vonLalon Sander 21.11.2016

Aus dem Onlinebunker

Die tägliche Arbeit im taz.de-Ressort spült Bemerkenswertes, Skurriles und Anregendes in die Inboxen. Das meiste davon geht verloren – einiges wird hier gesammelt.

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Drei Beobachtungen und eine Frage, betreffend die Notwendigkeit des freien und frei zugänglichen Journalismus im Internet

Beobachtung 1: Als am 15. April 2013 drei Menschen durch Bombenattentate auf dem Boston Marathon starben, entschied die Zeitung Boston Globe, ihr sonst kostenpflichtiges Angebot im Netz frei zugänglich zu machen. Als erste Nachrichtenquelle aus dem Chaos war das Medium über Tage die wichtigste Adresse für Menschen aus der Stadt (und Interessierte aus aller Welt), um über den Fortgang der dramatischen Ermittlungen informiert zu bleiben.

Der Gedanke hinter der Öffnung des Angebots auf der Webseite ist so simpel, wie überzeugend: Wenn Medien sich als wesentliche Säule des Gemeinwesens verstehen, in allererster Linie berichten und überzeugen wollen, müssen sie in Momenten der Unsicherheit und gefühlter wie tatsächlicher Bedrohungen mit aller Macht daran arbeiten, Menschen mit gesicherten Fakten zu versorgen. Eventuell lebenswichtige Informationen hinter einer Paywall zu verbergen, liefe dem Aufklärungsanspruch und einer grundlegenden gesellschaftlichen Verantwortung völlig zuwider. Ganz nebenbei war die Öffnung der Webseite auch ein Marketingerfolg für den Boston Globe – als zitierfähige und verlinkbare Quelle war die Zeitung in den Tagen nach dem Attentat allgegenwärtig.

Beobachtung 2: Mitten in der sich zuspitzenden Debatte um das Erstarken des Rechtspopulismus (ach, wir sind doch unter uns, also: Faschismus), den Anbruch des sogenannten postfaktischen Zeitalters und gar das Ende der liberalen westlichen Demokratie, kämpfen nicht wenige klassische Medien um ihr wirtschaftliches Überleben. „Nicht verschenken“ möchten die Qualitätsmedien ihren Journalismus, der sei schließlich ein Produkt qualifizierter Arbeit, die ihren Preis haben müsse.

Sie beklagen eine „Kostenlos-Kultur“ im Netz, nicht wenige haben sich den Kampf gegen diese auf die Fahnen geschrieben und versuchen mit verschiedenen Paywall-Modellen die Verluste aus dem seit Jahrzehnten rückläufigen Anzeigengeschäft auszugleichen. Das Internet, vor allem aber Google und immer wieder Facebook werden als die Schmarotzer gesehen, die den wertvollen Content abgreifen und erfolgreich monetarisieren. Gleichzeitig werden die immerhin ausfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland dazu gezwungen, ihre Inhalte im Netz nur befristet zugänglich zu machen.

Beobachtung 3: Kein Trollblog versteckt seinen Dreck hinter einer Paywall. Ein Hassprediger ohne Facebookaccount wäre ein einsamer Idiot, statt Lautsprecher für Tausende oder gar Millionen zu sein. Die Lüge, der Hass, die Verleumdung, die Hetze – all das ist kostenlos zu haben. Zumindest fürs Erste. Abgeschobene, Verprügelte, Ermordete, Verarmte und Verfolgte erfahren am eigenen Leib, dass für jede Lüge letztlich immer jemandem die Rechnung präsentiert wird. Aber einem Paywall-Layer über Fakenews und Nazihetze werden wir eher selten begegnen.

