Univ.-Prof. Dr. Heinz Gärtner gehört zu den wenigen nichtmilitärischen Sicherheitsexperten in Österreich, denen mit Recht internationale Aufmerksamkeit zuteil wird. Seit 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP), hat Gärtner seine Kenntnisse kontinuierlich am New Yorker Institute for Security Studies sowie an den Universitäten von British Columbia, Erfurt, Stanford und New Haven vertieft.
Mit dem »Manifest für eine moderne Neutralitäts- und Sicherheitspolitik« verfolgt der Forscher eine konsequente Aufwertung der österreichischen Verteidigungsdoktrin der Neutralität. Er zeigt, dass das bei Politikern eher unbeliebte Instrument einen wertvollen Beitrag zur gemeinsamen Europäischen Aussenpolitik darstellen kann. Die Abschnitte zum Reformvertrag der EU hat Gärtner gemeinsam mit dem Linzer Völkerrechtler Franz Leidenmühler verfasst.
© Wolfgang Koch 2007
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Thesen zur Neutralität und zur österreichischen Sicherheitspolitik
Von Heinz Gärtner
Die österreichische Neutralität war immer wieder in der Lage, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Im Zusammenhang mit dem neuen Reformvertrag der Europäischen Union (EU) ist jedoch eine neue Debatte über die Sinnhaftigkeit der Neutralität ausgebrochen.
Die Vorgeschichte
Im Oktober 1955 beschliesst der Nationalrat die immerwährende Neutralität Österreichs. Sie war die österreichische Zusicherung an die Grossmächte, keinem militärischen Bündnis des Westens oder des Ostens beizutreten. Die Neutralität Österreichs stand im Mittelpunkt der österreichischen Aussen- und Sicherheitspolitik seit 1955. Für Österreich war Neutralität in ihrer Entstehungsphase gleichbedeutend mit Unabhängigkeit. Mit der Neutralität gelang es Österreich das erste Mal seit dem ersten Weltkrieg eine starke Identität zu entwickeln. Deshalb hält die grosse Mehrheit der Österreicher mit mehr als zwei Drittel Prozent an der Neutralität fest.
Der Kern der Neutralität ist militärisch. – Die militärische Neutralität ist im Neutralitätsgesetz festgeschrieben: Österreich darf keinem Militärbündnis beitreten und darf auf österreichischem Territorium keine ausländischen Truppen stationieren. Dass neutrale Staaten an keinem Krieg im völkerrechtlichem Sinne (d.h. an keinem Krieg zwischen Staaten) teilnehmen dürfen, wurde zwar nicht direkt im Neutralitätsgesetz geregelt, ergab sich aber aus dem vorherrschenden Neutralitätsverständnis.
Neutralität wurde zunehmend durch aktive Aussenpolitik ergänzt. Ganz und gar nicht nach dem Schweizer Vorbild des »Stillesitzens« trat Österreich noch im selben Jahr (1955) den Vereinten Nationen bei, 1956 dem Europarat und 1960 der Europäischen Freihandelsgemeinschaft (EFTA). Österreich bot sich als »Platz der Begegnung« an; zum Beispiel fand das Treffen zwischen den Präsidenten der USA John F. Kennedy und der Sowjetunion Nikita Chruschtschow 1961 in Wien statt.
Die sozialdemokratische Regierung unter Bruno Kreisky (1970-1983) entwickelte die »aktive Neutralitätspolitik«. Sie bedeutete aktive Besuchsdiplomatie, Multilateralismus auf globaler Ebene vor allem in den Vereinten Nationen, Unterstützung des Entspannungsprozesses zwischen Ost und West, Engagement im Nord-Südkonflikt, das im Vorschlag eines Marshall Planes für die Dritte Welt gipfelte.
Bundeskanzler Kreisky setzte sich als erster westlicher Regierungschef für die Rechte der Palästinenser ein. Eine internationale Basis fand Kreisky gemeinsam mit den deutschen und schwedischen Sozialdemokraten Willy Brandt und Olof Palme in der Sozialistischen Internationale. In der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bildete Österreich gemeinsam mit den anderen neutralen und nicht-paktgebundenen Staaten von 1975 bis zum Ende des Kalten Krieges die N+N-Gruppe (ein loser Zusammenschluss von neutralen und blockfreien Staaten Europas, die keinem der beiden Bündnisse, NATO und Warschauer Pakt angehörten), die Vermittlung und gute Dienste anboten und sich dafür einsetzte, dass das die Entspannungspolitik nicht ins Stocken geriet.
