11.06.2024 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 29 | Politik | Rezension
It’s not the Verfasstheit!
Die EU hat ein »Demokratiedefizit«? Leute! Die ewige Klage über angeblich nicht funktionierende Institutionen hat bei der Europawahl besonders den EU-Gegnern genutzt. Es wird höchste Zeit, die existierende EU als politische Arena zu stärken
Text: Martin Unfried
Theater, Maastricht, an einem Mittwoch vor der Europawahl: etwa tausend junge Leute aus ganz Europa sind wegen der Zukunft der Europäischen Union gekommen. Die meisten sind Studierende der hiesigen Universität. Die versteht sich zu Recht als europäisch, die Sprache der meisten Studiengänge ist nicht Niederländisch, sondern Englisch, wie auch die Sprache der Veranstaltung an diesem Abend. Mehr als 60 Prozent der Studierenden kommt nicht aus den Niederlanden, sondern aus anderen EU-Mitgliedstaaten. So passt das Publikum zum Gebotenen: junge Leute, die wissen wollen, welche Politik die europäischen Parteienfamilien durchsetzen wollen, wenn sie im europäischen Parlament nach den Wahlen Mehrheiten finden. Es geht also an diesem Abend mal nicht, wie so oft bei EU-Debatten in der nationalen Arena, um die aktuellen deutschen, niederländischen oder spanischen Befindlichkeiten. Und am Ende nur darum, was das EU-Wahlergebnis für die bundesdeutsche Regierung und Opposition bedeutet.
»ES IST SCHADE, DASS SO EIN ZUSAMMENTREFFEN DER EU-SPITZENKANDIDATINNEN NICHT GANZ NORMAL UM 20.15 UHR IN DER ARD AUSGESTRAHLT WIRD.«
Im Folgenden soll es wirklich um die EU gehen, um tatsächliche und nur behauptete Defizite. Tatsächlich gibt es mit Blick auf die europäische Öffentlichkeit Probleme. Wie man in Deutschland sehen kann, interessieren sich Medien meistens wenig für die Arbeit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments oder der Kommission, das gilt auch für Qualitätsmedien. Die Themen der Europawahl hießen in Deutschland AfD, Ampel und Friedrich Merz. In den Niederlanden war das Thema Geert Wilders. Diese groteske Nationalisierung ist 2024 immer noch ein wesentliches Problem der Europäischen Union, weil es einen echten europäischen Wahlkampf, inklusive europäischer Debatten zur Arbeit des Parlaments der letzten fünf Jahre verhindert. Bei der Wahlveranstaltung in Maastricht ging es wirklich um europäische Politik; es wurde gestritten um die richtigen europäischen Konzepte und Prioritäten. Eine Liberale forderte mehr europäische Waffen für die Ukraine und eine Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik. Ein Linker den Einsatz der Europäischen Union für Friedensverhandlungen. Ein Grüner kritisierte den Abbau des European Green Deal, worauf eine Christdemokratin eine Rücknahme der europäischen Regeln für Landwirte verteidigte. Es wurde sogar richtig ungemütlich, als ein europäischer Rechtsextremer versprach, die aus seiner Sicht »korrupte« Kommissionspräsidentin sofort zu feuern, wenn seine politische Fraktion, nämlich »Identität und Demokratie«, eine Mehrheit bekäme. Und als der Linke, ein Österreicher, eben jene Ursula von der Leyen auf Englisch fragte, ob in Gaza nicht jeder Tag ein 7. Oktober sei, war das selbst für die ewig Lächelnde nicht einfach zu parieren.
So könnte eine ganz normale hitzige Debatte der Spitzenleute eben jener politischen Parteien aussehen, die im Parlament Fraktionen bilden. Genau das sollte sich mit der Idee der Spitzenkandidatïnnen etablieren, die vor zehn Jahren mit dem Streit zwischen Jean-Claude Juncker und Martin Scholz vom Europäischen Parlament zum ersten Mal erfolgreich lanciert wurde. Personalisierung heißt das Zauberwort. Deshalb ist es auch schade, dass so ein Maastrichter Zusammentreffen der Spitzenkandidatïnnen eben nicht ganz normal um 20.15 Uhr live in der ARD und in den öffentlich-rechtlichen Programmen der anderen nationalen Sender ausgestrahlt wird.
Warum ist das nicht »normal«?
