102 Frauen und 17 Männer aus 15 Dörfern der Jalq’a-Gemeinde Potolo haben sich zwischen Juli 2023 und März 2024 auf Initiative der Frauenrechtsorganisation Centro Juana Azurduy aus dem bolivianischen Sucre bei mehreren Gelegenheiten getroffen, um über die Veränderungen in ihrem Leben und ihrer Kultur nachzudenken. Die Ergebnisse sind in einer spanischsprachigen Veröffentlichung mit dem Titel „Frauen, die widerstehen“ mit beeindruckenden Fotos von Simón Ávila Benavides dokumentiert (die hier abgerufen werden kann). Im Folgenden übersetzen wir für Latinorama Auszüge des Berichts mit einem Schwerpunkt auf den Folgen Klimakatastrophe. „Wir Frauen haben den Klimawandel nicht verursacht. Aber wir sind seine größten Opfer“, heißt es in der Veröffentlichung.
vom Frauenkollektiv Potolo
Die Talebene von Potolo liegt etwa 3000 Meter hoch über dem Meeresspiegel. Und obwohl sie nur 58 Kilometer von der Stadt Sucre entfernt ist, dauert die Fahrt über kurvenreichen Bergstraßen um die drei Stunden.
„Ich wünschte mir, die Zeiten kämen zurück, als wir uns noch gegenseitig unterstützt haben, wir waren glücklich, die Aussaat war von Musik und den Opfern (für die Mutter Erde) begleitet. Deshalb war auch die Ernte gut und reichte für das ganze Jahr“, erinnert sich eine der Frauen aus Potolo. In den 15 Dörfern leben heute noch etwa 1000 Menschen. Das liegt daran, dass die jungen Leute fortgehen, sobald sie können.
Vor allem wir Frauen bleiben zurück: Mütter von kleinen Kindern oder Jugendlichen und auch Großmütter, die sich um ihre Enkel kümmern. Die Söhne ziehen fort, unsere Brüder und zu bestimmten Zeiten auch unsere Ehemänner, und wir Frauen kümmern uns dann alleine um die Kinder, die Tiere und Äcker.
Dabei sind wir sehr abhängig von der Arbeitskraft der Männer. Nicht nur bei der Aussaat, sondern auch, weil sie Geld verdienen, wenn sie das Dorf verlassen. Manche bleiben einige Monate fort, während wir uns an das Leben alleine gewöhnen. Wir essen dann das, was wir eingelagert haben und kaufen das Nötigste mit dem Geld, das sie uns schicken oder zurückgelassen haben. Wenn das Geld aufgebraucht ist, verkaufen wir unsere Hühner, verkaufen Käse und Eier.
Manche bauen am Haus auch Gemüse an. Wenn die Männer zurückkommen, fällt das erneute Zusammenleben manchmal schwer. Auch die Kinder sind nicht mehr an die Anwesenheit der Väter oder Großväter gewöhnt. Deshalb verlangen wir auch schon gar nicht mehr, dass sie sich mit um die Erziehung kümmern. Früher gab es in unseren Dörfern eine Arbeitsteilung: Die Frauen kümmerten sich um die Kinder und die Tiere, die Männer haben den Acker bearbeitet und die Richtung vorgegeben. Nachdem sich die Last immer weiter zu den Frauen verlagert hat, war nicht mehr daran zu denken, ob das nun gerecht oder nicht sei. Deshalb nehmen die Ängste und Sorgen zu, denn häufig fehlt nicht nur das Geld und Information, sondern auch die Möglichkeit die Entscheidungen zu treffen und wirtschaftlich unabhängig zu sein, um die ganze Last auf unserem Rücken besser zu ertragen.
Die Folgen des Klimawandels
Seit 15 Jahren hat sich das Klima verändert und seit etwa acht Jahren hat sich die Situation verschärft. Es ist viel zu heiß geworden. Wenn wir arbeiten, werden wir schnell müde. Die Erde ist ausgetrocknet. Weil es zu wenig regnet, fehlt Wasser. Und nur mit Wasser kann man gut Ackerbau betreiben. Wenn es regnet, kommen die Kartoffeln auf jedwedem Boden zum Blühen. Dann macht es Freude, über die Felder zu gehen. Aber ohne Regen ist die Ernte mager.
