Genau vor einer Woche um 2 Uhr 35 argentinischer Zeit starb Papst Franzikus. Am selben Abend feierten die Bewohner:innen des Armenviertels 21-24, von denen viele Jorge Mario Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires erlebt hatten, das Leben ihres „größeren Bruders“, wie der Priester der Hauptstadtgemeinde Santa Cruz zu sagen pflegt. So funktioniert die „Volkstheologie“, die durch Franziskus einen Aufschwung in ganz Lateinamerika nahm.
Die Pfarrkirche der Jungfrau der Wunder von Caacupé ist brechend voll. Dutzende Frauen beten voller Inbrunst den Rosenkranz, dann werden Tische hin- und hergerückt und die Schiebetür zur Gemeindehalle nebenan geöffnet. Lorenzo de Vedia, ein prominenter Armenpriester aus Buenos Aires, hat sein weißes Ornat angelegt und lädt die draußen Stehenden nach vorne. Schließlich ist der Altar umringt von Gläubigen. Es ist, als wäre das gesamte Viertel gekommen, um sich von Papst Franziskus zu verabschieden.

Die Menschen trauern, beten und singen, sie feiern aus ganzem Herzen das Leben von Jorge Mario Bergoglio, anderthalb Stunden lang. „Franziskus schaut uns vom Himmel aus zu“, ruft Padre Toto, wie sie ihn hier nennen, „er bleibt unser Verbündeter, er weiß, dass wir seinen Weg weitergehen“. Und er erinnert daran, wie Franziskus 2013 in Brasilien die Jugend der Welt aufgerufen hat, aufzustehen, auf die Straße zu gehen und sich einzumischen, „damit die Kirche keine Nichtregierungsorganisation wird“.
Seine Predigt ist ein einzige Hommage an Franziskus, der „seine Mission als Papst mit angezogenen Stiefeln“ beendet habe. „Uns schmerzt, dass er von uns gegangen ist“, sagt der Endfünfziger, „zugleich sind wir froh, dass Jesus ihn an Ostern im Himmel begrüßt hat“. Nun sei es an allen, die Lehren von Franziskus umzusetzen, die in dessen Worten, Gesten, Taten, Enzykliken und Predigten festgehalten sind.
Den Papst kennen hier viele persönlich. Als Erzbischof von Buenos Aires war er immer wieder mit dem Bus nach 21-24 gekommen, eines der berühmt-berüchtigten Armenviertel im Süden der argentinischen Hauptstadt. Hier wohnen vor allem Migrant:innen aus Paraguay und ihre Kinder. Die Jungfrau aus Caacupé, einem Vorort der Hauptstadt Asunción, verehren viele von ihnen.
Olga López kam als junges Mädchen nach Buenos Aires. Heute hat sie die zerknitterte Doppelseite eines Magazins mitgebracht. Auf dem Farbfoto wäscht Bergoglio ihrem Sohn die Füße. Die Frau erzählt, wie der Bischof die damaligen Gemeindepriester bei der Gründung eines Heims unterstützte, in dem ihr junger Sohn von der Crack-Abhängigkeit geheilt wurde. Gleichzeitig organisierten sie Nähkurse für die Mütter der betreuten Jugendlichen.
Auch heute wird das Viertel durch die Kirchengemeinde mit ihrer Schule zusammengehalten. Vier Frauen organisieren jeden Tag die Essensausgabe für die Bedürftigsten. Es gibt Hühnerschnitzel mit Reis, einem Brötchen und einem Apfel. Vor dem schlichten Haus unweit der Jungfrauenkirche hat sich eine Schlange gebildet. „Wir bekommen genau mit, wie die Armut zugenommen hat“, sagt Fabiana de la Fuente, „viele Leute lassen einfach eine Mahlzeit ausfallen“. Auch mehr Arbeitslosigkeit und Drogenhandel gebe es, seitdem der ultrarechte Präsident Javier Milei im Amt sei, berichten die Frauen.
Umso wichtiger sind die Musikkurse und andere Aktivitäten des „Clubs“, die Padre Toto und sein junger Kollege Jesús Carides mit den aktiven Laien von Caacupé organisieren. „Wir setzten auf Kapelle, Schule und Club, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße, im Gefängnis oder auf dem Friedhof landen“, erklärt Padre Jesús, nachdem er in für die Schüler:innen der angrenzenden Pfarrschule eine Gedenkmesse für den Papst abgehalten hat.
Der Endzwanziger ist im Viertel Bajo Flores groß geworden und hat Bergoglio, der ganz in der Nähe wohnte, immer wieder auf Jugendtreffen erlebt. „Als Erzbischof war er ganz nah an den Leuten und hat den Armen die Botschaft von Jesus Christus verkündet“, sagt er, „und als Papst war er ein Netzwerker, ein Brückenbauer, ein Mensch, der sich immer für den Frieden eingesetzt hat.“ Von ihm und anderen Priestern der Armenviertel, den „curas villeros“, habe er gelernt, auf die „organisierte Gemeinschaft“ zu setzen.

Noch mehr schwärmt Toto de Vedia über Franziskus: „Er war ein außergewöhnlicher Mensch, ein engagierter Priester, ein brillanter Bischof und ein Papst, der aller Erwartungen übertroffen hat“, sagt der dynamische, stets gut gelaunte Kirchenmann, nachdem er sein Fahrrad weggeräumt hat. „Franziskus hat jene Kirche geschaffen, von der wir lange geträumt hatten, aber von der wir lange glaubten, sie würde nie existieren – eine Kirche als wagemutige Verteidigerin der Armen“.
Als Papst habe er neue Wege geöffnet, betont de Vedia, aber die katholische Kirche „hat nun einmal ihre Geschichte, und sie ändert sich nur sehr langsam, das geht nicht per Dekret“. Franziskus habe alles dafür getan, dass der Zölibat eines Tages abgeschafft werden kann, davon ist er überzeugt. Etliche seiner Landsleute hätten ihre Probleme mit dem argentinischen Papst gehabt: „Viele, die seine Wahl begrüßt haben, mochten ihn nicht mehr so, als sie gesehen haben, welchen Kurs er eingeschlagen hat. Aber mit der Zeit werden sie ihn besser verstehen.“
Um neun Uhr abends ist die Messe zu Ehren von Franziskus zu Ende. Wenige Kilometer weiter erstrahlt das Konterfei des Papstes auf dem Obelisken von Buenos Aires, zusammen mit einem seiner Lieblingssätze: „Betet für mich.“
Zuerst erschienen auf Zeitzeichen.net
Am Samstagvormittag verabschiedeten sich Tausende Menschen, überwiegend aus den Armenvierteln und Vorstädten von Buenos Aires, von Franziskus vor der Kathedrale und auf der Plaza de Mayo, nachmittags die Fans „seines“ Vereins San Lorenzo. Andere Argentinier:innen, darunter auch konservative Kirchenleute, blieben distanzierter.

Aus einem Porträt, das ich vor zwei Monate für den Freitag geschrieben habe:
Der Jesuit, der vor zwölf Jahren den stockkonservativen Bayern Joseph Ratzinger beerbt hatte, gilt in Argentinien als Peronist mit sozialer Ausrichtung. Seit 80 Jahren scheiden sich an der nach dem Mussolini-Bewunderer Juan Domingo Perón benannten, extrem heterogenen Bewegung die Geister. Unumstritten ist höchstens, dass ihre Mitglieder meistens eher als die der politischen Mitte, der traditionellen Rechten oder gar der Ultrarechten für die Reste des von Perón begründeten Wohlfahrtsstaates einstehen.
In der Santa-Cruz-Kirche des Viertels San Cristóbal in Buenos Aires betet man seit Wochen für die Gesundheit von Jorge Mario Bergoglio, wie der Papst mit bürgerlichem Namen heißt. Innerhalb der katholischen Kirche war diese Gemeinde stets der Linken zugetan. Hier wurden Ende 1977, in den finstersten Zeiten der Militärdiktatur (1976-83), zwölf Aktivist:innen entführt, anschließend gefoltert und ermordet, darunter zwei französische Nonnen.
Als Bergoglio Erzbischof von Buenos Aires geworden war, mied er allerdings die befreiungstheologisch inspirierte Gemeinde und sah sich eher in einer moderateren „Kirche der Armen“, wie sie 1962 Papst Johannes XXIII. ausgerufen hatte. Die spielte auch bei seiner Namenswahl als Papst eine Rolle. „Für mich ist Franz von Assisi der Mensch der Armut und des Friedens, der Mensch, der die Schöpfung liebt und beschützt“, bekannte er, nachdem er sich für den Namen Franziskus entschieden hatte.
Der Kontrast zwischen den ganz normalen Straßenschuhen, mit denen Bergoglio noch als Bischof mit dem Bus in die Armenviertel von Buenos Aires fuhr, und Ratzingers Kardinalsschühchen aus rotem Samt hat hohen Symbolgehalt. Für Franziskus sind die volksnahen Auftritte und der bescheidene Habitus zwar nicht frei von Kalkül, aber zugleich glaubwürdig verkörpertes Programm.
Dazu passt auch, dass er ein bekennender Fan des Fußballvereins San Lorenzo ist, einer der vielen Hauptstadtklubs, die im Schatten der millionenschweren Rivalen River Plate oder Boca Juniors stehen. Franziskus liebt es, bei aller seinem Amt gebührenden Distanz, sich in die argentinische Politik einzumischen. Als Bischof war er noch ein klarer Kontrahent der linksperonistischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, doch die machte ihm 2013 als eines der ersten Staatsoberhäupter ihre Aufwartung im Vatikan. Dem Rechtsliberalen Mauricio Macri, den er als Bürgermeister von Buenos Aires erlebt hatte, war Franziskus stets in tiefer, wechselseitiger Abneigung verbunden.
Für Javier Milei, den derzeitigen Staatschef, ist er ein anhaltendes Ärgernis. Immer wieder empfing der Papst peronistische Politiker und Gewerkschafter, kritisierte den sozialen Kahlschlag der Regierung oder die Brutalität der Polizei gegen Demonstranten. Er machte öffentlich, dass einer von Mileis Ministern von einem ausländischen Investor Schmiergeld kassieren wollte, und ermunterte zum Protest gegen die Regierung.
2020 hatte der damals weitgehend unbekannte libertäre Ökonom Milei Franziskus noch als „Idiot“ und „Vertreter des Bösen auf Erden“ gescholten; als Präsident suchte er im Vorjahr den Papst auf, um ihn zu einem Besuch in Buenos Aires einzuladen, was dieser tunlichst vermieden hat. Die von ihm immer wieder geforderte soziale Gerechtigkeit ist für Milei ein rotes Tuch.

Viele Linke aus Lateinamerika schätzen Franziskus als veritable Lichtgestalt. Seine soziale Agenda hatte er 2014 mit den „drei T“ zusammengefasst: „tierra, techo y trabajo“ (Land, Dach und Arbeit), 2015 folgte die Umweltenzyklika Laudato si’. Für João Pedro Stedile, den marxistischen Chef der brasilianischen Landlosenbewegung MST, ist der Papst jemand, dessen „sehr mutige“ Äußerungen die Regierungen immer wieder in Erklärungsnot versetzen.