Weil der europäische Wahlkampf niemanden interessiert, wenn er nicht national ist? Weil sich die Europäerïnnen auf Englisch stritten und man Teilen des Publikums keine Übersetzung zumuten konnte? Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der BSP Business & Law School Berlin. An einem Tag im Frühsommer sitzt Thiele, 45, dort auf der Terrasse der Cafeteria – jugendlicher Habitus, Bart – und spricht von einem strukturellen Problem. Für die Funktionsfähigkeit demokratischer Ordnungen spiele eine genuin europäische Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle, weil die es erst ermögliche, europäische Themen in einem grenzüberschreitenden europäischen Diskursraum zu verhandeln. Allerdings stellt er fest, dass der politische Streit auf der europäischen Ebene immer noch als Defizit beschrieben wird. Jedes politische Problem, beispielsweise die ewig langen Nachtsitzungen der Staats- und Regierungschefs würden nicht als gewöhnliche, vielleicht sogar wünschenswerte Auseinandersetzung gesehen, sondern mit der »defizitären Institutionen- und vertraglichen Ordnung verknüpft, die das Politische noch nicht endgültig hat überwinden können«. Dahinter stecke, sagt Thiele, der Wunsch nach dem europäischen Raum der technokratischen Lösungen, die den politischen Streit ausschalte. Thiele, das sollte man vielleicht erwähnen, scheint selbst alles andere als ein Technokrat zu sein. Wenn er von der EU spricht, dann voller Leidenschaft.
In seinem aktuellen Buch Defekte Visionen beschreibt er schlüssig, dass die bisherigen Visionen zur Zukunft der EU vom Wunsch geprägt waren, durch die Veränderung der Verfasstheit zur besseren Politik zu kommen. Und zwar durch die Änderung der Verfahren und nicht durch eine Erweiterung der Arena des politischen Streits.
»Defekt« in diesem Sinne waren beispielsweise die prominent vorgetragenen Visionen der Vergangenheit von Joschka Fischer über Emmanuel Macron bis zu Olaf Scholz und der jüngsten Konferenz zur Zukunft Europas: Mal seien es die fehlenden Kompetenzen, mal die institutionelle Struktur, mal die verfehlten Abstimmungsmodalitäten und manchmal einfach der Status quo per se, die eine Lösung verhindern würden. Sieben Jahre nach seiner ersten Sorbonne-Rede hat nun Frankreichs Präsident Macron vor der Wahl nochmals betont, dass es nur im bescheidenen Maße gelungen sei, Europa demokratischer zu machen. Dabei war es Macron, der die Idee eines europäischen Wahlkampfes mit Spitzenkandidatïnnen massiv beschädigt hatte, als er vor fünf Jahren den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber als Kommissionspräsident verhinderte.
»ALEXANDER THIELE BESCHREIBT, DASS DER POLITISCHE STREIT IN DER EU IMMER NOCH ALS DEFIZIT BESCHRIEBEN WIRD UND NICHT ALS WÜNSCHENSWERTE AUSEINANDERSETZUNG.«
Nicht zuletzt durch die ständige Betonung der Defizite der Verfasstheit trägt auch Macron zu einem politischen Phänomen bei, dass im Wahlkampf 2024 wieder eine Rolle spielte. Ein Beispiel von links: Für Sahra Wagenknecht ist die EU inhaltlich ein neoliberales Projekt, weit entfernt von linken Vorstellungen. Jedoch thematisiert sie als Ursache nicht das Fehlen linker Mehrheiten im Parlament, sondern die »abgehobene Politik ferner, demokratisch kaum kontrollierter EU-Technokraten«. Im Europaprogramm ihrer Partei heißt es, die EU in ihrer aktuellen Verfassung schade der europäischen Idee, und viele Menschen empfänden dies zu Recht als Angriff auf die Demokratie und als Bedrohung für ihre Kultur und Identität. Auch das ist eine Vision: die EU abbauen, das »echte« (wahrscheinlich sozialistische) Europa aufbauen. Die Behauptung, die EU sei undemokratisch und funktioniere nicht, klingt deshalb gar nicht so falsch, weil eben selbst die Freunde einer stärker integrierten Europäischen Union wie Macron ständig davon reden.
Ein anderes Beispiel von der extremen Rechten: der Niederländer Geert Wilders hat inhaltlich ein Problem mit der europäischen Klimapolitik, mit Migration und dem Schengen-Raum mit seinem freien Personenverkehr. Aber wie Wagenknecht beschrieb auch er in seinem Wahlprogramm die EU in erster Linie als undemokratische Bürokratie: »Wir« sollten uns nicht den Launen der nicht gewählten Kommissare in Brüssel ausliefern, sondern nationale Souveränität zurückholen. Das Muster ist dasselbe: Wem der Inhalt der Politik der Europäischen Union nicht passt, der thematisiert nicht etwa – wie auf der nationalen Ebene – das Problem fehlender Mehrheiten für eine andere Politik, sondern schlägt auf die Verfasstheit ein.
