vonChristian Ihle & Horst Motor 20.04.2007

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

Mehr über diesen Blog

Muss man mit sich im Reinen sein, um Nagels Roman zu lesen? Diese Frage stellt sich zwangsläufig, denn dieses Buch zu lesen heißt, sich massiven Identitätsproblemen auszusetzen, einer prekären Existenz durch den psychischen Spagat zwischen Euphorie und dem Gefühl absoluten Scheiterns zu folgen.

„Nagel“ ist kein Künstlername, Pseudonym oder vielleicht sogar Avatar. „Nagel“ ist vielmehr ein Relikt aus der alten Punkzeit, als es ulkig war, seinen bürgerlichen Namen mittels obskurer Abkürzungen und Drehungen abzuschütteln und damit die Möglichkeit zu ergreifen, sich eine neue Identität zuzulegen. Eine Identität für die Punkwelt eben, deren charakteristische Haltungen für so lange Zeit Bezugspunkt waren. Womit wir beim Thema wären. In den 90ern gab der damals noch in der westfälischen Provinz ansässige Nagel ein in der deutschen Punkszene einflussreiches Fanzine namens „Wasted Paper“ heraus und gründete 1993 die Band Muff Potter, mit der er, über 500 Konzerte später, in Bälde das achte Album veröffentlichen wird. Textlich changierte Nagel immer zwischen politischen Themen (in „Punkt 9“ wird beispielsweise mit Nationalgefühl und Geschichtsrevisionismus abgerechnet) und der Auseinandersetzung mit persönlicher Befindlichkeit. Womit bitte nicht jene Gefühlsduselei gemeint sein soll, die in der jüngeren Popmusik gerade so en vogue ist. Befindlichkeit muss hier schon fast als Krankheit verstanden werden. Eine innere Zerrissenheit, an der insbesondere der Protagonist seines Debütromans „Wo die wilden Maden graben“ leidet.

Kaum zu glauben, aber wahr: Wir begleiten in diesem Buch eine Band. Genauer gesagt ist es eine Punkrockband, die, von oftmals mittelmäßigem Erfolg und noch häufigeren finanziellen Verdienstausfällen geplagt, das monotone Tourleben als Alltag akzeptiert, die Vorzüge der Aftershow Partys dafür in vollen Zügen genießt und sich die Pleiten mancher Konzerte sehr zu Herzen nimmt. Unterwegs ist die Welt zwar nicht o.k., meistens ist sie aber zumindest relativ unkompliziert, eher unbeschwert und dazu noch eine heitere Angelegenheit. Gleichzeitig aber beobachten wir den Sänger der Band, ein Twentysomething, der sich, von innerlichen Widersprüchen gepeinigt, im Bandbus den Kopf über seine Vergangenheit zerbricht und eine ungeheure Furcht vor dem Zuhause hat, das für ihn nur Lethargie, Lustlosigkeit und Aushilfsjob bereithält.

Tatsächlich klingt das alles etwas einfacher als es wirklich ist.

Bereits nach wenigen Seiten wird die jugendliche Bandbusromantik zum ersten Mal gestört. „Wunschlos unglücklich vegetierst du tagelang vor dich hin“, mit diesem Satz beginnt die tagebuchartige Einführung in das Innenleben des depressiven Sängertypens, der kaum einen Sinn darin erkennen kann, sich aus dem Bett zu quälen, weil er sich eh nur mit Internetsurfen und ständigem Onanieren über den Tag hilft. Da steht wenig in Aussicht. Eine diffuse Angst vor der Außenwelt – man kommt nicht so recht dahinter, woher sie überhaupt kommen mag – bringt ihn dazu, „nur mit dem MD-Player in der Tasche“ auf die Straße zu gehen. Sich abschotten, das will er, denn er „kotzt“ sich selber an und sucht nach Zerstreuung. Mit Musik, zu der er sich gern nach einigen Kaltgetränken gitarrespielenderweise im Spiegel beobachtet, lässt sich das alles ganz gut aushalten – sie ist ihm eine Krücke und vermag über seine offenkundigen Mängel hinwegzutrösten. Selbst attestierte Ungeschicklichkeit, die Neigung zu Übertreibungen und permanenter Reizbarkeit, die plötzlichen Gefühlsimpulse, sowie Gewaltgeilheit treten so einen Augenblick in den Hintergrund. Achja, Alkohol ist übrigens ziemlich häufig im Spiel, was aber fast keiner Erwähnung bedurft hätte.

Wie zu erwarten war, ist Musik das zentrale Thema des Romans. Oder besser noch: Das Besessensein von Musik als Sinnstifterin, oder als Ticket nach draußen und, wenn man so will, sogar als Idealbild expressiver Arbeit. Nagel zeichnet einen Sänger als namen- und heimatlosen Borderliner, der seinen Hass nur in Verbindung mit der durch Musik ermöglichten Selbstvergessenheit unter Kontrolle bringen kann. Die Welt bleibt in ihren Fugen, solange er nicht sich selbst im Blick hat. Vor dem Hintergrund seiner Geschichte wird der ungeheure Stellenwert der Musik nachvollziehbar: Ein heranwachsender Außenseiter hatte für sein randständiges Dasein irgendwann das Wort Punk gefunden, ein probates Instrument, um „sich alles selbst anzueignen“. Ein klassischer Fall von Punk als Identitätsangebot, als Selbstermächtigung also.

