Von der Kontrolle der Medien in Chile und der fehlenden Sichtbarkeit der extremen Gewalt von Streitkräften gegen Demonstrant*innen
1. Wem gehören die Medien?
„Wir wussten, dass es Ungleichheit gibt- aber nicht, dass es sie so stark gestört hat“ kommentierte Polo Ramírez, der TV-Moderator des chilenischen Canal 13 vergangenen Mittwoch im Frühstücksfernsehen als Reaktion auf die massenhaften sozialen Proteste in Chile, die seit vergangener Woche ununterbrochen stattfinden. Die fehlende kritische Reflexionsfähigkeit dieser polemischen Äußerung steht bedauerlicherweise repräsentativ für ein grundlegendes Problem der chilenischen Massenmedien: das Fehlen einer kritischen Berichterstattung. Die unabhängige und kritische Presse in Chile ist im Gegensatz zu konservativen und regierungsnahen Kommunikationsmitteln eher marginal. Auch das Fernsehen ist der konservativen Regierung treu und vertritt tendenziell eher die Interessen der Elite. In Chile verfügen zwei Unternehmensgruppen über das Duopol der Massenmedien:
- El Mercurio Sociedad Anónima Periodística (El Mercurio S.A.P.)
Die Unternehmensgruppe El Mercurio S.A.P ist Eigentümer folgender Kommunikationsmittel: El Sur, La Segunda, Las Últimas Noticas, La Estrella, Crónica Chillán, Diario Austral, El Mercurio, El Líder, El Llanquihue, Atacama und emol.
El Mercurio S.A.P liegt in den Händen der Familie Edwards, einem der einflussreichen und wohlhabenden Familienclan in Chile. Der Erste der Dynastie, Austín Edwards Ossandón, starb im Jahr 1878 und soll ein Erbe hinterlassen haben, das in etwa 7,3% des BIPs ausmachte. Die finanziellen Aktivitäten der Familie konzentrierten sich zu dem damaligen Zeitpunkt vor allem auf den Bergbau und Finanzgeschäfte. Im Jahr 1900 gründete Augustín Edwards Mac Clure die Hauptstadtausgabe der Zeitung El Mercurio, verteilte Anteile an seine Brüder und erwarb eine Anteilschaft der Anglo South American Bank. In den 1960er- und 1970er Jahren gehörte das Konglomerat der Familie Edwards zu den größten Chiles- auch nach dem Verkauf zahlreicher Eigentümer in den 1990er Jahren zählt die Familie Edwards weiterhin zu dem wirtschaftlichen Kern Chiles. Die rechtsgesinnte Zeitung El Mercurio war während der Diktaturzeit Fürsprecher Pinochets und die einzige Zeitung, die legal veröffentlichen durfte. Noch heute ist sie die Zeitung mit der höchsten Auflage.
- Consorcio Periodístico Sociedad Anónima (COPESA)
COPESA verfügt u.a. über folgende Medien: Radio Beethoven 96.5fm, Radio Zero 97.7, La Cuarta, La Hora, La Tercera, Diario Concepción, PULSO- Pasión por los Negocios, Qué Pasa, Zeitschrift Paula, Radio Carolina, Radio Duna 89.7.
Alvaro Saieh Bendeck, Vorstandsvorsitzender von COPESA, kaufte im Jahr 1995 die chilenische Bank Banco Concepción und gründete CorpBanca. Heute ist Saieh Bendeck der größte Anteilseigner von Itaú CorpBanca, der viertgrößten Bank Chiles, welche im Jahr 2016 aus der Fusion der Bankunternehmen Itaú und CorpBanca entstand. Itaú CorpBanca operiert u.a. auch in Kolumbien, Peru und Panama.
Saieh Bendeck ist ebenfalls Mitbesitzer eines Anteils von rund 58% der chilenischen Supermarktkette SMU, die mit knapp 500 Standorten in ganz Chile die größte von allen ist. Supermarktketten wie Unimarc, OK Market, Mayorista 10 und Alvi sowie der Onlinemarkt Telemercados gehören zu SMU. 2018 trat er von seiner Position des Präsidenten von SMU zurück und verblieb in der Position des Vizepräsidenten. (Die Supermarktketten Mayorsa und MaxiAhorro in Peru gehören ebenfalls zu SMU). Seit 2018 ist Saieh Bendeck Eigentümer des Mandarin Oriental Hotel in Chile- die Liste geht weiter. Momentan schätzt das Forbes Magazine sein Vermögen auf rund 2.3 Milliarden US-Dollar. Um die Zahl ganz auszuschreiben: 2.300.000.000 US-Dollar.
Während der vergangenen Woche berichtete das chilenische Fernsehen kaum über die friedlichen Mobilisierungen und die massiven sozialen Proteste der Zivilbevölkerung- eher konzentrierte man sich auf das Zeigen von Aufnahmen langer Schlangen vor den Supermärkten; Läden, denen die Lebensmittel ausgingen; Plünderungen, Zerstörung von öffentlichen sowie privaten Gebäuden, Tankstellen ohne Benzin, mit Schlägern bewaffnete Bewohner*innen, die Angst vor Plünderungen haben und brennende Gebäude. Die Konzentration auf solche Bilder vermeindlicher Prekarität und Gewalt von als solchen bezeichneten „Kriminellen“ und „Vandalen“ dienen dazu, ein Gefühl der Angst zu erzeugen, die Proteste der Zivilbevölkerung zu kriminalisieren und vor allem: von dem eigentlichen Problem abzulenken. Zusätzlich fehlt es an Aufnahmen und Berichten über die friedlichen Proteste, an einer ausführlichen Diskussion über die Forderungen der Zivilbevölkerung, an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb die Proteste trotz der Rücknahme der Fahrpreise nicht aufhören. Demonstrant*innen werden als „Unangepasste“, als „Antisoziale“ bezeichnet. Auch fehlt es an der Dokumentation und dem Report über das gewalttätige Vorgehen der Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung.
Diese Vorgehensweise der Massenmedien ist keine neue: bei Mobilisierungen der Zivilbevölkerung und vor allem bei Protesten der Studierenden, erfolgt oft eine ähnliche Art der Berichterstattung.
Zivilbevölkerung und Oppositionen fordern die sofortige Beendigung des Ausnahmezustands und den Rückzug der Streitkräfte von den Straßen. In Zusammenarbeit mit mehreren gemeinnützigen Organisationen* präsentierten Studierende und Professionelle der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universidad de Chile am Donnerstag, den 24. Okt. 2019 eine Strategie der juristischen Verteidigung für Personen, die während Demonstrationen Opfer von Polizei- und Militärgewalt wurden.
* die Organisationen sind: Asociación de Abogadas Feministas (Abofem), Corporación 4 de Agosto, Londres 38 und die Comisión Chilena de Derechos Humanos
2. Die extreme Gewalt der Streitkräfte: Angriffe auf Zivilbevölkerung während Demonstrationen
Dies sind die aktuell veröffentlichten Zahlen des chilenischen Instituts für Menschenrechte hinsichtlich der Anzahl der Festnahmen, Verletzten und Gerichtsverfahren (Dunkelziffer variieren):
Festnahmen: 3162 (darunter 343 Jugendliche und Kinder)
Verletzte: 997, 413 Verletzte durch die Verwendung von Schusswaffen
Todesfälle: 17
Eingereichte Klagen: 80 (davon 5 wegen Mord und 15 wegen sexueller Gewalt)
„Am besorgniserregendsten ist der allgemein verbreitete und systematische Missbrauch durch das Militär und zahlreicher Polizisten während der Festnahmen“, urteilte Daniel Uturria, Richter des Amtsgerichts in Santiago.
Frauen, die Opfer sexuellen Missbrauchs während der Festnahmen wurden, erzählen, dazu gezwungen worden zu sein, sich vollständig zu entkleiden und Kniebeugen zu machen. Manche berichten, ihnen sei mit Vergewaltigung gedroht worden, andere berichten, während der Festnahme unerlaubt am Körper angefasst worden zu sein.
In der Kommune Peñalolen in Santiago sollen Festgenommene an einer Metallstruktur gefesselt und von den Fesseln herabhängen gelassen worden sein. Richter Daniel Uturria versicherte außerdem, dass in dem U-Bahntunnel zwischen den Stationen Parque Bustamante und Baquedano Fesselwerkzeug des Militärs gefunden wurde- das gefundene Fesselwerkzeug war aus Plastik und aufgeschnitten, was dafürspricht, dass es benutzt worden war. Zusätzlich wurden mehrere Patronen gefunden- in einem Teil des Tunnels, der von den Sicherheitskameras nicht erfasst wird, so Uturria.
Tomás Ramírez, Akademiker der Universidad de Chile, weist auf die Dokumentation zahlreicher illegaler Festnahmen gegen Teilnehmer*innen der Proteste hin und betont, es habe ebenfalls Festnahmen von Zivilpersonen gegeben, die gerade ihr Zuhause betreten wollten oder sich bereits innerhalb ihrer Wohnungen und Häuser befunden hätten. Von seinen Besuchen in einem öffentlichen Krankenhaus in Santiago berichtet er: “Sehr viele Personen kommen mit Gummigeschossen in den Augen, das Sehvermögen verlierend, mit schweren Wunden am Körper“.
Auch in den sozialen Medien kursieren täglich zahlreiche Videos, die das Vorgehen der Streitkräfte und die Gewalt auf den Straßen dokumentieren.
Eine Woche nach dem Inkrafttreten des Ausnahmezustands und der Ausgangssperre in Santiago de Chile sowie weiteren Regionen, fanden sich gestern (Freitag, 26.10.2019) rund 1.2 Millionen Menschen zu einer friedlichen Demonstration in der Hauptstadt zusammen, um grundlegende Reformen des chilenischen Systems zu fordern. Das extrem neoliberale System Chiles wurde durch den Diktator Pinochet im Jahre 1975, zwei Jahre nach dem Militärputsch, eingeführt-dessen Verfassungsrichtlinien und Systemausrichtung bestehen bis heute in großen Teilen. Als eines der reichsten Länder Lateinamerikas, ist Chile gleichzeitig auch eines der Länder mit der höchsten sozialen Ungleichheit. Die Demonstration gestrigen Freitag ist die größte Mobilisierung der chilenischen Zivilbevölkerung seit dem Ende der Diktatur und der Rückkehr der Demokratie in 1990- sie wurde unter dem Motto „Die größte Demonstration in ganz Chile“ geführt. Menschen allen Alters liefen zusammen über die Hauptstraße Santiagos, der Alameda und fanden sich bereits vor Beginn der Demonstration, die für 5 Uhr Nachmittags angekündigt worden war, an der Plaza Italia zusammen: dem geographische Knotenpunkt der Hauptstadt, der als Emblem für die soziale Segregation im urbanen Raum Santiagos gilt, von dem gesagt wird: „nach oben wohnen die Reichen, nach unten die Armen.“ Die Protestierenden fordern nicht nur soziale Reformen, sondern vielmehr eine grundlegende Änderung der Verfassung und das Ende der neoliberal dominierten ökonomischen Ausrichtungen des chilenischen Systems.
Nach einer Woche des Ausnahmezustandes und einer Polarisierung der Proteste durch Militär-und Polizeigewalt gegen Protestierende, kündigte der chilenische Präsident Sebastián Piñera heute an, sich dem Dialog mit sozialen Organisationen öffnen zu wollen. Angeleitet werden soll dieser Dialog von dem Minister für Soziale und Familiäre Entwicklung, Sebastián Sichel.
„Sigan ustedes sabiendo que, mucho más temprano que tarde, se abrirán las grandes alamedas por donde pase el hombre libre para construir una sociedad mejor.“
Salvador Allende, 11 September 1973