vonMarie 01.01.2023

Warum sind Sie nackt?

Marie R. bloggt über ihren Alltag in deutschen Krankenhäusern.

Mehr über diesen Blog

Den Begriff „Päckchen“ oder „Ei” als Beschreibung für eine*n Patient*in mit hohem Pflegeaufwand habe ich erstmals in der Ausbildung gehört – Krankenhausjargon kann bisweilen sehr respektlos und krude sein.

Meine Mutter arbeitet seit dem Jahr 1981 in der Altenpflege, während meiner Kindheit war ich häufig mit im Altenpflegeheim, habe den netten älteren Damen und Herren Gedichte aufgesagt oder mir Geschichten aus längst vergangenen Zeiten angehört. Ich kann stolz berichten, dass ich einige Zeitzeugen des ersten und zweiten Weltkriegs treffen durfte.

Mein ganzes Leben habe ich Geschichten aus dem Pflegeheim gehört und wie man am besten mit z.B. verwirrten Bewohner*innen umgeht. Meine Mutter besitzt die beneidenswerte Fähigkeit sich in ihr „Wunderland“ (Dementenwohngruppe) einzufühlen und den Menschen dort respektvoll sowie auf Augenhöhe zu begegnen. Dementsprechend konnte ich es, als junge Pflegeschülerin, bevor ich Hornhaut auf der Seele hatte, nicht glauben, als mir die Pflegekräfte auf Station berichteten, dass es zu Weihnachten „Päckchen“ gibt.

Atempause oder letzte Station Krankenhaus

Pflegeeinrichtungen, häufig solche die bereits einen „gewissen Ruf“ im Haus genießen, kommen zu den Feiertagen an ihre versorgungstechnischen Grenzen und so wird der bzw. die eine oder andere aufwendige Bewohner*in ins nächste Krankenhaus eingewiesen. Eine Person weniger zu „waschen“, das stets überarbeitete Personal, dezimiert durch Covid, Influenza, Urlaub und Burnout muss ein bisschen weniger hektisch die hohe Anzahl an Bewohner*innen versorgen. Der verzweifelte Versuch der Überforderung Herr zu werden.

Ähnlich ist es für Familien, welche eine Pause von der Pflege im häuslichen Umfeld benötigen. Die Gruppe der Laienpflegenden ist die größte Gruppe an „Pflegenden“ überhaupt in Deutschland. Weitaus mehr Familienangehörige kümmern sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen als es Alten – oder Krankenpfleger*innen tun. Pflegende Angehörige haben nie eine Pause, können nicht einfach Feierabend machen und streiten sich zusätzlich mit Ämtern.

Alten- sowie Kurzzeitpflege ist zusätzlich extrem teuer – Angehörige und Pflegebedürftige selbst versuchen meist die Inanspruchnahme einer Pflegeeinrichtung solange wie möglich hinauszuzögern. Familien die keine Kapazitäten mehr haben die Angehörige*n zuhause zu versorgen, einfach mal ein paar Tage Pause benötigen oder erst auf Heimatbesuch erkennen, dass die Angehörige*n nicht mehr alleine klarkommen, weisen diese dann zu den Feier – oder Ferientagen ein.

Vernachlässigung weit verbreitet

Ich habe dieses Phänomen nun immer wieder, in unterschiedlichen Kliniken, beobachten müssen – zu Weihnachen, Ostern, Sommerferienzeiten. Bereits vor der Pandemie war dies der Fall, nun mehr den je. Immer wieder kommen Patient*innen in einem (sehr) schlechten Versorgungszustand ins Krankenhaus. Die Beschwerden fallen in das selbe Schema: HWI mit Exikose, Somnolent mit Exikose, Durchfälle unbekannter Herkunft, Versorgungsprobleme. Übersetzt bedeutet dies in etwa, dass die Patient*innen extremen Flüssigkeitsmangel haben und nicht ansprechbar/verwirrt sind oder zusätzlich an einer Blasenentzündung leiden.

Das Problem der Durchfälle ist dann oftmals entweder im Krankenhaus nicht zu beobachten oder lässt sich auf die Medikamente wie z.B. Magnesium oder Eisenpräparate zurückführen. Teilweise werden Personen so verwahrlost eingewiesen, dass selbst die abgebrühteste Krankenpflegekraft ins Schlucken gerät. Obwohl ich in meinem Beruf schon viele schlimme Dinge, viele tragische Schicksale und viel Gewalt gesehen habe, ist die Vernachlässigung eines hilfebedürftigen Menschen das, was mich am meisten belastet.

Wenn sich der Gesundheitszustand eines Menschen verschlechtert weil WIR unsere Aufgabe nicht gewissenhaft erfüllen – das macht mich unsagbar wütend.