Nicht zuletzt dank dieser Neutralitätspolitik wurde Wien 3. UNO-Hauptstadt und Sitz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), von UN-Spezialorganisationen (z.B. UNIDO), des OPEC-Sekretariats, des OSZE-Sekretariats (früher KSZE). Weiters siedelten sich das PrepCom (ist ein administratives Komitee zur Überwachung des umfassenden nuklearen Teststoppabkommens) des umfassenden nuklearen Teststoppvertrages (CTBT), das Sekretariat des Wassenaar-Arrangements (über den Transfer konventioneller Waffen) und das Büro zur Drogenkontrolle und der Verbrechensverhütung der UNO an.
Neue Herausforderungen
Was sind die grossen neuen Herausforderungen nach Ende des Kalten Krieges? Es sind die Proliferation von Massenvernichtungswaffen; Terrorismus, der in Verbindung mit der Proliferation eine neue gefährliche Dimension bekommen kann; funktionsgestörte Staaten, die Nährboden für den Terrorismus sein können, von denen illegale Immigration ausgeht und die Basis von organisierter Kriminalität sind. Zudem gehen mit ihnen wichtige Wirtschaftsräume verloren.
Österreich ist als neutraler Staat sehr gut geeignet (nicht notwendigerweise besser als andere Staaten) bei der Bekämpfung dieser neuen Gefahren einen wichtigen Beitrag zu leisten. Neutrale Staaten besitzen manchmal höherer Akzeptanz als Bündnismitglieder. Die Mitwirkung an Wiederaufbau- und humanitären Massnahmen in kriegszerstörten Staaten kann im Rahmen der UN, der EU, der OSZE oder auch der NATO Partnerschaft für den Frieden geschehen. Die Möglichkeit der Teilnahme an der Verteidigungspolitik und dem Krisenmanagement der EU wurde durch einen Verfassungszusatz (§ 23f) ausdrücklich bestätigt. An solchen robusten Einsätzen nimmt Österreich auch im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP) teil (Balkan). Die zivil-militärische Zusammenarbeit ist hierbei von besonderer Bedeutung. Die Kombination von Wehrpflicht und Miliz sind dafür eine gute Voraussetzung, wenn auch in besonderen Fällen (z.B. Battle Groups) vor allem Spezialkräfte zum Einsatz kommen müssen.
Österreich kann sich im Missionsspektrum Evakuierung, Unterstützung bei Katastrophen und humanitären Krisen (z.B. Errichtung von Feldspitälern), friedenserhaltende und Wiederaufbauaufgaben (z.B. Pioniere), Rettungs- und Sicherungseinsätze, Präventions-, Stabilisierungs- und Kampfeinsätze wertvolle Nischenfähigkeiten entwickeln. Gerade im zivil-militärischen Bereich kann Österreich zentrale Aufgaben als neutraler Kleinstaat übernehmen, weil er für Internationale Organisationen (IOs), NGOs und zivile Kräfte eine höhere Akzeptanz hat kann als grosse Bündnisstaaten. Auch im Inland erleichtert der neutrale Status die Kooperation des Militärs mit NGOs.
Territorialverteidigung und Bündnisverpflichtungen stehen direkt proportional zueinander. Wenn Territorialverteidigung immer weniger wichtig wird, werden Beistandsverpflichtungen, die im Falle von Angriffen auf das Territorium eines Mitgliedstaates in Kraft treten, zunehmend irrelevant. Wenn Bündnisverpflichtungen nicht mehr notwendig sind, wird auch der Status der Neutralität in diesem Punkt nicht in Frage gestellt. Die im Neutralitätsgesetz verankerte Nichtmitgliedschaft in einem Bündnis ist ein klares Merkmal für Neutralität. Das wichtigste Merkmal eines Bündnisses sind die gegenseitigen Beistandsverpflichtungen.
