vonGerhard Dilger 06.02.2023

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Von Noah Hierl

Ich treffe die Geschichtsstudentin Leonela Labra, die Vorsitzende der Universitätsföderation von Cusco, in einer Wohnung voller Studierender in Lima. Die Matratzen nehmen den gesamten Boden ein. Die Besitzerin hat ihr Haus für die Delegation geöffnet, die aus dem Landesinneren zu den Protesten nach Lima kommt. Die Proteste gegen die Regierung in Peru dauern nun schon seit fast zwei Monaten an und die Zahl der Todesopfer hat bereits die 60 überschritten. Leonelas Augen sehen erschöpft aus.

N.H. Die Proteste in Peru dauern nun schon seit fast zwei Monaten an. Wie kam es zu dieser starken Bewegung?

L.L. Sie begannen mit den Todesfällen in Andahuaylas, und nach Weihnachten wieder mit den Toten in Ayacucho und Puno. Und wir sagten: Hey! Als sie in Lima zwei Menschen töteten, hatten wir einen neuen Präsidenten. Und im Süden des Landes sterben Menschen, und niemand sagt, dass diese Leben wichtig sind. Mit anderen Worten, die Frage der Ungerechtigkeit, denn es war nicht nur ein Toter, es waren nicht zwei. Und selbst wenn es einer gewesen wäre, hätten wir meiner Meinung nach jedes Recht gehabt, uns darüber zu beschweren.

Aber wie hat es konkret für euch, die Student:innen, angefangen?

Wir haben spät reagiert. Wir hatten in unserer Universität ein internes Problem, nämlich die Absetzung des Rektors in Cusco. Außerdem haben wir auf nationaler Ebene bereits während der Regierung Castillo protestiert, weil das Universitätsgesetz im Kongress umgestürzt wurde.

Was verlangen die Studierenden also von Präsidentin Dina Boluarte?

Dass sie zurücktritt. Nur so sind Präsidentschaftswahlen möglich. Außerdem müssen die Verstorbenen oder die Angehörigen respektiert werden, Gerechtigkeit erfahren. Dina und der Kongress, der sie schützt, sind verantwortlich. Was fordern wir also? Präsidentschafts- und Kongresswahlen. Und natürlich eine neue Verfassung, um uns vor dem Unrecht zu schützen, das jetzt geschieht.

Warum seid ihr aus Cusco, wie andere Delegationen aus dem Landesinneren, den ganzen Weg nach Lima gekommen?

Sie bedrängten uns, sie belästigten unsere Anführer, sie schickten uns Nachrichten, dass sie uns töten wollten, dass sie uns einschüchtern wollten, sie nannten uns Kriminelle, alles. Da haben wir uns aufgeregt und gesagt: Schaut mal, auf regionaler Ebene haben wir fast ein ganzes Jahr lang gekämpft und nichts erreicht. Dann kam es auch in Puno zu schweren Repressionen, und es gab etwa 17 weitere Tote.

Dass Menschen getötet werden, einfach so, gegen was auch immer sie protestieren, gerecht oder ungerecht, es gibt keine Möglichkeit, einen Tod zu rechtfertigen. Das Schlimmste aber ist, dass in Puno ein Arzt getötet wurde, als er einen Verwundeten behandelt hat. Entschuldigung, aber wo sind wir? Also sagten ich und viele Kommiliton:innen, dass wir nach Lima fahren müssen. Es gibt keine andere Möglichkeit, damit sie uns zuhören können.

Wie war der Empfang bei eurer Ankunft?

Einige aus Cusco blieben an der Universität von San Marcos, andere an der UNI (Universidad Nacional de Ingeniería) Die Studenten aus San Marcos hatten die Universität übernommen, damit wir auch dorthin gehen konnten. San Marcos ist der Ort, von dem ich dir erzählen wollte. Die Rektorin erlaubte der Polizei, meine Kommiliton:innen zu unterdrücken und zu demütigen. Ich denke, dass sie mit dem gesamten Polizeiaufgebot jederzeit zu Fuß hätten geräumt werden können, aber nicht so, denn sie wurden wie Terroristen, wie Drogenhändler, wie das schlimmste organisierte Verbrechen der Welt behandelt.

Und diese Unterdrückung hat dich auch betroffen? Es gibt ein Video, das sich in den Netzwerken und in der Presse verbreitet hat, in dem sie versuchen, dich in ein Polizeiauto zu setzen. Was genau ist dort passiert?

Wir waren in Cusco und Dina hielt dort eine Pressekonferenz ab. Ihr Besuch war improvisiert und schlecht gemacht, und das verärgerte die Bevölkerung. Sie wollte ihre Präsenz außerhalb Limas zeigen, hatte aber keine soziale Organisation eingeladen. Es gab also einen Sitzstreik, aber wir und einige meiner Kolleg:innen waren beim Frühstück, und die Polizei erkannte uns. Sie fingen an, mich zu bedrängen, und ein Polizist kam und machte sich über mich lustig. Wie ich schon sagte, hatten wir zuvor gestreikt, und während eines Streiks trat ein Polizist gegen den gemeinsamen Kochtopf.

