vonChristian Ihle & Horst Motor 21.08.2007

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Tocotronic sind einen weiten Weg gegangen und das wohl erstaunlichste ist, dass sie immer noch weiter marschieren. Vor einer popkulturellen Ewigkeit, in der ersten Hälfte der 90er Jahre, begannen die drei (Wahl-)Hamburger eine neue deutsche Popmusik zu erfinden, die sich musikalisch gleichwohl am Indie-Rock aus Amerika wie dem Punk Englands orientierte, aber so direkt und ungezwungen wie niemand zuvor deutsche Texte darüber dichtete. Ironie, dass gerade Tocotronic, deren große Leistung neben vielen wundervollen Liedern und Melodien eben gerade im Umgang mit der deutschen Sprache lag, sich bis heute vehement gegen „Deutschland“ als Prinzip stellen und sich so sämtlichen Vereinnahmungsversuchen eines neuen Deutschlands entziehen konnten.

Die Tocotronic Geschichte zerfällt in drei Teile: die frühe, junge Phase, die der obige Absatz beschreibt, das Übergangswerk K.O.O.K. 1999 sowie das Spätwerk nach jenem Album, das Tocotronic in ein „vor K.O.O.K.“ und „nach .K.O.O.K.“ teilen sollte.

Im Spätwerk, das mit einem selbst betitelten Album begann, dessen Layout komplett in weiß gehalten war und somit laut wie es nur konnte „Neuanfang“ schrie, schafften Tocotronic, sich gleichzeitig vom Sound wie von den Texten der frühen Jahre weg zu entwickeln. Es gibt wenige Bands, die eine Umkehr von allem schaffen, mit dem sie identifiziert werden, aber ihre Wertschätzung ungebrochen behalten. Tocotronic sind diesen Weg mit Erfolg gegangen. Im Wissen als 30jähriger schlecht Teil einer Jugendbewegung sein zu können ohne sich lächerlich zu machen, entzogen sich Tocotronic völlig jeder Festlegung, verabschiedeten sich vom Sloganeering, wurden die Texte vage und die Songs flächiger.

Bei den beiden bisherigen Spätwerken blieb trotzdem mehr Respekt vor dem Versuch als Begeisterung über das Ergebnis: alles war irgendwie schon richtig, aber nie haben die neuen Tocotronic auf Albumlänge funktioniert.

Deshalb stellt „Kapitulation“ auch wieder ein so wichtiges Album dar: zum ersten Mal ist ihnen gelungen, ein in sich geschlossenes, aus sich heraus logisches Gesamtwerk zu produzieren. Von Albumopener „Mein Ruin“ über erste Single „Kapitulation“ bis zu Punksongs wie „Sag alles ab“ steht die Platte unter einer gemeinsamen Idee: der Verweigerung gegenüber den Anforderungen des Jetzt. Der Kapitulation. Den inneren Frieden wählen statt sich um den äußerlichen Erfolg bemühen. Liegenlassen statt anpacken – aber nicht aus Faulheit, sondern aus dem Wunsch der Verweigerung heraus. Das Nichtwollen als Ziel, Kapitulation als Konzept.

„Kapitulation“ ist musikalisch das dichteste Tocotronic-Album und geht den Weg des Vorgängerwerks „Pure Vernunft darf niemals siegen“ konsequent weiter. Ja besser: es geht dessen Weg erfolgreich bis zum Ende.
Bis auf die sich breitmachende Lethargie in der zweiten Hälfte des Albums, aus die einen – dem Musikgott sei’s gedankt – „Sag alles ab!“, eine Direktübertragung aus Blumfelds „Ghettowelt“ von 1992, errettet, ist Tocotronic seit Jahren kein so makelloses Album mehr gelungen.
„Wenn es in einer Gesellschaft wie dieser möglich wäre, dann würden wir Euch lieben“ sprach Bassist Jan Müller kürzlich nach einem Auftritt. Nach „Kapitulation“ will man diesen Satz erwidern.

Anhören!

*Kapitulation (hier)
*Verschwör dich gegen dich (hier)
*Harmonie ist eine Strategie
*Sag alles ab (hier)
*Explosionen

Im Netz:

*Indiepedia
*Homepage
*MySpace

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https://blogs.taz.de/popblog/2007/08/21/album-des-monats-juli-platz-1-tocotronic-kapitulation/

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kommentare

  • „aber nie haben die neuen Tocotronic auf Albumlänge funktioniert.“
    Oh ha! Gewagte These.
    & bei mir hat es beim weißen Album geklappt. Mit „Pure Vernunft …“ hatte ich auch Probleme und „Kapitulation“ ist in der Tat sehr gelungen.
    Ich finde ferner, dass es den Weg des Spätwerks nicht nur konsequent weiter und erfolgreich beschreitet, sondern gar durch die wieder gehäuft wütenden Elemente (Punksongs wie „Sag alles ab“) und das „Nichtwollen als Ziel“, Früh-, Übergangs- wie Spätwerk gelungen verbindet, also das junge und ungestürme zurückholt und entsprechend der Entwicklung verarbeitet. Aber es eint ja eh ein Element alle Platten, die wunderbaren Slogans.

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