Hingegen sind Militärbündnisse für eine Friedensmacht Europa anachronistisch geworden. Solche sind mit verbindlichen Beistandsverpflichtungen ausgestattet. Derartige Bündnisse wurden in Zeiten akuter Bedrohung durch andere Staaten und Bündnisse oder zur Vorbereitung eines Angriffes geschlossen. Sie sollten heute keine Relevanz mehr haben. Militärmächte der Vergangenheit benötigten sie, um Loyalitäten in Kriegszeiten herzustellen. Heute können sie Bedrohungsbefürchtungen auslösen. Europa kann nicht Friedensmacht und Militärbündnis zugleich sein.
Die einzige unvereinbare Alternative zur Neutralität sind Militärbündnisse, die für Europa lediglich historische Bedeutung haben. Der Sicherheitsbegriff hat sich von einem geographischen zu einem funktionalen gewandelt, der nicht mehr auf Verteidigung oder Eroberung eines bestimmten Territoriums ausgerichtet ist, sondern auf Stabilisierung, Prävention, Krisenintervention und humanitäre Aufgaben.
Neue Rolle des Soldaten
Das Bild des Soldaten hat sich in diesem Jahrhundert gegenüber vorherigen Jahrhunderten radikal gewandelt, als die Vernichtung eines Gegners seine Hauptaufgabe war. Heute ist es zunehmen der Schutz von Menschen. Der Bericht einer internationalen Kommission »Responsibility to Protect« sieht dies als primäre Aufgaben der Staaten und internationalen Organisationen. Die neuen Aufgaben kann man nicht mit Artillerie, schweren Panzern, Kampfjets oder gar Präzisionsmunition bewältigen. Das Wichtigste sind bestens ausgebildete SoldatInnen und hoch qualifizierte SpezialistInnen. Natürlich ist dafür auch modernes und den Aufgaben entsprechendes Gerät notwendig. Bedarf besteht für ausreichende Transportfähigkeit über grössere Strecken und im eingeschränkten Masse bestimmte moderne Führungs-, Kommunikations- und Aufklärungssysteme.
Alle die oben genannten Aktivitäten sind für kleine neutrale Staaten nicht nur kein Hindernis sondern geradezu ein Erfordernis, um internationale Solidarität zu zeigen. Bei Zwangsmassnahmen ist es nicht nur für Österreich erforderlich, sondern für die Staatengemeinschaft sinnvoll, eine breite Legitimität durch ein UN-Mandat herzustellen.
Die grossen Naturkatastrophen des Jahres 2005 – Tsunami, Hurrikan Katrina in den USA und das Erdbeben in Pakistan – haben den tatsächlichen Bedarf an rasch
verfügbaren »Krisenreaktionskräften« sichtbar gemacht. Österreich leistet auch Solidaritätshilfe bei Elementarereignissen ausserhalb (z.B. Tsunami, Erdbeben in Pakistan) und innerhalb Europas. Der Reformvertrag formulierte daher eine Solidaritätsklausel, die auf Wunsch des betreffenden Staates Hilfeleistungen bei Terroranschlägen und Naturkatastrophen vorsieht. Sie ist aber nicht Teil der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und darf nicht mit der Beistandsverpflichtung verwechselt werden. Österreich kann dabei besondere Qualifikationen anbieten. Die AFDRU des Österreichischen Bundesheeres leistet hier bereits gute Arbeit, ist aber verhältnismässig unterdotiert. In diesem Segment – Schutz und rasche Hilfe in Katastrophenfällen, national und international – soll eine der Kernkompetenzen des Österreichischen Bundesheeres liegen. In Europa können wir damit eine Vorreiterrolle einnehmen und eine Lücke füllen.
Der Reformvertrag der EU
Der Reformvertrag der EU beinhaltet wie schon der Verfassungsvertrag eine Beistandsklausel, dass nämlich die Mitgliedstaaten im Falle eines bewaffneten Angriffs die anderen Mitgliedstaaten »Hilfe und Unterstützung leisen müssen«. Natürlich stimmt es, dass der Bündnisartikel an sich mit dem Prinzip des Bündnisverbotes des immerwährend Neutralen nicht vereinbar ist. Im Reformvertrag wie schon im Verfassungsvertrag gibt es aber die sogenannte irische Formel, die betont, dass dieser Artikel »den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt« lässt.