Wenn es nicht mehr regnet und noch Wasser im Fluss ist, wechseln wir uns ab, um die Felder zu bewässern. An einem Tag wird der Kanal für ein Dorf geöffnet, am folgenden für ein anderes. Aber wenn eine Familie viel Land hat und viel Wasser verbraucht, kann es sein, dass das Wasser für die anderen nicht mehr ausreicht. So kommt es trotz unserer Absprachen für eine gerechte Verteilung, bisweilen zu Ärger und Streit.
Obwohl manche Familien Tanks haben, um Wasser zu sammeln, helfen die nicht viel, wenn es nicht regnet. Früher haben wir die Tiere zu den Bächen geführt um sie zu tränken. Heute müssen wir sie mit Leitungswasser versorgen.
Aber die Leitungen sind auch trocken, wenn es nicht regnet. Hinzu kommt, dass es am Sacobaya-Fluss aufwärts an der Grenze zu Potosí Bergwerkskooperativen gibt. Wenn wir unsere Felder mit Wasser aus dem Sacobaya gießen, verfärben sich die Blätter der Pflanzen gelb. Auch das Vieh kann krank werden, wenn es dieses Wasser trinkt.
Manchmal hagelt es oder es gibt Frost, obwohl es noch gar nicht Winter ist. Es sieht so aus, als ob die Mutter Erde sich von all dem befreien will, was sie krank macht. Deshalb ist das Wetter so aggressiv und verursacht Katastrophen. Den richtigen Zeitpunkt für die Aussaat müssen wir erraten und es riskieren. Denn die Zeichen der Natur – wie die Winde oder der Gesang und das Verhalten der Tiere – helfen uns nicht mehr. Im vergangenen Jahr haben diejenigen, die zur üblichen Jahreszeit gesät haben, fast die ganze Produktion verloren, weil es nicht rechtzeitig geregnet hat. Nur diejenigen, die spät ausgesät haben, konnten die Verluste noch kompensieren.
Manche hoffen, dass die Ernte auch wieder einmal gut ausfallen wird
Das verursacht nicht nur Stress, sondern macht uns auch traurig und antriebslos. „Früher wurden die Maiskolben groß und wir konnten sie verkaufen. Heute ernten wir nur noch kleine Maiskolben, um sie selbst zu essen. Und nicht einmal dafür reicht es manchmal. Dann wissen die Mütter nicht, was sie tun sollen“, so eine Frau aus Huayllapampa. Wir kommen gerade so über die Runden, obwohl manche von uns Frauen immer noch Hoffnung haben, dass die Ernte wieder einmal gut sein wird.
Früher haben wir nur gegessen, was auf unseren eigenen Feldern gewachsen ist: Frische Nahrungsmittel ohne Pestizide. Reis, Nudeln, Zucker oder Süßigkeiten kannten wir nicht. Die Leute waren dadurch kräftiger und gesünder. Unsere Kinder ernähren sich heute anders. Sie sind krankheitsanfälliger und viele haben nicht genug Kraft, um das Feld zu bestellen.
Unsere typische Kleidung ist seit Jahrhunderten Teil unserer Kultur. Die Kleidung ist auch Ausdruck davon, wie man denkt, fühlt, die Welt sieht und das Leben versteht. Es ist eine Art, sich mit dem einzuhüllen, was unsere Mutter Erde produziert. Früher haben wir schon als Mädchen gelernt, wie man spinnt, färbt und webt. Dieses Wissen wurde von Generation zu Generation weitergetragen. Wir Frauen aus Potolo haben immer gewebt, um unsere Familien einzukleiden: Decken um uns wärmen, und feine Wollstoffe für Blusen, Hosen oder Hemden; Tragetücher, Axsus (Umhänge), Taschen, Mützen, Ponchos oder Säcke, um die Ernte einzuholen. Mit dem Weben haben wir unserer Sprache und Kultur Leben gegeben. Denn Frauen und Männer haben gearbeitet, getanzt, gesungen und gefeiert, stolz darauf Jalq’as zu sein, sich als Jalq’a zu kleiden und zu denken.
