Eine ihrer wesentlichen Operationen besteht (und bestand) darin, Produkte, die von der Institution Post ausgehen, umzulenken und eine neue Bedeutung zu geben: Umschläge, Stempel, Briefmarken, Postkarten und Pakete. Im Prozess der Aneignung und Veränderung dieser Materialien kommen künstlerische Interventionen und Strategien zum Einsatz, die den nützlichen und konventionellen Wert untergraben. So entstehen Erscheinungsformen, die die Formate der Postinstitution infrage stellen und erweitern. Beispiele hierfür sind intervenierte oder verzierte Umschläge, gegenbürokratische Gummistempel, apokryphe Briefmarken und kreative Postkarten.
Postkarten
Das Postkartenformat ist eines der repräsentativsten und beständigsten im Repertoire der Mail-Art-Künstler. Durch unzählige kreative Ansätze hat sich die Postkarte als konkurrenzloses Medium für die Verbreitung von Botschaften und ästhetischen Produktionen erwiesen. Historisch betrachtet lässt sich feststellen, dass die Aneignung der Postkarte als künstlerisches Medium mit einer Serie von vier Postkarten begann, die Marcel Duchamp 1916 an die Arensbergs, seine Nachbarn und Gönner, schickte. Sie enthielten einen mehr oder weniger verschlüsselten Erläuterungstext über das „Große Glas”. Auch die italienischen Futuristen Balla und Pannaggi spielten eine Vorreiterrolle bei der Verwendung des Postkartenformats als Ausdrucksmittel.[1] In beiden Fällen wird die Postkarte von ihrer Gebrauchsfunktion auf den Transport ästhetischer Informationen umgelenkt. Dies ist ein berüchtigter Vorläufer der Operationen, die später in der Mail-Art-Bewegung konsolidiert werden sollten.
Die Produktionstechniken kreativer Postkarten sind vielfältig: Von der Herstellung mit plastischen Verfahren wie Malerei, Collagen, Zeichnungen oder Texten bis hin zum professionellen Druck mit Eingriffen an bereits existierenden Postkarten, um Veränderungen auf visueller und konzeptioneller Ebene vorzunehmen, ist alles möglich. In anderen Fällen findet keine Umwandlung statt, sondern die Postkarten dienen lediglich als Träger für kleinformatige künstlerische Arbeiten.
Postkarten wurden auch für konzeptionelle Arbeiten verwendet, die außerhalb des Postsystems keine materielle Existenz gehabt hätten. In diesen Prozessen wird nicht nur das Medium selbst bewertet, sondern auch die Eingriffe der Institution, die es beeinflussen und nutzen, um die in Umlauf gebrachten Bedeutungen aufzuwerten. Ein exemplarischer Fall ist der des Künstlers On Kawara mit seiner bekannten Serie von Postkarten und Telegrammen, die seine täglichen Aktivitäten dokumentieren, wie beispielsweise I Got Up und I Am Still Alive[2] Ein weiteres herausragendes Beispiel ist der Künstler Douglas Huebler, dessen reproduzierte Werke ohne die Verwendung der Post nicht hätten existieren können. Auch die Phrasenpostkarten des deutschen Künstlers Jürgen O. Olbrich, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, sind ein Beispiel für diesen Trend.
Lateinamerika
Die Geschichte der „Künstlerpostkarte“ in Lateinamerika begann mit der Ausstellung Festival de la Postal Creativa, die 1974 in der Galerie U in Montevideo unter der Leitung des Mail-Art-Künstlers und experimentellen Dichters Clemente Padín. In den 1970er Jahren erhielt die kreative Postkarte in Lateinamerika eine ausgeprägte politische Ausrichtung. Sie fungierte als unschätzbares, subversives Mittel zur Verbreitung von Informationen und mehr oder weniger verschlüsselten Botschaften, die die politische und kulturelle Unterdrückung in den Ländern der Region unter diktatorischen Regimen sichtbar machten. In diesen Kontexten erfüllten die Postkarten eine doppelte Funktion: Einerseits strahlten sie ästhetische Formen jenseits der üblichen Zirkulationskanäle aus, andererseits verbreiteten sie mithilfe der posteigenen Übertragungsmaschinerie kritische Informationen. In diesem Sinne stellt Edgardo Antonio Vigos Postkartenserie „Set free Palomo“, die der Künstler im Rahmen einer internationalen Kampagne verteilte, um die Freilassung eines seiner Söhne zu fordern, der von der zivil-militärisch-kirchlichen Diktatur in Argentinien entführt worden war, einen Höhepunkt in der Verwendung kreativer Postkarten als politisches Instrument der Anprangerung und des Widerstands dar.
Ausstellung aus dem Hotel-Dada-Archiv
Die Werkgruppe mit mehr als 70 Künstlern aus 22 Ländern, die in POST-POESIE vorgestellt wird, stammt aus dem HOTEL-DADA-Archiv. Sie vereint historische und zeitgenössische Vertreter der vielfältigen Ansätze, die im Bereich der kreativen Postkarte möglich sind. Zu den ausgestellten Werken gehören verzierte und intervenierte Postkarten, historische Werke, die mit dem politischen Kontext Lateinamerikas verbunden sind – wie die von Clemente Padín (Uruguay), Paulo Bruscky (Brasilien) und Guillermo Deisler (Chile) –, handgefertigte oder kommerziell gedruckte Arbeiten, Karten mit visueller Poesie sowie konzeptionelle, Gegenwerbung und performative Vorschläge. Was diese „Künstlerpostkarten“ in jedem Fall transzendiert, ist nicht ihre Materialität oder ihre formale Neuartigkeit, sondern ihr Wert als Kommunikationsform. Ausgehend von einer operativen und konzeptionellen Marginalität und durch die Verbreitung alternativer Diskurse und Botschaften erweisen sich diese Postkarten als Mittel der Subversion im Kleinformat.