Dieser Hinweis galt und gilt nicht nur für die Neutralen und Allianzfreien (neben Österreich ja auch noch Irland, Schweden, Finnland und Malta), sondern auch für die NATO-Staaten. Für letztere wird im Reformvertrag nun nochmals auf die Ausnahmen hingewiesen, die sich aus den Verpflichtungen des NATO-Vertrages ergeben. Im Reformvertrag sind also Ausnahmemöglichkeiten sowohl für neutrale als auch für die der NATO angehörigen Mitgliedstaaten in der EU vorgesehen, d.h. es bleibt den einzelnen EU-Mitgliedstaaten vorbehalten, wie sie den Beistandsartikel handhaben wollen. Für den dauernd Neutralen erwachsen dieserart keine Verpflichtungen, die seiner Neutralität widerstreiten. Dieser Befund hat jedenfalls für die völkerrechtliche Bewertung Gültigkeit.
Was die verfassungsrechtliche Kehrseite der österreichischen Neutralität anbelangt, so sieht zwar das Neutralitäts-BVG vor, dass Österreich »in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten« werde. Als ein »militärisches Bündnis« ist aber nur ein allseitig-verpflichtendes ohne Ausnahmeregelung, nicht dagegen ein je nach Interpretation und Situation für einzelne NATO- oder neutrale Staaten einseitig-begünstigendes Bündnis anzusehen. Als ein solches letzteres wird sich aber die EU nach Inkrafttreten des Reformvertrages darstellen.
Für den dauernd Neutralen erwachsen dieserart weder völkerrechtliche noch verfassungsrechtliche Verpflichtungen, an einem Krieg teilzunehmen oder einem militärischen Bündnis beizutreten, die seiner Neutralität widerstreiten. Als ein »militärisches Bündnis« im Sinne des Art. I Abs. 2 Neutralitäts-BVG ist aber nur ein allseitig-verpflichtendes ohne Ausnahmeregelung, nicht dagegen ein je nach Interpretation und Situation für einzelne NATO- oder neutrale Staaten einseitig-begünstigendes Bündnis anzusehen ist. Als ein solches letzteres wird sich aber die EU nach Inkrafttreten des Reformvertrages darstellen.
Wenn der Vertrag in den Allgemeinen Bestimmungen betont, dass die nationale Sicherheit »in die alleinige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten« fällt, bedeutet das zwar nicht, dass keine Bündnisverpflichtungen eingegangen werden dürften, was ja hinsichtlich der 22 NATO-Mitgliedstaaten widersinnig wäre. Es heisst aber auch, dass den EU-Mitgliedstaaten die Entscheidung darüber offen steht.
Battle Groups für die UN
Die sogenannten Battle Groups der EU können zur Vorbereitung solcher Einsätze dienen, die von humanitären Hilfs- und Solidaritätsleistungen bis zu robusten Missionen, die Kampfhandlungen bei Sicherungsaufgaben nicht ausschliessen, reichen. Letztere sollten mit der Legitimation eines Mandats des UN-Sicherheitsratsmandates ausgestattet sein. Allerdings stehen Kampfeinsätze nicht im Vordergrund sondern sind eher die Ausnahme.
Österreich wird sich an ein bis zwei Battle Groups 2011 (gemeinsam mit Deutschland, der tschechischen Republik, wahrscheinlich Kroatien und Irland und möglicherweise 2012 (gemeinsam mit den Niederlanden, Finnland und Deutschland) beteiligen. Diese Krisenreaktionskräfte oder Gefechtsverbände sind zugeschnitten auf die im Vertrag vorgesehene permanente strukturierte Zusammenarbeit. Mitgliedsaaten, die »anspruchsvollere Kriterien in bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind«, können eine strukturierte Zusammenarbeit begründen. Aber die »Kriterien und Zusagen hinsichtlich der militärischen Fähigkeiten« legen diese Mitgliedstaaten selbst fest. Das bedeutet, dass Österreich selbst bestimmen, kann mit welchen Fähigkeiten es an den Battle Groups teilnimmt. Es gibt zum Beispiel keine Verpflichtung, Truppen für High-tech Kampfeinsätzen zur Verfügung zu stellen.