Mit so viel Geschicklichkeit zu weben, war nicht nur ein Handwerk sondern Kunst. So wurden die Jalq’a-Webereien berühmt. Man schaute auf unser Können. Wir haben auch an die Stadtbewohner*innen und an Touristen verkauft. Mit den Einnahmen haben wir das Saatgut bezahlt. Und mit den Ackerfrüchten hatten wir zu essen.
Heute fällt es uns schwer zu weben. Es benötigt Zeit und ist aufwendig. Allein das Rohmaterial zu bekommen: Man muss viele Schafe haben, die Wolle scheren, waschen, spinnen, färben und dann weben. Dieses alte Handwerk ist auch durch den Klimawandel verloren gegangen. Denn weil es nicht genug regnet, gibt es weniger Weiden und wir können nicht so viele Schafe ziehen. So gibt es auch weniger Wolle. Und weil auch die Ernte sonst nicht so gut ist, müssen wir so viel organisieren, dass uns kaum Zeit, aber auch Energie bleibt, uns an den Webstuhl zu setzen. Um kreativ zu sein, muss man Kraft, Energie, Freude und Inspiration haben. Doch meist fühlen wir uns erschöpft.
Die Tourist*innen bleiben weg
„Wir weben auch nicht mehr so viel, weil wir uns selbst nicht mehr traditionell kleiden“ erklärt eine Frau aus Huancarani. „Wir produzieren Armbänder und Taschen, auch für Mobiltelefone. Aber heute ist das vergeblich, denn es lässt sich nicht mehr verkaufen. Früher haben wir die Waren nach La Paz und andere Regionen verschickt.“ Und in Potolo erzählen sie: Vor Jahren hat meine Mutter in einer der Gruppen gewebt (die von der Nicht-Regierungsorganisation ASUR organisiert wurden). Damit hat sie uns Kinder durchgebracht, denn die Webereien wurden an Touristen verkauft. Wenn die Touristen zu uns kamen, haben wir manche Wandbehänge für bis zu 1200 Bolivianos verkauft (umgerechnet etwa 150 Euro). Aber jetzt kommen die Touristen nicht mehr in den Ort. Jedenfalls nicht zum übernachten. Kaum sind sie da, fahren sie schon wieder weg.
Die Abwanderung unserer Kinder kann temporär oder endgültig sein. Wir können sie davon auch nicht abhalten. Wenn die Ernte nicht mehr dafür ausreicht, ihnen zu essen zu geben, müssen sie fortgehen, um irgendeine Arbeit zu finden. Die temporäre Migration geschieht am Jahresende in der Zeit der Schulferien. Dann senkt sich Stille über unser Dorf. Nur noch die Kleinen bleiben in Begleitung ihrer Mütter und Großmütter in Potolo. Früher war es nicht nötig, zu migrieren. Die Produktion reichte, um uns zu ernähren, Nahrungsmittel zu speichern und auch noch zu verkaufen. Aber jetzt ist das nicht mehr so. Die jungen Burschen gehen fort, wenn die Schule beendet ist. Manchmal für immer.
Die Kinder kommen wie Fremde zurück ins Dorf
Wegen der Krise, die wir in Potolo durchmachen, wollen unsere Kinder nicht mehr bleiben und wir bleiben alleine mit der Sorge für alles zurück: Unsere Tiere, unsere Felder, unsere Ernten. Die Manche Angehörige kommen zur Aussaat oder Erntezeit ins Dorf zurück. Dann helfen sie uns und gehen dann wieder fort. Sie kommen wie Fremde, nur zu Besuch. Andere kommen überhaupt nicht mehr.
Vor allem jüngere Frauen gehen fort. Aber in der Stadt ist das Leben auch nicht einfach. Wir sind dort meist nicht erwünscht und werden diskriminiert. Unsere Kinder wollen deshalb dort auch kein Quechua mehr sprechen und schämen sich zu sagen, dass sie der Jalq’a Kultur angehören. Viele Verwandte trennen sich dort von ihren kulturellen Wurzeln. Es ist aber sehr traurig, ohne die eigene Identität zu leben. Und wenn sie zurück ins Dorf kommen, zeigen sie uns die Dinge, die sie gekauft haben, um zu zeigen, dass es ihnen so besser geht. Manchmal, wenn es auf ihrer Reise in die großen Städte nicht so gut gelaufen ist, fordern sie aber auch wieder ein Stück Land für sich.
