In den letzten Jahrzehnten konnte man der Academy in einer Hinsicht immer wieder vertrauen: sie wählte sehr gerne einen bestimmten Typus von Film und vor allem einen bestimmte Art von Filmen definitiv nicht. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass die Academy zum ersten Mal seit den 70er Jahren wieder bereit ist, auch über den klassischen Oscar-Tellerrand hinauszublicken und nicht immer ausschließlich die Ausstattungsorgien, die in epischer Breite ausgewalzten Riesenfilme zu küren.
Die Academy leistet Abbitte bei den Enfant Terribles
Doch in diesem Jahr war das mit einer Konsequenz wie noch nie zu spüren. Nicht nur, dass die Nominierungen in diesem Jahr so gleichmäßig zwischen den vier Filmen „Michael Clayton“, „There Will Be Blood“, „No Country For Old Men“ und „Abbitte“ gestreut waren, „Abbitte“, der „typischste“ Oscar-Film aus dieser Riege, errang gerade einmal einen Nebenoscar und ging sonst komplett leer aus.
Es gab genug Indizien gegen „Abbitte“ (keine Regienominierung, zuwenig Preise im Vorfeld) und für die aus dem Independent-Bereich stammenden Regisseure Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood“) oder die Coen-Brothers („No Country For Old Men“), doch in dieser eindeutigen Absage an das traditionelle Kino steckt auch eine Botschaft: ja, wir sind bereit uns zu öffnen.
Ein so brutaler und dreckiger Film wie „No Country For Old Men“ wäre in den 90ern als Sieger undenkbar gewesen. Das Jahrzehnt, in dem Meilensteine des Kinos wie „Pulp Fiction“ oder „Fargo“ (ebenfalls von den Coen-Brothers) mit dem Drehbuch-Oscar abgespeist wurden, hätte niemals einen Zweikampf zwischen zwei so düsteren Filmen wie „No Country For Old Men“ und „There Will Be Blood“ zugelassen.
No Country For Young Men…
Nur bei einem bleibt sich die Academy immer noch treu: bist du jung und independent, dann ist der Hauptpreis außer Reichweite. Die Coen-Brothers sind nun schon seit 25 Jahren in Filmbusiness tätig, doch erst jetzt konnten sie den Hauptpreis gewinnen – und das nachdem man in den letzten Jahren schon befürchtete, sie hätten ihre Magie endgültig verloren. Quentin Tarantino wird sich zu Hause das Jahr 2017 im Kalender rot anstreichen, dann ist auch er ein Vierteljahrhundert im Gewerbe tätig, so dass die Academy ihn mit Regiepreisen überschütten darf. Paul Thomas Anderson, wie Tarantino einst als Wunderkind gefeiert, verpasste mit „There Will Be Blood“ erneut einen Oscar. Es war bereits die dritte Nominierung in der letzten Dekade für den erst 38-jährigen. Doch zum ersten Mal war er für die Regie, nicht nur für bestes Drehbuch nominiert und da schließt sich wieder der Kreis zu den Coens: noch ein paar Jahre, dann wird auch Anderson seinen verdienten Regie-Oscar in Empfang nehmen.
…aber auch keine Siegautomatismen für die Alten mehr
In den Schauspielersparten scheint die Academy aber nun davon abzugehen, die alten Heroen und die Comeback-Geronten automatisch auszuzeichnen. Weder die heiße Favoritin Julie Christie noch die in den Nebenschauspielersparten nominierten Hal Holbrook oder Ruby Dee konnten die Nachfolge von Jessica Tandy, Jack Palance et al antreten. Die Jugend wird trotzdem übergangen: die fantastische Ellen Page, die in den letzten zwei Jahren von „Hard Candy“ über „The Tracey Fragments“ und „An American Crime“ zu eben „Juno“ mehr beeindruckende Filmauftritte als jeder andere Schauspieler auf diesem Planeten hatte, wurde natürlich nicht ausgezeichnet.
Bitte nicht lachen!
Auf etwas kann man sich also doch noch verlassen: die Jugend, sie muss sich hinten anstellen. Und natürlich: bitte nicht lachen! Das letzte große Tabu der Oscar-Verleihung ist die Auszeichnung einer Komödie. Nachdem nun sogar schon dreckige, kleine Gewaltfilme mit dem großen Preis ausgezeichnet werden und auch die Horror-Sparte einst mit „Schweigen der Lämmer“ einen Sensationserfolg davontragen konnte, wartet man immer noch darauf, dass doch mal wieder eine reine Komödie ausgezeichnet würde. War im letzten Jahr „Little Miss Sunshine“ angetreten und geschlagen worden, so ist 2008 „Juno“ dem Komödienfluch anheim gefallen. Die einzigen Filme, die zumindest halbwegs dem Komödienfach zuzurechnen sind und in den letzten Jahrzehnten Oscars gewonnen haben, sind immer noch bizarrerweise das dröge „Shakespeare In Love“ 1998 und das zeitgeschichtliche, tragikomische und damit oscartaugliche Zemeckis-Werk „Forrest Gump“ von 1994. Aber vielleicht findet die Academy ja 2009 den Mut herzhaft und unabhängig zu lachen – in Anbetracht der steifen und langatmigen Show 2008 wären mehr „Juno“-Preise wenigstens eine Abwechslung gewesen.
Christian Ihle