Die Battle Groups könnten gerade für UN-Missionen verwendet werden. In der UN-Charta sind »gemeinsame Kontingente für Kapitel VII Aufgaben« unter dem Kommando des UN-Sicherheitsrates vorgesehen (Art. 43-47). Sie kamen aber nie zustande, weil sie die Einzelstaaten nicht permanent zur Verfügung stellen wollten. Die EU-Mitgliedstaaten sind nun bereit dazu. Das Protokoll des Reformvertrages über die ständig strukturierte Zusammenarbeit betont ausdrücklich, dass die UN »für die Durchführung dringender Missionen nach Kapitel VI und VII der Charta der UN um Unterstützung ersuchen kann«.
In Österreich, aber auch in der EU selbst, gibt es manchmal aber leider eine eigenartige umgekehrte Debatte, wie denn EU-Einsätze ausserhalb der UN durchgeführt werden können anstelle wie hier Synergieeffekte erzielt werden können. Die EU selbst hätte grösste Schwierigkeiten, Kampfaufgaben ohne breitest mögliche Legitimation durchzuführen. 60 bis 80 Prozent der EU-Bevölkerung unterstützen humanitäre und friedenserhaltende Operationen, aber 80 Prozent sind dagegen, Kampftruppen aufzustocken. 60 Prozent würden sogar sagen, dass ihre Staaten bei weiteren solchen Einsätzen der EU nicht teilnehmen sollten. Eine UN-Autorisierung würde die Akzeptanz solcher Einsätze wesentlich erhöhen. Gerade weil die Battle Groups nicht, wie es die Doktrin des gerechten Krieges verlangen würde, nicht mehr als letztes Mittel sondern »rechtzeitig«, ja sogar präemptiv eingesetzt werden sollen, ist es umso wichtiger, dass eine legitime Autorität den Einsatz autorisiert.
Das Argument, man könne etwa bei Evakuierungseinsätzen nicht auf ein solches Mandat warten, ist fadenscheinig. Der »Schutz von zivilen und Einsatzpersonal« ist immer Teil eines Mandats für Krisengebiete (wie etwa im Kongo, in Dafur und im Tschad). Evakuierungsmassnahmen bedeuten ausserdem nicht, eine Kriegspartei zu unterstützen, was einem neutralen Staat untersagt ist.
Es ist weiters unrichtig zu behaupten, dass der UN-Sicherheitsrat viel zu langsam arbeite, um auf Krisen schnell reagieren zu können. Nach den Anschlägen des 11. September nahm der Sicherheitsrat die Resolution 1368, die das Recht auf Selbstverteidigung betonte, innerhalb von 24 Stunden einstimmig an. Die zweite substanziellere Resolution 1373 drei Wochen nach den Anschlägen wurde ebenfalls einstimmig angenommen. Sie regelte detailliert Verbote über den Aufenthalt von Terroristen, Reisepassfälschungen und Grenzkontrollen. Und sie war bindend nicht nur für die sie ratifizierenden sondern für alle 191 Mitgliedstaaten.
Weiters haben sich Mutmassungen, bestimmte Staaten würden eine Sicherheitsresolution blockieren, nach einigen diplomatischen Bemühungen oft als falsch herausgestellt. 2006 haben Neokonservative in den USA immer wieder behauptet, Frankreich, Russland und China würden wegen wirtschaftlicher und politischer Eigeninteressen einer Resolution über Sanktionen gegen Iran wegen des Atomprogrammes niemals zustimmen. Mittlerweile gibt es zwei solcher Resolutionen (1737, 1747). – Sie wurden verabschiedet noch bevor Sarkozy französischer Präsident und in dieser Frage selbst zum Hardliner wurde. Ebenso argumentierten viele, dass China niemals einer Resolution über Dafur zustimmen würde, eine Resolution die es mittlerweile gibt.
Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung
Österreich hat sich traditionell immer in Rüstungskontrollfragen engagiert. Aktuelle Beispiele sind die Landminen und Streubomben. In den achtziger Jahren hat Österreich auch um das Zustandekommen der Konvention über chemischen Waffen bemüht. Österreich war Sitz der Verhandlungen, die zum Vertrag über konventionelle Waffen (KSE) führte und der Vertrag über vertrauensbildende Massnahmen wir das Wiener Dokument genannt.