Die Station, welche ich momentan unterstütze, fordert mich unglaublich – körperlich und mental. Patient*innen quer aus dem internistischen Krankheitsspektrum zusammen gepfercht in 3 – Bett – Zimmern, welche ursprünglich 2- Bett-Zimmer waren, über 60 insgesamt. Es gibt Covid-19, Influenza, Norovirus oder Tuberkulose-Zimmer.
Sich im Alkoholentzug befindliche gastroloenterologische Patient*innen schreien verwirrt nach Hilfe, neben Patient*innen mit einer Lungenentzündung oder entgleistem Blutdruck. Die Arbeit ist hart, die Tage lang und ich habe keine Pause oder kann mich mal hinsetzen.

Trotzdem werden wir einfach nicht fertig mit der Arbeit, wir rennen durch die Schicht und haben immer noch nur das Nötigste geschafft. Wir sind 4 Personen, davon 2 nicht aus dem Stammpersonal – zuständig für über 60 schwerkranke Personen. Betten bleiben fleckig, der ein oder andere verwirrte Patient*in klettert aus dem Bett und fällt hin oder läuft weg. Das entlastende Gespräch oder die liebevolle Geste kommt viel zu kurz, Kaffee zum Nachmittag? Leider nicht drin, Hr. X ist erneut von Station abgehauen und Frau Y hat mir gerade ins Gesicht gespuckt, es tut mir wirklich leid!

Ich verstehe also Personalmangel, Überforderung, Verzweiflung, keine Zeit und Zeitdruck. Trotzdem sind die Grundbedürfnisse meiner Patient*innen gedeckt – mehr aber auch nicht, obwohl ich es versuche. Ich überwache ihren Gesundheitsstatus ausführlich, rufe auch gerne 15x beim Arzt an, damit etwas geschieht. Auch sorge ich dafür, dass sie ausreichend Flüssigkeit erhalten, nicht in ihrem Schmutz liegen, regelmäßig umgelagert werden und sicher Essen können – ohne Gefahr sich zu verschlucken.

In immer höherer Frequenz neu*e Patient*innen

Kaum ist ein Bett frei klingelt das Telefon, am anderen Ende die Notaufnahme, in immer höherer Frequenz kommt dann der befürchtete Satz „Ich brauche noch ein Bett (…), ist aber ein Päckchen!“

Die Kolleg*in aus der Notaufnahme fährt den Neuzugang ins Zimmer, wirft uns einen mitleidigen Blick zu und zuckt die Schultern „Keine Sorge! DNR DNI!“ (Keine Reanimation, keine Intubation gewünscht – die Kollegin bringt zum Ausdruck das der*die Patient*in versterben darf und wir uns daher weniger Sorgen um ihren Zustand machen sollen) und verschwindet im Aufzug. Wir ziehen uns Schutzkittel an und machen uns auf den Weg ins Patient*innen-Zimmer, angekündigt war diese Person mit einer Sepsis unbekannter Herkunft, eingewiesen aus einem Pflegeheim.

Die Haut ist gräulich, die Haare verfilzt und auf Ansprache gibt es außer einem schwachen Stöhnen keine Reaktion. Eigentlich wollten wir nur die Vitalzeichen aufnehmen, den aktuellen Status evaluieren und evtl. bereits Infusionen anhängen, aber den Plan verwerfen wir umgehend. Der Neuzugang liegt im Nassen (das Inkontinenzmaterial hat nicht gehalten und die Bettwäsche ist durchgeweicht), in einer hellbraunen leicht schleimigen Flüssigkeit – Durchfall vermute ich und zwar wie Wasser. Mein Kollege beginnt das Bett abzuziehen, während jene*r Patient*in noch drin liegt und ich flitze los, Waschlappen, Bettbezüge, Saugunterlagen und ein Stuhlprobenröhrchen zu holen.

Bei meiner Rückkehr hält mein Kollege die Überreste eines Blasenverweilkatheters in der Hand, die kleine wassergefüllte Blase welche den Schlauch in der Harnblase fixiert ist so erodiert, dass der Katheter einfach rausgefallen ist. Seine Augen sind am Tränen und er ist sehr, sehr blass. „Das ist kein Stuhlgang! Das kommt aus der Blase!“, sagt er mit sichtlichem Entsetzen und ich hoffe, dass unser*e Patient*in so somnolent ist, dass der Ekel meines Kollegen nicht ins Bewusstsein durchdringt. Wir entscheiden uns einen neuen Katheter zu legen, wundern uns, ob diese*r Patient*in vielleicht Blasenkrebs hat, komplett sprachlos über das Ausmaß der Infektion.

