Lange bevor die SchweizerInnen ihr unseliges Referendum über Minarette veranstaltet haben, ist in Frankreich Nicolas Sarkozy vorgeprescht. Auch er hat eine Pandora-Büchse geöffnet. Zwar nicht gleich mit einem Referendum. Aber immerhin mit einer „nationalen Debatte“. Und die jongliert mit denselben Ängsten und Ressentiments. Praktischerweise findet sie auch noch wenige Monate vor den Regionalwahlen statt.
Vor zweieinhalb Jahren war so etwas schon einmal nützlich für Sarkozy. Damals war die „innere Sicherheit“ sein großes Thema im Präsidentschaftswahlkampf. Dieses Mal lautet sein Arbeitstitel: „nationale Identität“.
In beiden Fällen stammen die thematischen Anleihen von der Front national. Sogar die Worte sind bei den Rechtsextremen abgekupfert. Sie waren in Frankreich lange die einzigen, die von „nationaler Identität“ sprachen. Die hartnäckig „Immigration“ mit „Unsicherheit“ gleichsetzten. Und die gegen eine imaginäre „Invasion“ des Landes zu Felde zogen. Bei den PolitikerInnnen der anderen Parteien war das tabu.
Als erstes beackerte die Front national die Elendsgebiete am Rande der Großstädte. Fernab der Paläste der Republik eroberte sie die Köpfe des „populären“ Frankreich. Wo immer sie agitierte, rückten statt sozialer Fragen, ethnische und religiöse Unterschiede in den Vordergrund.
Dann schlug die Bombe vom 21. April 2002 ein: Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen wurde der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen mit 17 Prozent der Stimmen zweitstärkster Kandidat. Direkt hinter dem Neogaullisten Jacques Chirac. Und noch vor dem sozialdemokratischen Kandidaten Lionel Jospin.
Nur wenige FranzösInnen hatten ein solches Wahlergebnis kommen sehen. Sie waren geblendet. Nicht nur durch die räumliche Trennung zwischen behüteten Innenstädten und heruntergekommenen Banlieues, sondern auch durch ihre Medien und PolitikerInnen. Die einen berichteten allenfalls in Wahlkampfzeiten über die rechtextreme Offensive. Und die anderen vermieden kontroverse Auseinandersetzungen mit den Thesen der Rechtsextremen. Allenfalls führten sie Stellvertretergefechte mit ausländischen Rechtsextremen. Wie Staatspräsident Chirac, der eine Zeit lang MinisterInnen aus Österreich schnitt.
In den meisten Fällen beschränkten sich die französischen SpitzenpolitikerInnen darauf, die Existenz der Rechtsextremen wahltaktisch zu nutzen. Staatspräsident François Mitterrand änderte sogar das Wahlrecht. Vorübergehend spaltete das Verhältniswahlrecht die rechte Wählerschaft, indem es den Rechtsextremen einen Weg ins Parlament öffnete.
Auch Sarkozy nutzt die Rechtsextremen wahltaktisch. Aber anders als seine Vorgänger verleibte er sich zentrale Slogans von ihnen ein. In seiner Kampagne im Jahr 2007 fanden rechtsextreme WählerInnen ein paar vertraute Themen wieder: Von der Einwanderung, die „gewählt und nicht erlitten“ sein dürfe, über die „nationale Identität“, die es zu verteidigen gelte, bis hin zu den Attacken gegen die Studentenbewegung vom Mai 1968, die Sarkozy „überwinden“ will.
Die Taktik ging auf: Millionen rechtxextreme WählerInnen gaben Sarkozy ihre Stimme. Damit schafften ihre Ideen den Einzug in den Elysée-Palast. Dort angekommen, belohnte Sarkozy seine rechtxextremen WählerInnen mit der Schaffung eines Ministeriums, das sowohl die Einwanderung als auch die „nationale Identität“ im Titel trägt. Den Titel Einwanderung verdient das Ministerium nicht. Denn seine Einwanderungspolitik beschränkt sich auf die Erfüllung eines Plansolls, das der Staatspräsident persönlich fixiert: Es sieht vor, dass jedes Jahr 25.000 Menschen aus Frankreich abgeschoben werden. Aber der zweite Titel des Ministeriums kommt mit der „nationalen Debatte“ zu Ehre. Als Zeremonienmeister Arm fungiert dabei Minister Eric Besson. Bis 2007 war er Sozialdemokrat. Seither beweist er, was für ein 150prozentiger Sarkozyst er geworden ist.
Offiziell will Sarkozy mit der „nationalen Debatte“ bewirken, dass die FranzösInnen ihren „Selbsthaß“ und die „Verachtung ihres eigenen Landes“ überwinden. Als wollte er seine Landsleute auf die Couch legen, damit sie herausfinden, wer sie sind.
Das klingt fürsorglich. Allerdings habe ich nie eineN FranzösIn getroffen, die sich die Frage gestellt haben: Was ist meine nationale Identität? Hingegen sehr viele, die in ihre Sprache verliebt sind. Die stundenlang über republikanische Werte parlieren können. Und die eine Anspruchshaltung gegenüber ihrem Staat haben, die weltweit einzigartig ist.
Solche Dinge kommen mir typisch französisch vor. Und da ich sie sowohl bei UreinwohnerInnen, als auch bei den Nachfahren von EinwandererInnen beobachtet habe, finde ich, dass die Integration gar nicht so schlecht funktioniert.
Aber Sarkozy und sein Wendehals-Minister sehen das anders. Als der Staatspräsident die „nationale Debatte“ ankündigte, hat er gleich gesagt, was nicht zur nationalen Identität gehört: die Burka . Das betrifft in Frankreich zwar bloss ein paar hundert Frauen, aber da der Staatspräsident nur dieses eine konkrete Beispiel gab, ist klar, dass es bei der „nationalen Debatte“ nur um eine einzige Minderheit geht.
In diesem Punkt sind das Frankreich von Sarkozy und die Schweiz der MinarettstürmerInnen nicht mehr weit voneinander entfernt.