vonGerhard Dilger 19.01.2023

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Von Noah Hierl

Die 51-jährige Ana Choque, eine indigene Bäuerin aus der Region Puno, umarmt ihren 26-jährigen Sohn Jaime, der zur Demonstration gegen die zentrale Regierung in Lima am Donnerstag, den 19. Januar,  fährt. Die Augen der Frau sind feucht. Der Bus fährt inmitten der jubelnden Masse ab. Wird ihr Sohn zurückkommen?

Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf den Titicacasee, der Geburtsstätte der Inkas. Die peruanische Seite ist das Brennpunktgebiet der sozialen Konflikte gegen die Zentralregierung in Lima. Seit der ehemalige Präsident Pedro Castillo im Dezember abgesetzt wurde, als er versuchte, den Kongress zu entmachten und per Dekret zu regieren, sind mehr als 50 Menschen bei Protesten ums Leben gekommen. Die Demonstrant:innen fordern den Rücktritt der Interimspräsidentin Dina Boluarte und eine neue Verfassung.

Morgens holt mich William Colque an der bolivianischen Grenze ab. Seitdem der Streik die Straßen im Süden Perus eingenommen hat, ist er damit beschäftigt, Reisende aus Yunguyo an der Grenze abzuholen, die mit dem Boot nach Puno weiterfahren wollen. Alle Straßen sind blockiert, und für eine Strecke, die normalerweise zwei Stunden mit dem Auto dauert, kann man Tage brauchen.

Er erzählt mir, dass in Yunguyo selbst, der selbsternannten Hauptstadt der Aymara-Kultur, alle Stadtteile mit Straßenblockaden gesperrt sind. Wir kommen an einer vorbei, die von etwa fünf Anwohnern bewacht wird. „Sie kennen mich, deshalb lassen sie mich durch“, erklärt er. Er setzt mich neben dem Boot ab, wo mir die Verkäuferin 70 Soles für das Ticket berechnet und fährt zurück zur Grenze.

Am Ufer des Sees sehe ich zwei junge Leute, die sich unterhalten und auch darauf warten, dass das Boot nach Puno ablegt. „Mein Vater ist im Streik, er fährt heute Abend auch nach Lima, um gegen die Regierung zu protestieren“, sagt einer von ihnen. „Am Anfang gab es viele Freiwillige, die nach Lima fahren wollten, aber es hat schon 50 Tote gegeben; sogar ich habe Angst“, antwortet der andere. Das Gespräch wurde durch einen Anruf seiner Mutter unterbrochen.

Am Donnerstag, den 19. Januar 2023, werden Protestzüge aus dem ganzen Land gegen die derzeitige Regierung zu einer großen Demonstration in Lima zusammentreffen. Von einigen Gemeinden werden nur so genannte kommunale Vertreter mitfahren, von anderen wird ein Vertreter pro Haushalt erwartet. Schließlich legten wir mit zweieinhalb Stunden Verspätung kurz vor Mittag ab.

Das Boot durchbricht die Stille des höchsten schiffbaren Sees der Welt. Ich unterhalte mich mit einer Gruppe von einheimischen Mitreisenden, die halb Spanisch, halb Aymara reden, über den möglichen Ausgang des Streiks. Luciano Mamani, der auf dem Weg zur Arbeit nach Puno ist, meint, dass die Proteste nur aus dem Süden des Landes kommen. Um jedoch die Regierung oder den Kongress zu stürzen oder die Verfassung zu ändern, müsste sich der Norden, ebenfalls zusammenschließen, meint er.

Ein anderer Passagier aus der nördlichen Stadt Trujillo, der mit Waren unterwegs ist, erklärt: „Mein Bruder hat mir erzählt, dass dort (im Norden des Landes) alles ruhig ist, Sie wissen schon, sie unterstützen Keiko dort“. Keiko Fujimori, Tochter des inhaftierten Ex-Diktators Alberto Fujimori, Vorsitzende der konservativen Opposition, die 2021 die Wahl mit der Differenz von 0,4 Prozent der Stimmen gegen Pedro Castillo verlor, ist noch eine derjenigen, gegen die sich die Proteste richten.

