vonChristian Ihle 09.02.2010

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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„Guitar!“ ruft der Graf in „Keine Meisterwerke mehr“ und das darf man als programmatische Äußerung deuten. Wie seit K.O.O.K. nicht mehr wird das neue Album von Tocotronic wieder von der Lust an der Gitarre bestimmt. Waren die letzten Alben von einem Sturm und Drang zur Klarheit und Reduktion geprägt, so gibt bereits das erste Stück von „Schall und Wahn“ die Richtung vor: in „Eure Liebe tötet mich“ setzt von Lowtzow seine selten gehörte Grabesstimme ein und nimmt sich so selbst zurück, während die Gitarren über mehr als acht Minuten scheppern und flirren ohne sich dabei in Postrockspielereien zu verlieren, sondern mehr an das Songwriting von Neil Young erinnern. Überhaupt dieser Anfang des Albums: „Eure Liebe tötet mich“ und das hymnische „Die Folter endet nie“ gehören zum Besten, was Tocotronic Mk II bisher geschrieben haben.

schall wahn

Umso verblüffender, dass ein völliger Bruch mit der bis dahin so meisterhaft aufgebauten Atmosphäre auf dem Fuß folgt. Erste Single „Macht es nicht selbst“ hat nicht zu Unrecht von der BILD-Zeitung das Etikett „Faschingshit“ aufgeklebt bekommen und „Bitte oszillieren Sie“ mag ein Scherz sein, ist dabei aber ein schlechter, zudem noch prätentiöser. Das Titelstück ist enttäuschendes Tocotronic by numbers und die Hoffnung, Dirk hätte nun endlich textlich aus dem Zauberwald herausgefunden, wird in „Gesang des Tyrannen“ zerschmettert, in dem es wieder von ewigen Feuern und Leierspielen nur so wimmelt. Für jedes „lass mich dichten / und diesen Staat vernichten“ muss man ein „ich bin der Graf von Monte Schizo / und singe diesen Hit so“ ertragen.

So bleibt ein zwiespältiges Urteil – herausragende Songs wie die Anaphern- und Alliterationskaskade „Im Zweifel für den Zweifel“ stehen neben Überflüssigem, beeindruckende Achtminüter neben kurzen, schlechten Witzen.
Tocotronic haben sich bereits einmal neu erfunden. Bei allem Erfolg, es scheint als wäre zehn Jahre später der richtige Zeitpunkt für Tocotronic Mk III und für einen Aufbruch zu anderen Ufern. Guitar!

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=L16jGWF6-u4[/youtube]
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Anhören:
* Eure Liebe tötet mich
* Diese Folter endet nie
* Im Zweifel für den Zweifel

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=aWoxrl_r09U[/youtube]
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Tocotronic im Popblog:
* Album des Monats Juli 2007: Kapitulation
* Die besten Alben des Jahres 2007
* Die besten Songs des Jahres 2007
* Die Idee ist gut doch die Welt noch nicht bereit, Hamburg 1994
* Playback-Auftritte von Tocotronic, Oasis, Ärzte, Muse und Nirvana

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kommentare

  • Nach 5 Tagen im Besitz der neuen Platte gefallen mir ganze 3 Lieder. Manche Lieder klingen wie von der Vorgänger-Platte abgekupfert und mit neuem Text ausgestattet. „Mach es nicht selbst“ ist echt ein Witz. Bei der letzten Platte waren allerdings auch schon etliche schwache Lieder dabei, so what? 3 gute Lieder reichen mir.

  • Die erste „Schall-und-Wahn“-Rezension, deren Autor nicht begeistert und andächtig auf die Knie sinkt. Hatte ich schon gar nicht mehr mit gerechnet. Wieso nicht noch viel ablehnendere Stimmen zu diesem prätentiösen Geschrammel mit Gymnasiastengesang zu vernehmen sind, ist mir ein Rätsel. Wenn so ein Album auf 100% – na gut, 99% – Zustimmung bei den Kritikern stößt, dann ist das ein überdeutliches Indiz für das miese Niveau, auf dem die Popschreiberei angelangt ist.

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