»HIER LIEGT DIE STÄRKE DER EU: SIE FUNKTIONIERT ALS GESETZGEBUNGSMASCHINE. TROTZ MÜHSAMER KOMPROMISSE ZWISCHEN 27 STAATEN.«
Alexander Thiele beschreibt übrigens in seinem Buch ausführlich die Frage, wie defizitär die EU nun wirklich istsei. Und Überraschung: Die Europäische Union weise mit ihren beiden formalen Legitimationssträngen – dem direkt gewählten Europäischen Parlament einerseits und dem indirekt demokratisch legitimierten Rat andererseits – ein beachtliches Legitimationsniveau auf. Im Übrigen führe der Vergleich mit nationalen Maßstäben nur bedingt weiter, da in jedem der 27 Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich und auch kulturell sehr unterschiedliche Gewichtungen gälten. Beispiel Bundesverfassungsgericht, das bis heute in der EU das staatliche Prinzip der Wahlrechtsgleichheit beeinträchtigt sieht, weil proportional mehr luxemburgische Abgeordnete im EU Parlament sitzen als deutsche. Dabei sei das Verfassungsgericht mit Blick auf den deutschen Föderalismus nicht ganz so streng: In Deutschland, schreibt Thiele, sei mit dem Bundesrat etwa ein Organ an der Gesetzgebung beteiligt, das in dieser Hinsicht beachtliche Ungleichheiten aufweise, die in der Rechtsprechung mehr oder weniger ignoriert würden. Und selbstverständlich wird in Deutschland nicht in jedem nationalen Wahlkampf der Föderalismus als solcher infrage gestellt und schon gar nicht die Übertragung oder der Rückbau der Souveränität vom Bund zu den Ländern gefordert. Denn obwohl die Bundesrepublik Defizite aufweist, wird das Funktionieren des Gesetzgebungsprozesses nicht ständig infrage gestellt.
Hier liegt überraschenderweise eine Stärke der EU: Sie funktioniert. Sie funktioniert als Gesetzgebungsmaschine. Trotz mühsamer Kompromisse zwischen 27 Mitgliedstaaten und dem Parlament kommen Rechtsakte, wie beispielsweise zum Klimaschutz, in überschaubarer Zeit zustande, wegen einer Routine und auch informellen Praktiken, die sich auf der Basis heutiger Verträge etabliert haben. Dieses Funktionieren hat erst einmal nichts mit dem politischen Inhalt zu tun, der einem mehr oder weniger gefällt. Wo es hakt, wie bei der Migration oder der Ukraine, stehen oft tatsächlich unvereinbare politische Haltungen dahinter. Ob hier eine Mehrheitsentscheidung und das Überstimmen einzelner Mitgliedsstaaten helfen würde, ist zweifelhaft.
Die Einsichten Alexander Thieles stehen konträr zum Mainstream: Es sollte eben nicht um eine fundamentale Reform des bestehenden institutionellen Systems gehen, da das heutige Zusammenspiel zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission die historisch gewachsenen Besonderheiten der Europäischen Union »prinzipiell adäquat abbilden«. Damit stellt Thiele zu Recht den ganzen Mythos vom Demokratiedefizit infrage. Weitergehende Änderungen, wie Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik oder auch die sympathisch klingende Einführung transnationaler Listen werden das Demokratieproblem eben nicht per se lösen, sondern können neue Legitimitätsprobleme hervorrufen. Es geht gerade nicht um den angeblichen großen Wurf, es geht um pragmatische Anpassungen.
Vor allem geht es um Politik, Öffentlichkeit, Mehrheiten und Streit.
Text: Martin Unfried
Zum Buch: Alexander Thiele (Wikipedia): Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union. Campus 2024 – 155 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3-593-51881-7
https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/politikwissenschaft/defekte_visionen-17984.html, (archive.org-Version)
https://d-nb.info/1306934087
Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), PulseOfEurope Cologne 2017-02-19-9925, Zuschnitt, CC BY-SA 4.0
11.06.2024 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 29 | Seite 50-52 | taz.futurzwei.org | Magazin für Politik und Zukunft | Titelthema: Kann der Westen weg? | Politik | Rezension: Alexander Thiele: Defekte Visionen | It’s not the Verfasstheit! | Die EU hat ein »Demokratiedefizit«? Leute! Die ewige Klage über angeblich nicht funktionierende Institutionen hat bei der Europawahl besonders den EU-Gegnern genutzt. Es wird höchste Zeit, die existierende EU als politische Arena zu stärken | Schlagwörter: Europäische Union, europäischer Wahlkampf, europäische Politik, Verfasstheit, Zukunft, Vision, Legitimationsniveau, Mythos vom Demokratiedefizit | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried
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https://d-nb.info/1306934087
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Thiele_(Rechtswissenschaftler)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PulseOfEurope_Cologne_2017-02-19-9925.jpg
https://oekotainment.eu/archiv/html/its-not-the-verfasstheit
https://oekotainment.eu/20240611a
https://taz.de/!p5099/
http://taz.futurzwei.org
https://futurzwei.org/
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