vonClaudius Prößer 15.12.2008

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Das 1998 anlässlich Augusto Pinochets Klinik-Arrest in London als anarchistisches Witzblättchen entstandene Magazin The Clinic ist längst über die Satire hinausgewachsen. Woche für Woche finden sich hier hervorragende Interviews, Reportagen und investigative Texte, für die in keinem anderen Medium Platz wäre. Zum zehnjährigen Jubiläum gab es jetzt eine Sonderausgabe, für die man unter anderem den streitbaren His­to­ri­ker Alfredo Jocelyn-Holt („Die Republik ist tot, die Zwei­hun­dert­jahr­fei­er im Jahr 2010 kann ausfallen“) gebeten hatte, die politisch-ge­sell­schaftlichen Höhepunkte der ersten Clinic-Dekade zu notieren. Das Er­geb­nis in Auszügen:

1. Kritik an der transición
Beginnt mit der Veröffentlichung von Tomás Moulians Chile: Anatomie eines Mythos (…) und einer Reihe von Aufsätzen, die von den Medien kaum gewürdigt wurden. Die Texte arbeiten heraus, wie die transición, als Deal zwischen Aylwin und Pinochet, in Sachen Wirtschaftsmodell und Verfassung das Erbe der Diktatur antritt. (…)

2. Festnahme Pinochets
Bestätigt letztlich einen gesellschaftlichen Konsens, auch wenn die offizielle Lesart sie als Beweis für die Spaltung des Landes wertet. Die Regierungen der Concertación (…) holen Pinochet nach Hause, um ihm den Prozess zu machen, aber nicht zu verurteilen: der zweite große Deal der transición. (…)

3. Bündnis von Concertación und Großkapital unter Lagos
Die faktischen Machthaber, das Großkapital, die Unternehmer, entschließen sich dazu, den Sozialisten Ricardo Lagos zu unterstützen – auch später lassen sie Michelle Bachelet im Wahlkampf mehr Unterstützung angedeihen als Sebastián Piñera. (…) Lagos schließt Freundschaft mit Ricardo Claro und Agustín Edwards, dessen Zeitung ihn zu „ihrem“ Präsidenten macht. (…) Für Carlos Altamirano war Lagos folgerichtig die „beste rechte Regierung der chilenischen Geschichte“.

4. Anstieg der Korruption unter der Regierung Lagos
Das MOP-Gate warf ein Licht auf die Grauzone zwischen den öffentlichen Einrichtungen, die riesige Projekte wälzen, und den wirtschaftlichen Interessen, Lobbyisten, Consultants. (…) Die Regierung Lagos war die korrupteste in der chilenischen Geschichte, schlimmer als Pinochet. Die Bereicherung von Politikern der Concertación war außerordentlich: Sie wurden von Habenichtsen zu reichen Leuten, mit den Vorständen großer Firmen auf du und du.

5. Santiago wird zur Megalopole
Ausdruck dieser Entwicklung ist das Verschwinden des Villenviertels El Golf, eines der besten Südamerikas. An seiner Stelle entsteht nun „Sanhattan“. Santiago will zur globalisierten Stadt aufsteigen, aber das hat negative Auswirkungen auf die Lebensqualität. (…)

6. „Aufstand der Pinguine“
Spiegelt die Schwäche der transición in Sachen Bildung wider. Eine Million Schüler streiken zwei Monate lang mit großer Unterstützung durch die Bevölkerung. (…) Die Revolte zeigte, dass den Jugendlichen entgegen der verbreiteten Annahme nicht alles egal ist. Ein Grundpfeiler der transición war die Demobilisierung der Bevölkerung. Diese wurde hiermit widerrufen.

7. Scheitern des Transantiago und der Technokratie
Die Unfähigkeit der Technokraten im „Jaguar-Staat“ Chile fand ihren Ausdruck im Transantiago. Sein Scheitern war das der Regierung Lagos und der Regierung Bachelet, auch wenn letztere versucht hat, eine gewisse Distanz zur Vorgängerregierung zu wahren. Die technokratische Überheblichkeit (…) stammt aus der Zeit der Chicago Boys – die Wirtschaftsexperten der Concertación waren ihre besten Schüler. Offenkundig geworden ist auch die fehlende soziale Sensibilität der Concertación und von Frau Bachelet, die trotz des entstandenen Chaos ihren dreiwöchigen Sommerurlaub nicht unterbrach.

8. Farandulización des Fernsehens
Das Fernsehen ist das mächtigste Medium, und es galt zu verhindern, dass es zu viel Kritik transportiert. (…) Daher die Banalisierung (…), die in der Beinahe-Kandidatur von Farkas gipfelte, einem Produkt des Promi-Kults, der farándula.

9. Ergebnisse der Kommunalwahlen 2008
Die wichtigsten Wahlen des laufenden Jahrzehnts. Sie legen offen, dass die Parteien sich nicht mehr von oben steuern lassen, was immer ein Merkmal der Concertación gewesen ist. (…) „Abtrünnige“ aller Parteien haben großes Gewicht bekommen, viele Bürgermeister wollten sich mit keiner Partei identifizieren. Das ist (…) der Anfang vom Ende des binominalen Systems.

10. Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und ihre Auswirkungen auf Chile
Die Auswirkungen der Krise auf ein globalisiertes Wirtschaftssystem wie das chilenische, das von den internationalen Märkten extrem abhängig ist und enorme Verteilungsprobleme aufweist, werden größer sein als anderswo. Allein für das kommende Jahr wurden bereits 400 Bauvorhaben gestoppt. (…) Was die Krise letztlich in Frage stellt, ist das neoliberale chilenische Modell. ( …)

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