Pressemitteilung von Silvio De Gracia, Galerie Hotel Dada, Junin, Buenos Aires, Argentinien, 13. Juni 2025.
Post-Poesie – Internationale Postkartenkunstausstellung und Mail-Art-Werke aus dem Hotel-Dada-Archiv
Kuratiert von Silvio De Gracia
Gestaltung der Ausstellung: Ana Montenegro
14. Juni – 25. Juli 2025
Galerie HOTEL DADA, Junín, Buenos Aires, Argentinien.
Teilnehmer
DEUTSCHLAND Hans Braumueller, Thorsten Fuhrmann, Annegret Heinl, Andrew Maximilian Niss, Jürgen O. Olbrich, Sabine Remy, Lars Schumacher, Susanne Schumacher, Sigismund Urban ARGENTINIEN María Castillo, Silvio De Gracia, Rubén Liggera, Marcela Peral AUSTRALIA Field Study-David Dellafiora BELGIEN Luc Fierens, Thierry Tillier BRASILIEN Paulo Bruscky, Renata Danicek, Roberto Keppler, Ana Montenegro, Hugo Pontes, Marcia Rosenberger CHILE Antonio Cares, Guillermo Deisler SPANIEN J.M. Calleja, Corporación Semiótica Galega, Ferran Destemple, Antonio Moreno Garrido, Miguel Jiménez-El Taller de Zenón, César Reglero FRANKREICH Albatroz, Julien Blaine, Christian Burgaud, Michel Della Vedova, André Robér GRIECHENLAND Démosthéne Agrafiotis IRLAND Amanda Coogan ITALIEN Franco Ballabeni, Vittore Baroni, Carla Bertola, Anna Boschi, Claudio Grandinetti, Gruppo Sinestetico, Leona K, Oronzo Liuzzi, Serse Luigetti, Ruggero Maggi, Simone Mazzoleni, Emilio Morandi, Cristiano Pallara, Renata Petti, Laura Pintus, Roberta Terzani, Alberto Vitacchio JAPAN Keiichi Nakamura NORWEGEN Torill Elisabeth Larsen POLEN Andrzej Dudek-Durer PORTUGAL Fernando Aguiar VEREINIGTES KÖNIGREICH Ptrzia Tictac RUSSLAND Dmitry Babenko SERBIEN Dobrica Kamperelic SCHWEIZ Ana Paula Barros, Heini Gut, Vänci Stirnemann UKRAINE Lubomyr Tymkiv URUGUAY Clemente Padín USA Picasso Gaglione, John Held Jr., Ray Johnson-Colección William S. Wilson, The Sticker Dude VIETNAM La Toan Vinh
HOTEL DADA
Hotel DADA befindet sich in der Stadt Junín im Nordwesten der Provinz Buenos Aires und ist eine Galerie, die sich auf Mail Art und experimentelle Poesie spezialisiert hat. Konzipiert und gegründet im Januar 2020 von den Künstlern Silvio De Gracia und Ana Montenegro, hat sie ihren Ursprung in der gleichnamigen Zeitschrift, die 2002 zu erscheinen begann und 2022 eingestellt wurde.
Mit einem historischen und zeitgenössischen Ansatz versucht die Galerie, eine Reihe von Künstler und Künstlerinnen sichtbar zu machen, die mit den verschiedenen Genres der Mail Art und der Erforschung der poetischen Sprache in ihren vielfältigen Möglichkeiten verbunden sind. In Übereinstimmung mit diesem kuratorischen Profil engagiert sich HOTEL DADA für die Verbreitung, Ausstellung und theoretische Produktion von Ausdrucksformen, die als marginal gelten. Dabei wird das Marginale als ästhetisch-politische Kategorie verstanden. Die Absicht besteht darin, zur Anerkennung und Positionierung alternativer Erscheinungsformen beizutragen. Dazu zählen beispielsweise Künstleretiketten, zusammengestellte Zeitschriften, Stempel, Objektgedichte, Künstlerbücher, Aufkleberkunst, künstlerische Plakate, visuelle Poesie, Videogedichte, Aktionspoesie, phonetische und Lautpoesie, Collagen sowie Fotokopierkunst und viele weitere Vorschläge, die die Grenzen der visuellen Künste erweitern.

[1] Während Giacomo Balla seine Originalpartituren auf Postkarten in Umlauf brachte, zeichnete sich Ivo Pannaggi durch die Konstruktion von bemerkenswert materiellen Postkartencollagen aus.
[2] In der Arbeit „I GOT UP“ schickte On Kawara täglich Postkarten mit dem Satz „I GOT UP“, während er in der Arbeit „I AM STILL ALIVE“ Telegramme versandte, die sein Überleben bestätigten. In diesen Arbeiten, die durch den Einsatz von Post untermauert werden, reflektiert der Künstler konzeptionell über Kommunikation, Existenz und die Natur zeitlicher Erfahrung.
Hier geht es zur englischen Version dieses Beitrags auf Postal Poetry auf Crosses.Net