vonChristian Ihle 02.12.2009

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„Ich bin kein Dummkopf“, erklärte Pete Doherty dem Publikum immer wieder. Doch, dachten sich die meisten Anwesenden, du bist ein Dummkopf, lieber Pete. Sonst hättest du nicht kurz zuvor die erste Strophe des Deutschlandlieds angestimmt. Während eines recht konfusen Auftritts beim durchaus großartigen on3-Festivals im Münchner Funkhaus.

Das Gerücht, dass Pete Doherty, Sänger der Babyshambles, Ex-Sänger der Libertines, Ex-Freund von Kate Moss, „Skandalrocker“ (Bild) und einer der außergewöhnlichsten Songwriter unserer Zeit, als Überraschungsgast beim on3-Festival auftreten wird, war schon am Nachmittag im Umlauf. Bis Pete Doherty im Backstagebereich ankam und Festival-Insider erste Fakten von dort nach außen trugen: „Der Doherty ist sternhagelvoll. Ob er überhaupt auftreten kann, ist völlig unklar.“

Eine Münchner Journalistin war am Vortag mit dem Sänger einen Glühwein trinken und überredete ihn, am Samstag zum on3-Festival zu kommen. Doherty, der am Sonntag im Münchner Backstage auftreten sollte, war schon zwei Tage vorher angereist. Vielleicht auch, um alte Freundinnen zu treffen. Die Zeitungen berichteten tags zuvor von verschiedenen Tete-a-tetes, bei denen Doherty mal auf einem Frauenschoß im Backstageraum des Atomic Cafés landete, mal (so die Süddeutsche Zeitung) nackt auf einem geklauten Fahrrad zum (wieder) Atomic Café zurückradelte.

Als Pete Doherty am Samstag zum Münchner Funkhaus kam, hatte er gerade einen Spontanauftritt im Vorprogramm der Phenomenal Handclap Band (natürlich) im Atomic Café hinter sich. Und: Er hatte offensichtlich schon einiges genommen und nicht nur den Blues im Blut.

Vielleicht deshalb wurde das geplante Konzert der Hamburger Band Kettcar beim on3-Festival nach hinten verschoben. „Schiebt den Trunkenbold vorne ins Programm, solange der noch stehen kann“, schienen sich die Verantwortlichen gedacht haben. Und dann stand Doherty eben oben auf der Bühne und vor sich hatte er zahlreiche Stinkefinger und mies gelaunte Fans, die auf nichts anderes als auf Kettcar (mit vierköpfigen „Kammerorchester“) warteten und das auch offen mittels Fingerzeig klar machten.

Doherty, angeschlagen tänzelnd und sichtbar unsicher, versuchte das Beste draus zu machen. Fing immer wieder neue Lieder an und brach sie meist sofort ab. Eigene Stücke (ausgespielt: u.a. „Last of the English Roses“) und All-Time-Stimmungsschlager (ausgespielt: „Hit the Road Jack“, „Heard it through the Grapevine“, leider nicht ausgespielt: “I wanna be adored”) – das Publikum ließ sich nicht begeistern. Bis dem Sohn eines britischen Soldaten und ehemaligen Krefelder Grundschüler nichts Dümmeres einfiel, als die erste Strophe vom „Deutschlandlied“ anzustimmen.

Das Publikum reagiert umgehend mit noch mehr Stinkefingern, fliegenden Feuerzeugen und Buh-Rufen. Abgelöst wurden die von eifrigen „Kettcar, Kettcar“-Schlachtrufen.

Man muss den Kettcar-Fans keine Intoleranz vorwerfen, wie es einige Kommentatoren in eifrig geschriebenen Blog-Einträgen machten. Vielleicht waren die erwartungsfrohen Anhänger der Hamburger Herrenrocker im Schafspelz (eine Unplugged-DVD kam just in den Handel) übereilig in der Vorverurteilung, aber das man einen sturzbetrunkenen Pete Doherty ungefragt lieben muss, steht auch nirgends in Stein gemeißelt.

Dass Pete Doherty, ob in Reaktion auf die Anfeindungen aus dem Publikum oder aus purer Lust am Krawall, das „Deutschlandlied“ anstimmt, kann man nicht entschuldigen.

Und das war natürlich ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse, was noch während seines Auftritts, der nach ein paar Liedern dann endgültig von Moderatorin Nina Sonnenberg (aka Fiva) abgebrochen wurde, absehbar war. Wer würde zuerst vom neuerlichen „Skandal“ berichten? Bild.de? Die TZ? Und wie lange würde der britische NME, Dohertys Haus-und-Hof-Berichterstatter, brauchen, bis sie die Kunde vom neuen Doherty-Ausfall ins Vereinigte Königreich tragen?

Noch im Laufe des Festivals veröffentlichte on3.de eine Erklärung.

Am Sonntagnachmittag hatte die Geschichte zuerst tz-online.de, dann ging das Thema über die dpa-Ticker in die Redaktionsstuben und von dort sofort auch über bild.de und Spiegel online hinaus in die eifrig empörte Welt.

Die gedruckte TZ verfolgte den Vorfall weiter, fand im öffentlich-rechtlichen Bayerischen Rundfunk ein Opfer und titelte am Montag mit „Skandal beim BR – Rockstar grölt Nazi-Hymne live im Radio!“ und legte online gleich nach: „Skandal um Pete Doherty: BR spielt seinen peinlichen Auftritt herunter“.

Doherty selbst? Hat den Auftritt am verkaterten Sonntagmorgen wohl eh schon wieder vergessen. Bei seinem regulären Konzert im Münchner Backstage ist der Vorfall kein Thema mehr. Und als der Sänger am Montag die Stadt wieder verlässt, schickt sein Management noch eilig eine Entschuldigung raus.

Pete Doherty hat geliefert, was man von ihm erwartete: Einen handfesten Skandal, der sich schön verbreiten lässt. Auch die Kettcar-Fans konnten sich mal abreagieren. Und der normale Zuschauer beim on3-Festival kann wenigstens in den nächsten Tagen erzählen, dass er auch dabei war.

Das Festival selbst hat –auch ohne Pete Dohertys Zutun- große Aufmerksamkeit verdient. Denn das war (unter anderem mit den Young Fathers, Royal Bangs, FM Belfast und Chris Garneau) überragend gut kuratiert. Aber eine geschickte Band-Auswahl sorgte in den Medien nie für titelträchtiges Aufsehen. Pete, der Dummkopf, schon. (Säm Wagner)

Anmerkung:

Ergänzend möchte ich auf den sehr klugen Text des Blogkollegen Daniel Erk beim Bildblog zum entstandenen Blitzkrieg im Wasserglas hinweisen: hier

Die Tour geht weiter:
* Mittwoch, 2.12.2009, Kesselhaus Berlin

Weiterlesen über Doherty:

Teil 1: Time For Heroes, Anfang 2005
Teil 2: Up The Bracket, Oktober 2002
Teil 3: The Gang Of Gin. And Milk., April 2006
Teil 4: Why Did You Break My Heart?, Mai 2006
Teil 5: Anywhere In Albion, September 2006
Teil 6: König wider Willen, Februar 2007
Teil 7: Das Ende des Konjunktivs, Oktober 2007
Teil 8: Narziss und Goldkind, Juli 2009

Konzertkritiken:
* Pete Doherty solo in Berlin (Berlin 2009)
* Two Days Doherty: was bleibt nach der “Hymne”? (Hamburg & Berlin 2009)

Plattenkritiken:
* The Libertines – Best Of
* Babyshambles – Shotters Nation
* Peter Doherty – Grace/Wastelands
* Peter Doherty – Last Of The English Roses EP

Buchkritiken:
* Peter Doherty – Books Of Albion

Im Netz:
* Indiepedia
* Homepage
* MySpace

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https://blogs.taz.de/pete_-_wie_es_wirklich_war_der_doherty_und_die_hymne/

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