Der Körper des Neuzugangs ist übersät mit kleinen Druckstellen (Dekubiti) welche davon zeugen, wie lange diese*r Patient*in unbeweglich auf einer Falte in der Kleidung oder Bettwäsche gelegen haben muss. Die Füße, generell ein Indikator für den Versorgungszustandes einer Person, sind sehr ungepflegt – lange, brüchige, pilzbefallene Fußnägel und alter Schmutz zwischen den Zehen. An der Ferse ein einfaches Pflaster, welches schon recht durchgenässt ist. Ein schneller Blick drunter enthüllt schwarz-grüne Haut und wir entscheiden, dass dies leider von dem Frühdienst ordentlich fotografiert werden muss, da wir eigentlich längst das Abendessen austeilen müssten und wir den Neuzugang noch waschen müssen. Das Ammoniak, welches von dem infizierten Urin hochsteigt, macht das Atmen im Zimmer langsam schwer. Bei dem Versuch, ob unser*e Patient*in schlucken kann, fällt uns eine lose Zahnteilprothese im Mund auf, ein Risiko sich zu Verschlucken.

Einem nicht komplett zurechnungsfähigen Menschen in den Mund zu fassen ist immer mit der Gefahr verbunden, dass man gebissen wird – feste.

Ich versuche also zaghaft die Prothese zu entfernen aber sie ist locker und fest zugleich, der Mundgeruch so stark, dass ich ihn trotz Mundschutz und verstopfter Nase wahrnehme. Mit einem festen Ruck gewinne ich den Kampf gegen die störrische Protese, unser*e Patient*in reagiert nicht, aber mein Kollege fängt bei dem aufsteigenden fauligen Geruch umgehend an zu würgen, er hat seine Ekelgrenze erreicht und stürmt aus dem Zimmer. Ich starre währenddessen sprachlos auf die verdreckte, mit Zahnstein bewachsene Prothese in meiner Hand. An zwei Stellen sind die braunschwarzen Überreste von  Zähnen zu erkennen. Kalter Hass überkommt mich, sobald mir klar wird, dass ich erstens gerade jemandem zwei Zähne gezogen habe und zweitens wie lange diese Prothese nicht mehr herausgenommen und geputzt worden ist.

In einem Pflegeforum habe ich aus Interesse gefragt: was dann? 

Später verlange ich diesen Umstand zu melden, für einen Moment erwäge ich sogar, in dem Pflegeheim vorbei zu fahren und jemandem ins Gesicht zu schreien – Wut ein ständiger Begleiter über den Rest des Tages. Meine Vorgesetzten willigen ein, die Pflegedienstleitung über den desaströsen Zustand der Bewohner*in zu informieren … als wüsste diese nicht, wie die Lage in dem Haus ist. Manchmal hat man solche Fälle oder ähnliche, wo Menschen so exikiert sind, dass sie Organversagen haben.

Wo meldet man solche Pflegefehler? Was tut ihr dann – außer eure Kolleg*innen hassen und den Glauben an die Menschheit zu verlieren? Viele stimmten mir zu, dass dieses Phänomen bekannt ist. Andere wiesen, zu Recht, auf die teils unhaltbaren Zustände hin, in denen Bewohner*innen aus dem Krankenhaus zurück geschickt werden. Das Problem ist also ein globales im Gesundheitswesen!

Aber … Zahlen? Daten? Statistiken? Ich habe keine gefunden. Man meldet es den Vorgesetzten, vielleicht der Krankenkasse oder mal dem MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen), aber wirklich öffentlich zugänglich sind die Informationen nicht. Die Dunkelziffer muss astronomisch sein. Wenn es keine Angehörigen gibt, die Anzeige erstatten, dann gibt es auch kaum offen sichtbare Daten zu den Vernachlässigungen in Gesundheitseinrichtungen … oder wie viele Pflegebedürftige mehr schlecht als recht zuhause versorgt werden, da Pflegeheime (manchmal) schrecklich sind, das Vertrauen fehlt und all dies sehr kostenaufwendig ist – Altersarmut steigt in Deutschland.

Dabei wären genau diese Daten eine ehrliche, schmerzhafte Aussage zum realen Stand des Gesundheitssystems, denn wenn Menschen in Pflegeeinrichtungen (beinahe) verdursten, ausgelaugte Angehörige aus Angst oder Armut zuhause versuchen, die Versorgung zu gewährleisten und in Krankenhäusern Patient*innen bis auf die Grundbedürfnisse vernachlässigt werden, dann sieht es ganz dunkel für die Zukunft aus – und die Menschlichkeit hat längst den Chat verlassen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/nackt/feiertage-und-vernachlaessigung/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert