Krisztián Ungváry ist promovierter Historiker. Er forscht vor allem zu Ungarn im Zweiten Weltkrieg. Auf Deutsch erschien seine Monografie „Schlacht um Budapest 1944/45“. Seine auf Ungarisch veröffentlichten Werke umfassen unter anderem Monografien über das Horthy-Regime und dessen Verantwortung für den Holocaust. Er ist ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der autoritären politischen Rechten Ungarns.
- Viktor Orbán hat davon gesprochen, dass die Zeit kommen wird, in der man die ungarischen Grenzen nicht nur nach Süden, sondern auch nach Westen verteidigen werden muss, Schengen hin oder her. In diesem Zusammenhang hat er vor der Vermischung der „Rassen“ gewarnt. Wie war das gemeint?
Das darf man nicht wörtlich nehmen, auch wenn man es nicht bagatellisieren darf. Er kann nicht von heute auf morgen die Grenzen schließen innerhalb der EU. Die Sprache, die er benutzt, ist rassistisch, aber sie wird keine konkreten Konsequenzen haben. Es ist in Ungarn nicht mit „Rassegesetzen“ zu rechnen.
- Welche Folgen hat diese Rede für Ungarn?
Das ist alles nicht neu. Seit zwölf Jahren bedient sich diese Regierung rechtsradikaler Mythen und Personen. Antisemitische Autoren wie Albert Wass und Cecil Tormay wurden beispielsweise rehabilitiert. Schlimmer aber ist der hasserfüllte Putin’sche Diskurs und die russische Propaganda, mit der die Bevölkerung in den staatlichen Medien täglich gefüttert wird. Orbán unterscheidet sich moralisch nicht von Putin und Lukaschenka. Beeindruckend ist, dass Orbán ein Putin’sches Regime ohne Gewalt gegen Oppositionelle einführen konnte. Putin und Lukaschenka sollten eigentlich bei Orbán in die Lehre gehen.
- Die EU verhindert das Schlimmste vielleicht durch ihren rechtlichen Rahmen. Aber braucht Orbán die EU überhaupt oder kann er nicht einfach austreten?
Ein Austritt wäre eine politisch-ökonomische Katastrophe und würde auch seine Macht bedrohen. Da Jobbik nun mit der linken Opposition zusammenarbeitet, versucht Orbán das gesamte rechte Spektrum von gemäßigt bis extrem abzudecken. Er hat sich vielleicht in eine ähnliche Sackgasse hineinmanövriert, wie die britischen Tories als sie in den Brexit hineinstolperten. Aus der rechtspopulistischen Rhetorik gegen die EU gibt es vielleicht auch in Ungarn kein Zurück mehr.
- Vielleicht ist Orbán dann gar kein so guter Stratege. Er scheint eine Vision von einem möglichst autonomen Ungarn zu haben. In der Praxis ist er auch ein hervorragender Taktiker, der seine Gegner gut ausspielen kann. Aber hat er wirklich eine echte Strategie, die ihn zu seinem Ziel eines autonomen, starken Ungarn leitet?
Ein schlechter Stratege ist er nicht. Die EU hat sich von ihm schon zwölf Jahre verarschen lassen. Und zu einer Kritik an Orbán gehört auch eine Kritik an der deutschen Industrie. Ich schildere Ihnen ein Beispiel. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat nach seiner Amtszeit Ungarn besucht, um sich ein Bild von der Situation der Demokratie im Land zu machen. Er hatte zehn Industriebosse, unter anderem von Bosch und Siemens und zehn Ungarn-Experten an seiner Seite. Die Experten hielten Vorträge und erklärten, was in Ungarn falsch läuft. Einer von ihnen erläuterte den Versammelten, wie die Regierung Werbeanzeigen nutzt, um regierungsnahe rechte Medien zu fördern und oppositionelle wegzukonkurrieren. Gauck fragte darauf hin die Wirtschaftsvertreter, warum sie nicht auch einmal in einer oppositionellen Zeitung inserieren, um die Verzerrung durch die Regierung auszugleichen. Die Wirtschaftsvertreter antworteten lapidar, dass sie in diesen Medien keine Kunden hätten. Was ein Witz ist, wenn man bedenkt, dass gerade auch zahlungskräftige Ungarn oft keine Fidesz-Anhänger sind. Sie sehen, die deutsche Wirtschaft sitzt bei Orbán mit im Boot und hat in der deutschen Ungarnpolitik sicher ein gewichtiges Wort mitzureden.
- Orbáns Vision scheint ein möglichst autonomes Ungarn zu sein. Die Aufrüstung der Armee wurde schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine begonnen.
Ich glaube, das ist nur eine Bestechung der deutschen Industrie, die Bestellungen bekommt.
- Aber ist das Narrativ von einer starken Armee nicht wichtig, um die Ungarn darauf vorzubereiten, dass Ungarn aus den westlichen Bündnissen auch austreten könnte, wenn man von diesen zu viel kritisiert wird?
Doch, vielleicht. Aber am Ende kommt es darauf an, ob auch Putin das Narrativ einer starken ungarischen Armee glaubt. Und das wird er kaum.
Ich bin mir nicht so sicher, dass sich der Reichsverweser, pardon, Ministerpräsident, nicht doch noch von der Landkarte Medwedjews verführen lässt. Es ist doch bestimmt verlockend, das „Kárpátalja“ zurück zu bekommen. Ein Stückchen der 1000jährigen Grenze der Heiligen Stephanskrone, und dann noch genau dort, wo die Magyaren einst über die Karpaten gekommen sind! Nur dumm, dass sich der „Bruder“ (Polen) mit dem „Erbfeind“ (Rumänien) verbündet hat und beide mit der Ukraine solidarisch sind und ihrerseits empört das vergiftete Angebot ablehnen.
Also, liebe EU, bitte stets ein Auge auf Ungarn haben und einschreiten, wenn’s nötig wird.