Wenn der Regisseur der besten Musikdokumentation aller Zeiten („The Filth And The Fury“) einen Film über das legendärste Festival der Welt dreht, erwartet man Großes – und freut sich umso mehr wenn es Julien Temple gelingt im Schweinsgalopp durch die Jahrzehnte und Jugendkulturen in 135 wirren Minuten dreieinhalb Jahrzehnte Festival in Reduktion auf die Leinwand zu bringen.
Temple verzichtet auf Chronologie, Band-Einblendungen, Off-Kommentare und wirft uns mitten nach Glastobury hinein. Die Folge davon ist ein Film, der tatsächlich ein Festivalerlebnis spiegelt: völlig überdreht, bis zum Anschlag reizüberflutet, gedanklich von einer Bühne zur nächsten wankend sitzen wir in unseren Sesseln und delektieren eine großartige Performance nach der anderen: blur (erstaunliche Wahl: Day Upon Day), Stereo MCs, Prodigy, Chemical Brothers, Orbital, Dr John, World- und Reggaemusik, Joe Strummer, The Bravery (nackt), Radiohead, Ray Davies, Björk, The Levellers, Colplay, Primal Scream, die ’Shambles… und als Höhepunkt jener legendäre Auftritt von Pulp 1995 mit „Common People“, den Jarvis Cocker als „pinnacle of my life“ bezeichnete.
Weder macht Temple den Fehler, sich auf typisch britische Bands zu beschränken (und spiegelt stattdessen das enorm breite Glastonbury-Spektrum wider), noch vernachlässigt er zu Gunsten der Bands das Publikum – beide erhalten gleichen Rang. Wunderbar ist dabei wie Julien Temple Szenen per Songauswahl und Schnitt subtil kommentiert. So wird nach der Entscheidung, Glastonbury einzuzäunen, Sicherheitsmaßnahmen straight outta Guantananmo einzuführen und damit die ursprüngliche Offenheit des Glastonburysystems zu opfern, Joe Strummer mit „Straight To Hell“ eingespielt und – noch prägnanter – zwischen eine Begleitung der Festival Security Primal Screams Auftritt mit „Swastika Eyes“ geschnitten.
Wie bereits in der Sex Pistols Doku führt Temple dem musikalischen Ereignis eine Bedeutung bei, die ein gewöhnlicher Filmemacher sich nicht trauen würde, indem er Hoch- und Populärkultur sich gegenseitig kommentieren lässt. Wurden in „The Filth And The Fury“ Einblendungen von Shakespeares Richard III zur Erklärung des Charakters Johnny Rottens verwendet, so beginnt und endet „Glastonbury“ mit dem zentralen Poem Britanniens, William Blakes „And did those feet in ancient times…“ (landläufig als „Jerusalem“ bekannt).
Christian Ihle
Glastonbury läuft auf dem Festival des britischen Films, Britspotting