Und er ging an meiner Seite vorbei und sagte zu mir: Du Terroristin, erinnerst du dich an den Topf? Als er sich über mich lustig machte, sagte ich zu ihm: Geh du und wasche die Töpfe für Dina. Und er wurde wütend, ich meine, er wurde wütend, er war ein Oberst oder so. Dann sagte er: Ja, verhaftet sie, setzt sie in den Polizeiwagen.

Als sie mich an den Haaren zogen, sah ich das Dach des Wagens, das wie ein Geländer aussah. Ich habe mich am Geländer festgehalten und bin nicht eingestiegen. Und ich erinnere mich, dass sie mich an den Füßen gezogen haben. Wenn ich gewalttätig gewesen wäre, hätte ich ihm ins Gesicht treten können, aber nein, denn ich habe mich nur gewehrt. Und als dann die Presse kam, ließen sie mich gehen und wollten nicht, dass sie mich filmen. Und das Schlimmste war, dass sie mich gefesselt haben. Das ist etwas, was ich mir nie im Leben hätte vorstellen können. Ich habe der Presse gesagt, ich habe nichts getan. Es war einfach eine politische Verfolgung.

Und wie beurteilst du nun die Unterdrückung der Proteste hier in Lima? Spürst du die Unterdrückung stärker, weil du eine Studentenführerin bist?

Seitdem wir an der UNI waren, standen immer zwei Polizeiwagen vor der Tür. Dann verließen wir die UNI, denn bei so viel Polizeipräsenz war es gefährlich. Ich fühlte mich ziemlich bedroht an dem Tag, als sie vor der Tür des Hauses standen, in dem ich vorher war. Und ich war gerade erst angekommen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatten die dort Anwesenden noch keine Probleme mit der Polizei gehabt. Ich kam an, und dann gleich die Polizei, sie blieben direkt vor der Tür stehen. Da rastete ich aus, denn ich erkannte, dass das wegen mir war, nicht wegen den anderen.  Einige Tage zuvor hatten sie einen meiner Kollegen geschlagen, bedroht und gefoltert, sie haben sie ihn zwei Tage lang in einer kalten Zelle festgehalten.

Ich war besorgt, denn wenn man eine Anführerin ist, selbst wenn man sich selbst organisiert, stehen im Falle der Opfer, die Studenten sind, Dritte, Eltern, hinter ihnen. Außerdem sind wir jung, wir haben noch ein Leben vor uns.

Hast du denn jetzt keine Angst, dich an den Protesten zu beteiligen?

Sehr sogar, aber es ist eine Verantwortung, die man übernimmt, und was auch immer passiert, man muss dabei sein. Bei mir war es so, dass meine Mutter, als ich kam, nichts davon wusste. Ich meine, ich lebe in Cusco, ich lebe nicht bei meiner Familie.  Aber ich habe ich gesagt, na ja, ich muss gehen, weil es keine andere Möglichkeit gibt… und die Angst überwinden, denn es gibt keinen anderen Weg.

Als wir hier ankamen, war ich besorgt, vor allem wegen meiner Lehrveranstaltungen. Meine Mutter hat herausgefunden, dass ich in Lima war. Ich meine, am Anfang haben mich meine Eltern nicht unterstützt, sie waren eher wütend. Ich meine, warum bist du dort? Was willst du erreichen? Was willst du mit deinem Studium und so weiter. Und ich sagte, das war’s, ich bin hier. Ich leite die Delegation, und ich kann auf keinen Fall jemand anderem die Verantwortung dafür übertragen.

Und dann sahen meine Eltern, dass es eine Anstrengung war, dass wir hier waren, und sie beschlossen, uns zu unterstützen. Und ich glaube, dass meine Mutter mir vor kurzem die moralische Unterstützung gegeben hat, die ich brauchte, um zu sagen: Nun, wenn du an einem Ort bist, an dem du gefoltert wirst, dann kann das passieren. Ich werde glücklich sein, obwohl ich natürlich nicht will, dass meine Tochter gequält wird oder leidet. Wenn sie dir die Möglichkeit geben, in Würde zu sterben, dann tust du das. Ich meine, ich war… Ich meine, als ich meiner Mutter zuhörte, dachte ich: Sie wollte nicht, dass ich in Lima bin, und jetzt sagt sie zu mir, wenn du irgendwann gefoltert wirst oder so, dann bitte sie, keine Feiglinge zu sein und dich zu töten? Dann habe ich ihr gesagt: Nein, Mama, ich will leben.

Zum Schluss: Was würdest du den Studierenden anderswo sagen?

Ihr müsst euch der Wirklichkeit eurer Universität, eurer Gesellschaft, eures Landes bewusst sein. Und was in Peru geschieht, kann euch natürlich nicht verborgen bleiben. Bitte verliert die Realität nicht aus den Augen!

Leonela Labra kommt aus Espinar in der Region Cusco, wo sich die Landbevölkerung gegen Bergbauprojekte wehrt.

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