In österreichischem Interesse ist die Beibehaltung bestehender Rüstungskotrollverträge (über konventionelle Waffen in Europa und über Mittelstreckenraketen) sowie für die Verlängerung des Abkommens über strategische Waffen (START) nach 2009. Österreich sollte sich auch verstärkt für nukleare Abrüstung im Sinne des Art. VI des Nichtverbreitungsvertrages und die Umsetzung des umfassenden nuklearen Teststopps (CTBT) und gegen die Modernisierung von Nuklearwaffen oder die Aufstellung von neuen Raketen in Europa jeglicher Art einsetzen. Zu nachhaltigen Erfolgen kommt es nur, wenn Rüstungskontroll- und Abrüstungsmassnahmen multi- oder bilateral vorgenommen werden. Unilaterale Absichtserklärungen reichen nicht aus.
Österreich setzt sich für verstärkte Ausfuhrkontrolle konventioneller Waffen und Technologien und Produkte, die militärisch wie zivil genutzt werden können (dual-use Güter) im Rahmen des Wassenaar Arrangements (WA), des EU Code of Conduct und der OSZE ein. Endverbraucherlizenzen etwa müssten verpflichtend bekannt gegeben werden. Destabilisierende Anhäufungen von konventionellen Waffen müssen verhindert werden.
Diplomatie und Konfliktverhütung sind traditionell Felder in denen der neutrale Staat aktiv sein kann. Natürlich darf man Neutralität nicht als »Stillesitzen« im integralen Sinne des sich Heraushaltens interpretieren. Diese befürwortet Wirtschaftsneutralität und die Äquidistanz zwischen den Blöcken sowie ihre Unvereinbarkeit mit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Österreichs Neutralität hat sich nie an diesen Bedingungen, die in der Neutralitätsliteratur diskutiert wurden, orientiert, wodurch sie ihre Flexibilität unter Beweis gestellt hat.
Österreichs Anpassung an die Petersberger Aufgaben der Europäischen Union, die als Antwort auf die neuen Herausforderungen gedacht sind, sind eine weitere Bestätigung dafür. Flexibilität des Neutralitätsverständnisses und Anpassungsfähigkeit der Neutralität an moderne Erfordernisse können nicht als Bedeutungsverlust interpretiert werden. Die österreichische Neutralität ist keine Salami. Niemand würde sich zu sagen wagen, dass die österreichische Verfassung bedeutungslos geworden wäre, nur weil sie seit 1929 mehrmals den veränderten historischen Bedingungen angepasst wurde.
Beistandsverpflichtungen
Wodurch unterscheidet sich der neutrale Staat nun von nicht-neutralen? Er darf sich nicht in Friedenszeiten von vorneherein dazu verpflichten, einen anderen Staat militärisch im Kriegsfalle zu unterstützen. Diese Beistandsverpflichtung war 1949 wegen der Bedrohung durch die Sowjetunion nach heftigen Diskussionen in den Nordatlantikvertrag (Art. V) aufgenommen worden. Angesichts der neuen Herausforderungen kann man aber mit gutem Recht fragen, ob eine solche Verpflichtung sicherheitspolitische Relevanz hat? Beistandsverpflichtungen ohne Ausnahmen würden die EU zu einem Militärbündnis machen.
Natürlich kann man Szenarien konstruieren, die mit Neutralität nicht mehr kompatibel sind. Etwa Russland greift Lettland mit dem Vorwand an, die russische Minderheit zu schützen. Die EU fühlt sich verpflichtet, Lettland gegen Russland zu Hilfe zu kommen. Ein Sicherheitsratsmandat der UN ist wegen des russischen Vetos natürlich nicht möglich. Obwohl keine Verpflichtung besteht, wäre es für Österreich politisch schwierig, sich zu beteiligen. Solche Szenarien grenzen an Unwahrscheinlichkeit und dienen nicht dazu, eine reale und relevante sicherheitspolitsche Lage zu analysieren.