Ich bin Punk, weil ich Punk bin und deshalb mach ich Punk. Ganz so konfliktfrei lässt Nagel seinen Antihelden jedoch nicht Überzeugung und Schaffen zusammenbringen. Die Ramones entgegneten früher dem Zugabenwunsch mit einem: „Denkt ihr etwa, wir hätten noch nicht alles gegeben?“ Was aber ist denn dieses „alles“? Für Nagels Sänger kann es nie genug sein. Aus diesem Grunde setzt er sich allabendlich immensen Anstrengungen und Anspannung aus, um „abzuliefern“, natürlich, aber vor allem, um vor sich selbst zu bestehen. Das Publikum verkommt zur Nebensache, während er auf der Bühne probiert, seiner Vorstellung, den Liedern, die er selbst geschrieben hat, gerecht zu werden. Eine gleichsam bizarre wie interessante Situation: Eingeschüchtert von seinem eigenen Werk spricht er davon, Respekt vor der Qualität der Musik aufbringen zu müssen. Da ist also einer, der kaum tun kann, was er mit eigenen Händen erschaffen hat. Der eher dazu tendiert, die Achtung vor sich selbst, als vor der Musik zu verlieren.

Wenn Nagels Sänger seinem Ideal der Selbstverwirklichung nachjagt, verausgabt er all seine Kräfte und zeigt – man kann das wirklich so nennen – eine außerordentliche Leistungsbereitschaft. Die Identifikation mit der eigenen Tätigkeit erscheint ihm nicht nur alternativlos, fast wundert er sich selbst darüber, wie sehr sie durch die Musik realisiert wird. Nach Konzertende fragt er sich deshalb: „Vielleicht war es ja alles nur in mir drin?“ Auf der Bühne hat er alles was er braucht, soviel ist klar.

Obgleich der Sänger ein durchaus tiefes Vertrauen in seine Bandmitglieder und deren Entourage verspürt, geht Nagel nicht näher auf diese manchmal comichaft überzeichneten Gestalten ein. Die Schilderungen des wirklich ziemlich enthirnten Tourlebens dienen ihm lediglich als Rahmen zur Bloßlegung seiner Empfindungen und Erinnerungen. Von den rauen Sitten der Provinzkonzerte, auf denen die Jugendlichen nicht nur „pissen, scheißen und kotzen“, im Moshpit die Zähne verlieren oder auf der Bühne intim werden – man fühlt sich fast an Heinz Strunks erhellende Tanzbandmilieu-Beschreibungen erinnert –, sei die Band, dieses „rollende Männerwohnheim“, gar nicht so weit entfernt. Entwickeln tut sich hier dementsprechend wenig, was auch zur Struktur des Buches passt: Nagel inszeniert keinen unaufhaltsamen Aufstieg einer Garagenband hin zu Green Day (das wäre ja auch langweilig), er konstruiert eine Endlosschleife und schließt das Buch dort ab, wo es begonnen hat.

Entmystifizierungsarbeit wurde gerade auch durch Tourtagebücher und –berichte spätestens seit Henry Rollins „Get in the Van“ viel geleistet. Wir wissen mittlerweile, dass ein Tourleben nicht zwangsläufig glamourös sein muss und die großen Idole gern auch mal im Studierendenwohnheim gegenüber untergebracht werden. Das ist nicht paradox, das ist normal. Insofern liefert dieses Buch wenig neue Erkenntnisse. Interessant ist jedoch, dass sich Nagel eine Band ausgedacht hat, die am Fuße der Bekanntheitspyramide steht, tief unter dem Radar des Mainstreams durchtaucht, weit von jedweder kultischen Verehrung oder einem durch „Verwertbarkeitsorientierung“ ermöglichten Durchbruch entfernt ist und trotzdem unbedingt weitermachen will. Trotz der Tatsache eben, dass es als Entschädigung für die finanzielle Misere lediglich das Gefühl zu verdienen ist, sich mit dem eigenen Handeln identifizieren zu können. Weitermachen, weil alles andere keinen Sinn ergibt.

Nagel stößt uns mit dieser Konzeption, die den Sänger schnurstracks auf die Suche nach einer Möglichkeit schickt, irgendwie an Geld zu kommen, auf ein sehr aktuelles Thema.
Wurden in letzter Zeit Diskussionen um das Arbeiten in ungesicherten, befristeten und unverbindlichen Arbeitsverhältnissen geführt, zeigt uns Nagel in diesem Buch auch jene durch und durch prekären Existenzen, die sich mithilfe schlecht bezahlter Jobs probieren, den Rücken finanziell weitestgehend frei zu halten, um das zu tun, worauf sie „wirklich Bock“ haben. Das hat mit digitaler Bohème sehr wenig zu tun, hier ist eher Fensterputzen angesagt, damit es geht.

Mögen die Schilderungen über das Leben in der Provinz Westfalens auch etwas brachial und martialisch ausgefallen sein – für den regelrechten Überlebenskampf muss der Sänger seine „animalischen Instinkte schärfen“, was schon ziemlich nach frühem New York Hardcore klingt – so machen sie doch nur wenige kurze Passagen aus. Die Stärken dieses Buches liegen, wie gesagt, klar in der wortreichen und sehr direkten Beschreibung des Taumels zwischen Euphorie und Depression, sowie tiefster innerer Zerrissenheit, der sich eine prekäre Existenz ausgesetzt fühlen kann. Wer darüber etwas erfahren will, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt, ansonsten wird Nagels Roman wohl vor allem als eines in Erinnerung bleiben: Als Manifest für das bedingungslose Sich-Verzehren nach Musik.

Louis Parker

Nagel: Wo die wilden Maden graben. Ist bereits im Ventil Verlag erschienen. 236 Seiten, 12,90 Euro.
Muff Potter: Steady Fremdkörper. Wird am 11. Mai veröffentlicht.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/popblog/2007/04/20/abmucken-und-abcashen-nagel-wo-die-wilden-maden-graben/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert