Dokumentes zu bezweifeln, in dem der Vizeparteichef sich für die regelmäßigen Zahlungen bedankt. Er erkenne nichts, was zu beanstanden wäre, so Oscar Hassenteufel.
Und so versuchen sich diverse Abgeordnete der MAS auch dadurch zu profilieren, dass sie sich gegenseitig vorwerfen Faulpelze zu sein, die auf Kosten des Staates leben und diktatorische Verhaltensweisen an den Tag legen. Oder die jeweils anderen Seite wird beschuldigt, mit dem Gouverneur von Santa Cruz Luis Fernando Camacho gegen die eigene Partei zu konspirieren. Manche gehen dabei auch zu Faustschlägen über, die bislang den Kollegen der Oppositionsparteien vorbehalten waren. So dass nun selbst die regierungsnahe Tageszeitung „La Razón“ von einer Spaltung der Partei spricht, nicht mehr von lebendiger innerparteilicher Demokratie.
Der Versuch, politische Relevanz durch Medienpräsenz zu erzeugen
Besonders aktiv im Streit ist auch Parteichef Evo Morales. Was den Umgang mit der Wahrheit betrifft, ist er bekannt geworden durch die Anerkennung eines Sohnes, den es wahrscheinlich nie gegeben hat, durch die Bekräftigung, die Mutter und Ex-Freundin nach dem angeblichen Tod des Kindes nie mehr danach gesehen zu haben, obwohl sie mit ihm auf Karnevalsfotos zu erkennen war. Bekannt wurde er auch durch ein mehrfach wiederholtes und mehrfach gebrochenes Versprechen, nicht mehr bei Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen und sich „mit einer 15jährigen“ auf seinen Acker in den Chapare zurückzuziehen… Trotzdem ist sein Wort für viele immer noch der Maßstab aller Dinge. Er habe nie Wahlbetrug begangen und sei aus dem Amt geputscht worden, gehört zum argumentativen Standardrepertoir auch seiner Partei.
Morales heutige Äußerungen scheinen angesichts sinkender Zustimmung aus der Bevölkerung mehr darauf angelegt, Resonanz zu erzeugen, um sich als künftiger Präsidentschaftskandidat zu positionieren, als darauf, zur Aufklärung oder Lösung der aktuellen Konflikte beizutragen. Carlos Mesa, Hauptkonkurrent bei den Wahlen 2019, ist ein bevorzugtes Ziel seiner Anschuldigungen. Dieser „Putschist“ habe 2019 die Brände in den Wahlgerichtshöfen angeordnet, um seine These vom Wahlbetrug zu rechtfertigen und nun wolle er die Brandstifter am Sitz des Kleinbauernverbandes von Santa Cruz decken. Bekanntlich hatte die damalige Regierung Morales vor dem Brand der Wahlbehörde – so wie diesmal wieder – die Polizei von dem gefährdeten Objekt abgezogen (zur Konfliktdynamik siehe auch den zweiten Beitrag der Reihe Operation Macht).
Der Präsident unter medialem Beschuss des eigenen Parteichefs
Inzwischen ist aber vor allem die aktuelle Regierung Objekt der Kritik von Evo Morales. Er habe den Präsidenten schon vor langem auf die Korruption im Bauministerium aufmerksam gemacht. Der habe aber nichts getan. Er habe Arce auch frühzeitig gewarnt, dass die seiner Ansicht nach politisch motivierte Verschiebung der Volkszählung große Probleme verursachen würde.
Eine Sondereinheit des Militärs (von Morales in seiner Amtszeit zur Kontrolle der Opposition gegründet) verfolge ihn. Es gebe einen schwarzen Plan, um ihn mit Korruption und Drogenhandel in Verbindung zu bringen und so sein Ansehen zu schädigen. Morales ehemaliger Innenminister Carlos Romero setzte noch einen drauf: Dieser Plan werde zwischen der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA und einer Instanz der bolivianischen Regierung koordiniert. Ziel sei es, Morales zu eliminieren, da der die Volksmassen in Bolivien zusammen halte.
Im März hatte der Kokabauernführer die bolivianische Antidrogenpolizei beschuldigt, in seiner politischen Hochburg, dem Chapare, Drogenfabriken beschützt zu haben, um ihm dafür verantwortlich zu machen. Als der vermutliche Gewährsmann öffentlich machte, dass der Evo Morales nahe stehende Vizeminister für Drogenbekämpfung daran beteiligt war, die Operation gegen ein Drogenlabor zu stoppen, ersetzte politische Schadensbegrenzung zumindest zeitweise den Frontalangriff auf die Regierung.
Schweigen ist Gold
Damals stellten die Gerichte die weitere Behandlung des Falles unter Geheimhaltung. Dies geschieht meist, wenn es zu brisant wird, wenn die Anzeigen überhaupt aufgenommen werden. Die Häufung der Vorwürfe und Meldungen führt jedoch zu Abstumpfung. Ein Skandal jagt den anderen. Eine halbe Million Dollar Bestechungsgelder, ein illegaler Kokamarkt, Korruption in der Bergbaubehörde oder die Folter in Polizeigewahrsam werden zu Bagatellen, zu denen Präsident Arce in der Regel überhaupt nicht Stellung nimmt. Das hilft dabei, keine Halbwahrheiten sagen zu müssen. Und es stärkt bei dem politikmüden Teil der Bevölkerung das Image des Staatslenkers.
Denn der scheint so über solchen Niederungen des Parteienstreits zu stehen. Und auch wenn die Akzeptanz für Demagogie und Fake-News recht hoch scheint, solange sie den eigenen Vorurteilen entsprechen: Ein wenig kratzt das doch an der Glaubwürdigkeit. Und so scheint auch in post-faktischen Zeiten ein anderes Sprichwort noch zu zuzutreffen: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Dies zumindest für den im innerparteilichen Mediengetümmel zurückhaltenderen Präsidenten Luis Arce, dessen Zustimmungswerte in den Meinungsumfragen kaum unter den allgemeinen und noch weniger unter den innerparteilichen Konflikten leiden.