In der Stadt würden uns die Bäume und der Himmel fehlen und vielleicht müssten wir in dunklen Zimmern leben. Viele unserer Männer trinken dort Alkohol. Sie geben uns dann nicht einmal Geld und behandeln uns schlecht. Da man in der Stadt ohne Geld nichts zu essen bekommt, widmen die Frauen sich dem Kleinhandel. Manchmal bleiben die Kinder unter der Obhut von anderen, manchmal tragen sie sie dabei auf ihrem Rücken. Die älteren Frauen würden auch nicht so arbeiten können wie die jüngeren, man würde uns außen vor halten. Deshalb wollen viele von uns das Dorf nicht verlassen. Selbst wenn es Streit und Diskussionen gibt und es mal laut wird wegen dem Wasser für die Felder. Im Dorf leben wir ohne Miete aufbringen zu müssen und wir haben auch einigermaßen zu essen. Wir haben schließlich das Land, das wir bebauen können. Hier ist unser Zuhause.
Von der kleinbäuerlichen zur Furchenlandwirtschaft
Wer sonst sollte sich um die Felder und Tiere kümmern? Und die kleinen Kinder können wir ja auch nicht alleine lassen. Eine Doppel-, manchmal auch Dreifachbelastung. Und nach der ganzen Arbeit bleibt am Ende kein Verdienst übrig. Wir sehen unsere Kinder aufwachsen und dann weggehen. Wenn sie bleiben würden, würden aber die von uns produzierten Nahrungsmittel nicht für alle reichen. Sie gehen nicht nur, weil sie das gerne wollen und Freiheit suchen, sondern um leben zu können.
Es gefällt ihnen sicher auch nicht, fern ihrer Familie zu leben. Aber es bleibt nichts anderes übrig. Sie sagen uns: „Baut nur für euch die Nahrungsmittel an, für uns reicht es nicht mehr“. Und dann ziehen sie fort. Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wenn wir im Dorf mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft hätten, könnten wir vielleicht auch dem Klimawandel besser widerstehen und mehr Nahrungsmittel produzieren. Aber wenn die Kinder blieben, bekäme jedes auch ein viel kleineres Stück Land. Der Boden reicht einfach nicht für alle. Manche haben gerade einmal 20 Furchen. Deshalb ist es nach der Landverteilung durch die Agrarreform (im Jahr 1953) von der kleinbäuerlichen heute zur Furchenlandwirtschaft gekommen.
Die Migration führt dazu, dass wir Frauen sehen, wie unsere Familien zerbrechen und dass die Kinder die Tage zählen, bis sie von hier fortgehen. Und das ohne die Hoffnung, wieder zusammen leben zu können. Aber wenn wir auch noch fortgehen würden, wer würde sich dann um das Land kümmern?
Nachbemerkung: Die Frauen von Potolo, die sich an der partizipativen Forschung beteiligt haben, haben auch Vorschläge, wie sich die Situation wieder verbessern könnte: Neben mehr Selbstverwaltung (bislang gehört Potolo zum städtischen Munizip von Sucre) und ihrer stärkeren Berücksichtigung bei den Entscheidungen, geht es dabei u.a. um Aufforstung, damit wieder mehr Regen fällt, einen Ausbau der Wasserspeicher, eine verbesserte Wasserverteilung. Zahlreiche Vorschläge zielen aber auch auf die Stärkung ihrer kulturellen Wurzeln und damit verbunden auch die Förderung des Tourismus nach Potolo.
Calixta Flores Colque und 22 weitere Frauen: Warmis en Resistencia, Efectos del cambio climático en la vida de mujeres en Potolo, Auswertung des Datenmaterials und Text: Soledad Domínguez, Fotos: Simón Ávila Benavides, herausgegeben vom Centro Juana Azurduy, Sucre 2024