vonericbonse 20.11.2021

Lost in EUrope

Eric Bonse, EU-Korrespondent der taz in Brüssel, schreibt hier all das über Europa und seine Krise(n), was die EU gerne verdrängen würde | Bild: dpa

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Die EU ist in Gefahr – das ist das Leitmotiv der neuen außenpolitischen Strategie, die der Außenbeauftragte J. Borrell vorgelegt hat. Der Spanier wittert überall neue Risiken, doch sein Narrativ kann nicht überzeugen.

Als ich vor bald 20 Jahren nach Brüssel kam, da war die EU-Welt noch in Ordnung. Man bereitete sich darauf vor, den Kontinent “wieder zu vereinen” (die Osterweiterung) und pflegte eine zivile und friedliche “Nachbarschaftspolitik”.

Heute sind aus Nachbarn Feinde und Unruhestifter geworden, siehe Belarus. Und die Wiedervereinigung ist auch nicht gelungen. Vielmehr geht ein Riß durch die EU, der ziemlich genau die alten Bruchlinien von 1989/90 widerspiegelt.

Doch Borrell und seine Experten fragen nicht etwa, was da schief gelaufen ist – und wieso der einst umworbene “Nachbar” Russland” plötzlich als Feind dasteht. Sie spüren auch nicht den Verwerfungen im Nahen Osten oder der Krise in den USA nach.

Die Ära Trump und die Krise der transatlantischen Beziehungen, der “Krieg gegen den Terror” und die Flüchtlingswelle in Europa, das Debakel in Afghanistan, der Dauerkonflikt um die Ukraine – zu all dem sucht man vergebens Auskunft.

Der “Strategische Kompass” (so der Titel des Entwurfs) zeigt noch nicht einmal eine Richtung an. Steht der Feind im Osten (Russland), im Innern (die “Populisten”), oder wo sonst? Es wird nicht verraten. Dem “Kompass” fehlt die Nordung.

Stattdessen haben Borrell und seine Helfer überall neue Bedrohungen ausgemacht. Auf den Weltmeeren, im Cyberspace und sogar im Weltraum werde EUropa attackiert, heißt es. Man müsse nicht nur Kriege verhindern, sondern auch “hybride Angriffe”.

Dazu wiederum zählen nicht nur Cyberattacken und Desinformations-Kampagnen, sondern auch Flüchtlinge (siehe Belarus) und ausländische Einmischungen etwa bei Wahlen. Kurz: Der Feind steht überall, deshalb muß die EU auch umfassend aufrüsten.

Diese Erzählung ist beeindruckend, aber auch fragwürdig. Denn sie beruht auf der Annahme, dass Globalisierung und Digitalisierung – die gestern noch als neues El Dorado feilgeboten wurden – plötzlich feindliche Mächte geworden seien.

Dabei treibt die EU beide Entwicklungen selbst voran – und sie hat sich auch selbst von globalen Märkten, seltenen Erden und Chips aus China abhängig gemacht. Der Kompass trauert einer neoliberalen Welt nach, die längst zusammengebrochen ist.

Zudem greift die EU unbesehen das Narrativ von H. Clinton und den US-Demokraten auf, wonach die Präsidentschaftswahl 2016 nur aufgrund russischer Einmischung verloren gegangen sei und auch EUropa mit “hybriden Angriffen” aus Moskau rechnen müsse.

Dabei werden immer mehr Zweifel am “Russiagate” laut. Und weder bei der Europawahl 2019 noch bei der Bundestagswahl hat es nennenswerte Einmischung von außen gegeben. Dennoch wird das Narrativ munter weiter gesponnen – warum nur?

Und was passiert eigentlich, wenn bei der nächsten Präsidentschaftswahl in den USA wieder Trump gewinnt? Zu dieser durchaus realen Gefahr verlieren Borrell und seine Experten kein Wort – ihre Strategie ist kurzsichtig und stützt sich ganz auf Biden…

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https://blogs.taz.de/lostineurope/2021/11/20/der-feind-steht-ueberall/

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