Nach fünf Stunden Fahrt erreichen wir schließlich den Hafen von Puno. Anders als sonst sind keine Touristen auf dem Weg zu den Uros-Inseln, einer lokalen Attraktion. Einige Bootsführer bieten Führungen für weniger als die Hälfte des normalen Preises an. Der Streik hat den Tourismussektor hart getroffen, der sich noch nicht von den Auswirkungen der Pandemie erholt hatte.

Ein Bootsführer sieht mich irritiert an, als ich nach der Ausländerbehörde frage und erklärt: „Es ist das Tor dort, sie sollten um fünf Uhr nachmittags öffnen, es ist fast sechs Uhr und sie sind immer noch nicht gekommen. So läuft das hier mit den staatlichen Behörden, und das wirft auch ein schlechtes Bild auf den Tourismus. Wenn sie uns nicht das mindeste zur Verfügung stellen, wird natürlich gestreikt“.

Der durch den Streik verursachte schwere wirtschaftliche Schaden hält diesen Bootsführer und seine anwesenden Kollegen nicht davon ab, ihn zu unterstützen und sich den Protesten anzuschließen. Ich verabschiede mich von dem Bootsführer und nutze die Wartezeit, um als nun illegaler Einwanderer den Steg zu besichtigen.

Die Lage in dem Hafen ist ziemlich aussichtslos. Einige Familien sind unterwegs, ein paar Fischrestaurants geöffnet, aber die meisten Geschäfte für Touristen und Reisende bleiben geschlossen. Viele haben Schilder zur Unterstützung des Streiks aufgestellt, obwohl dieser kurzfristig deren Geschäft schadet. „Cierre del Congreso“ (Schließung des Kongresses), „Nuevas elecciones“ (Neuwahlen) oder „Dina asesina“ (Dina, Mörderin) – in Bezug auf die derzeitige Präsidentin Dina Boluarte, sind auf diesen Plakaten in geschlossenen Handwerksläden und Restaurants für Touristen zu lesen. Endlich sehe ich die Grenzbeamten ankommen. Ich beeile mich, denn ich habe weniger als zwei Stunden Zeit bis zur Ausgangssperre, die um 20 Uhr beginnt.

Gleich danach verlasse ich das Hafengebiet in einem sogenannten Torito, einem Motorradtaxi, dessen Scheibe schwer zerkratzt ist. „Sieh nur, was sie mit meiner Scheibe gemacht haben“, protestiert der Fahrer. Gleichzeitig gesteht er mir: „Ich hoffe, dass sich die Lage bald beruhigt, die Präsidentin muss zurücktreten“. Wir nähern uns einer großen Allee, auf der der Verkehr zum Stillstand gekommen ist. Es findet eine Demonstration mit rot-weißen peruanischen und schwarzen Flaggen zum Gedenken an die Opfer der Proteste statt. Ich zahle ihm vier Soles und steige ab, um mir die Demonstration anzusehen.

„¡El pueblo unido jamás será vencido!“ – das vereinte Volk wird niemals besiegt – , höre ich die Rufe von Frauen mit breiten Hüten, als ich mich nähere. Sie schauen alle in eine Richtung und warten auf herannahende Busse. Ich frage zwei von ihnen nach dem Grund der Versammlung. „Wir verabschieden uns von denen, die in Lima demonstrieren werden, wer weiß, ob sie alle zurückkommen!“ In etwas mehr als einem Tag sollten sie in Lima ankommen. Von hinten schreit ein Mann: „¡Dina asesina!“ (Dina, Mörderin!) Die Fahrzeuge nähern sich, der Jubel der etwa dreitausend Menschen nimmt zu. Auf den Bussen werden Kisten und chullos, Andenhüte, bereitgestellt, um Spenden für die Kosten der Reise zu sammeln. Männer und Frauen mit entschlossenen Blicken grüßen die Menge aus den Bussen. Eltern kommen nach vorne und umarmen ihre Kinder. Es ist bereits nach acht Uhr. Die Straßen sind noch voll. Der Bus wird schneller. Auch ich hebe meine Hand und winke.

Werden sie alle zurückkommen?

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