Frage: Wenn wir das Erstarken der radikalen Rechten als mehr begreifen, als einen vorübergehenden Schluckauf der Demokratie, wenn wir Sorge haben, dass die westliche Demokratie auf eine Katastrophe zusteuert und die Linke ganz allgemein keine schlüssige Antwort auf diesen Zustand findet, wenn uns die Übermacht der unverschämten Lügen fast sprachlos macht, wenn wir nicht mehr wissen, warum Menschen ihresgleichen so sehr hassen, dass Figuren wie Trump, Le Pen, Petry et al ihnen als valide Alternativen zu Stillstand, (gefühltem) Abstieg und als geeignete Fackelträger der Rückbesinnung auf ihren jeweiligen nationalen Mythos erscheinen – ist dann der Rückzug hinter Paywalls nicht genau die falsche publizistische Strategie?

Ich bin mir des Problems mangelnden verlegerischen Spielraums bewusst. Wie Geld im Netz zu verdienen wäre, ist keine banale Frage für Medien, sondern eine überlebenswichtige. Für eine Gesellschaft im Umbruch jedoch ist sie nachrangig. Niemand wird in 5, 10 oder 30 Jahren fragen, ob das metered Modell bei Medium A, die harte Paywall bei B oder die Fokussierung auf Werbeumsätze bei C besonders erfolgreich war, während gleichzeitig auf allen Kanälen der harte Kampf, nicht um die Deutung von Fakten, sondern um die Fakten als Grundlage jeder Diskussion selber geführt wurde. Niemand wird applaudieren, wenn wir einst berichten werden, dass diese oder jene kluge Analyse von mehreren hundert LeserInnen mit 99 Cent bezahlt wurde. Wir werden uns fragen lassen müssen, wie Legionen kluger, denkender Menschen sich hilflos in ihren Kleingarten zurückzogen und von einer Propagandamaschine überollen ließen, deren Mittel der Wahl die Amplifizierung von Ängsten, Ressentiments und offenem Hass ist, um den Zweck politischer Wirkungsmacht zu erreichen, die in ein neues, weltweites autoritäres Zeitalter münden kann.

Journalismus ist, wenn er es überhaupt je war, nicht mehr die unabhängige beobachtende Instanz, die objektiv und ausgeruht Ereignisse berichtet und sie abwägt. Bereits die sachliche Darstellung überprüfbarer Fakten trifft schließlich auf heftigsten Widerstand, macht JournalistInnen zur Partei, im Konflikt eben nicht nur um die „Wahrheit“, sondern bereits um Wahrnehmung faktischer Wirklichkeit. Wie kann unter diesen Umständen anders reagiert werden, als mit dem Kampf um maximale Reichweite? Wenn der Boston Globe für einen Doppelanschlag auf den Marathon seine Paywall fallen lässt, weil er seine Verantwortung für das Gemeinwesen ernst nimmt, wie können Medien angesichts des fortwährenden Anschlags auf die Demokratie Bezahlschranken überhaupt einführen und sich noch ernsthaft als Teil der demokratischen Öffentlichkeit beschreiben?

Natürlich brauchen JournalistInnen Geld. LeserInnen müssen zahlen, wenn sie wollen, dass es eine starke, unabhängige und objektive vierte Gewalt gibt. Damit diese Gewalt aber wirklich Kraft entwickelt, sollten alle, die bereit sind zu zahlen, ihren Beitrag an eine Bedingung knüpfen: Dass nämlich der Content unter gar keinen Umständen exklusiv sein darf, dass er gerade allen zur Verfügung gestellt werden muss. Kostenlos. Auf allen Kanälen. Auch auf Facebook. Gerade auf Facebook. Denn nur so gibt es Hoffnung, dass in der unendlichen publizistischen Jauchegrube des Hasses und Terrors auch Stimmen der Vernunft, der Wirklichkeit und Wahrheit zu finden sind.

Anekdote: Die us-amerikanische Wochenzeitung The Nation hält auf ihrer Webseite einen Beitrag vor, der sich mit dem Boston Globe und seinem Umgang mit den Anschlägen beschäftigt. Er hat den Titel „What the Boston Globe got right and why it should change how papers think“. Ich hätte ihn gern gelesen, jedoch informiert mich ein Layer über dem Text: „You’ve read all of your free articles“ (siehe Bild oben). Keine Pointe.

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