Es gibt viel wahrscheinlichere Szenarien, in denen nicht die Neutralität sondern die NATO irrelevant würde, wie etwa die »coalitions of the willing«. Trotzdem sagt niemand, dass die NATO an sich aufgelöst werde sollte. In Afghanistan war die NATO anfänglich unerwünscht, andere solche Koalitionen wird es geben. An solchen können paradoxerweise neutrale Staaten fallweise durchaus teilnehmen, wie das ja auch am Balkan im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP) geschieht.
Von Neutralitätsgegnern werden vor allem zwei Erklärungen vorgebracht. Erstens sei die Neutralität im Kalten Krieg entstanden und daher nicht mehr zeitgemäss (wie »Lipizzaner und Mozartkugeln«), und zweitens wäre sie bis zur Unkenntlichkeit verändert (»ausgehöhlt«) worden. Diese Argumente widersprechen einander und sind keine Gründe, die Neutralität aufzugeben. Wie kann sich etwas, was unveränderlich veraltet ist, bis zur Unkenntlichkeit verändern? Man kann nicht bedauern, dass die Neutralität nicht mehr das ist was sie war, und gleichzeitig beklagen, dass sie sich zu sehr verändert hat. Ausserdem ist nicht alles, was im Kalten Krieg entstanden ist, unbrauchbar geworden. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) von 1957 und der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NPT) von 1970 etwa sind in der Zeit der neuen Bedrohungen unerlässliche Instrumente (siehe Nordkorea und Iran). Auch ein neutrales Österreich könnte vom Nichtverbreitungsregime profitieren, wenn es etwa zu einem Vertrag kommen sollte, dass sich Nuklearwaffenstaaten dazu verpflichten, keine Nuklearwaffen gegen Staaten einzusetzen, die keine Nuklearwaffen besitzen oder nicht mit einer Nuklearwaffenmacht verbündet sind.
Österreichs Interessen
Das neutrale Österreich hat keine weltweiten geopolitischen Interessen. Es kann natürlich keine Neutralität zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Willkür, sowie zwischen Einhaltung der Menschenrechte und deren Verletzung geben. Diese Fragen haben mit dem österreichischen Neutralitätsgesetz vorerst nichts zu tun. Sie wird negativ definiert durch Nicht-Mitgliedschaft in einem Militärbündnis, Nicht-Teilnahme an fremden Kriegen und die Nicht-Stationierung von ausländischen Truppen auf österreichischem Territorium. Es kann keine Neutralität zwischen Verurteilung und Duldung von Menschenrechtsverletzungen, zwischen Recht und Unrecht, sowie zwischen demokratischen und autoritären Regierungsformen geben. Auch während des Ost-West Konfliktes stand Österreich immer auf dem Boden der westlichen Wertegemeinschaft.
Dennoch, Österreichs Neutralität bietet einen entscheidenden Vorteil in der Auseinandersetzung über diese Werthaltungen. Sie entbindet Österreich von geopolitischen und bündnisbedingten Rücksichtnahmen. Westliche demokratische Rechtsstaaten haben wegen realpolitischer Überlegungen immer wieder Abstriche von ihrer Werthaltung zu machen. Österreich hat keine weltweiten geopolitischen Interessen: in autoritär regierten Ländern, die Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien missachten, Militärstützpunkte zu errichten oder an sie Waffen zu liefern.
Österreich hindert auch keine Bündnisverpflichtung, überall für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat einzutreten. Gerade die Neutralität ermöglicht es Österreich, nicht mit zweierlei Mass zu messen. Das bedeutet nicht, gewaltsamen Regimewechsel zu fordern, sondern friedliche Änderungen zu fördern. Ein Modell kann die KSZE während des Kalten Krieges sein, die durch ihr Eintreten für Menschenrechte und Bürgerfreiheiten in ihren Dokumenten, Konferenzen und Stellungnahmen nach 15 Jahren zur Aufweichung und schliesslich Beseitigung des totalitären Kommunismus beigetragen hatte. Eine Neubewertung der Neutralität wäre allerdings erforderlich. Das alte schweizerische Konzept des »Stillesitzens« gehört endgültig der Vergangenheit an. Falsche diplomatische Behutsamkeit müsste ersetzt werden durch mutiges und offensives Eintreten für selbstverständliche Werte. Ausnahmen darf es nicht geben.