Im Inneren des kolossal-hässlichen Altbaus ist es angenehm frisch. Claire Boucher, das (einzige) Mastermind hinter Grimes, sitzt auf einem Sofa im Berghain, in der Hand eine Flasche Apfelschorle, und wirkt leicht dehydriert. Das dritte Album „Visions“, vor wenigen Monaten veröffentlicht, hat ihren Bekanntheitsgrad ins Unfassbare katapultiert. Sie gilt jetzt schon, und das zurecht, als nächster Popstar aus dem Underground. Das ganze Internet ist voll von tumblr-Fanseiten mit blinkenden GIF’s und tausenden Twitter-Kommentaren darüber „how cute she is“. Sie schläft, nach eigenem Bekunden, kaum noch. Boucher wirkt immer ein bischen wie eine neugierige Austauschstudentin, die alles in sich aufsaugt – europäische Kunst, Musik, Konzerte, Drogen, Freundschaften, kolossale Jugend. Mit 24 Jahren ist Claire Boucher aber auch im richtigen Alter, um sich um Zukunftsplanung herzlich wenig Gedanken zu machen.
Warst du früher schon in Berlin?
Ja, mit 16 Jahren war ich schon einmal hier. Zur Fußball WM 2006. Meine Familie ist völlig verrückt nach Fußball. Am Ende haben wir Frankreich die Daumen gedrückt – und wie das ausging, wissen wir ja.
Wir sitze hier im Berghain, das Gebäude ist ein Überbleibsel der stalinistischen Architektur. Grimes ist auf allen Ebenen ein sehr visuelles Projekt. Begeisterst du dich auch für Architektur?
Oh ja, ich liebe Architektur. Ich bin sicher kein Experte. Aber ich bin vor allem ein großer Fan von Architekturentwürfen, Zeichnungen. Seit ich ein Teenager war, interessiere ich mich dafür. Vor allem für mittelalterliche und gothische Architektur. Deswegen macht es mir auch so viel Spaß, nach Europa zu kommen. In Kanada gibt es davon nun wirklich nichts zu sehen.
Könntest du dir vorstellen, statt Musik zu machen irgendwann nur noch zu zeichnen?
Wer weiß, vielleicht? Früher war ich total versessen darauf, zu zeichnen. Das hat irgendwann nachgelassen und ich habe mich auf Musik fokussiert. Kunst werde ich also immer in irgendeiner Form machen. Nur das Medium könnte sich weiterhin ändern.
Du hast deine Alben bisher allein aufgenommen, mit einem gewissen Lo-Fi-Ansatz. Bemerkst du durch die vielen Live-Shows mittlerweile eine Veränderung bei deinem Musikansatz?
Ich genieße die Herausforderung. Der Lo-Fi-Aspekt ist mir doch ein bischen zu romantisch. Außerdem fühle ich mich schuldig, wenn etwas zu einfach ist. Ich merke, dass, je mehr ich mich mit den technischen Aspekten des Musikmachens beschäftige und die Herausforderung annehme, desto einfach wird es auch für mich, meine Ideen umzusetzen und Songs zu schreiben. So kann ich bessere Musik machen, mit der ich mich einfach wohler fühle.
Welche Rolle spielt dabei dein Publikum?
Eine sehr große! Schon allein deshalb, weil Menschen auf meine Musik reagieren. Früher habe ich Musik immer sehr zurückgezogen geschrieben und produziert. Die ersten Songs und Alben haben nur ein paar Freunde zu hören bekommen. Ich habe erst relativ spät gemerkt, dass es ja auch noch ein Publikum gibt. Das hat mir den extra Schub gegeben. Mittlerweile probiere ich mich auch auf der Bühne viel mehr aus.
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Du bist sehr aktiv im Internet, wie es sich für eine 24-Jährige gehört. Du twitterst, du blogst, du machst Internet-Videos und und und. Würdest du dich als Digital Native bezeichnen?
Ja und Nein. Ich halte auch viel Distanz. Ich besitze nichmal ein Handy oder Smartphone. Wenn ich mich mit dem Internet befasse, dann sehr intuitiv und organisch, fast schon instinktiv. Natürlich, ich bin damit aufgewachsen, es ist ein Teil von mir. Es ist auch Teil meiner Kunst, weil ich darüber Musik mache und auch Kontakt zu meinen Fans halte. Aber ich bin auch im vollen Bewusstsein, mich davon lösen zu können. Wenn ich zwei Stunden am Tag im Internet bin, dann saugt es mich förmlich ein. Aber dann klappe ich meinen Computer zu und das war es dann.
Dein Publikum hält davon nichts. Da sind 500 iPhones in der Luft!
I fucking hate that! Und normalerweise sage ich das dem Publikum auch. Der Witz ist ja: meine schlechtesten Shows sind die Besten – immer dann, wenn ich es total versaue und trotzdem über der Musik ausraste und tanze. Also wenn ich total darin versunken bin. Auf einem technischen und musikalischen Level sind das keine guten Shows. Ich treffe die Töne nicht und singe schief. Aber gleichzeitig sind das die besseren Shows, weil das Publikum so toll darauf reagiert. Das möchte ich aber nicht im Internet sehen. Denn wenn du es aus dem Kontext nimmst, hört es sich einfach nur grauenhaft an! Und alle denken: She fucking sucks! Live-Aufnahmen geben nie ein wirkliches Konzerterlebnis wieder. Internet-Videos sind wie Soundchecks.
Grimes spielt auf der visuellen Ebene mit unterschiedlichen transzendentalen Elementen, mit Tod und Vergänglichkeit zum Beispiel. Ist ein Konzerterlebnis für dich ein quasi-religiöses Erlebnis?
Nicht in einem christlichen Kontext. Ich bin Atheist, wie alle aus meinem Freundeskreis und die meisten aus meiner Generation. Musik, vor allem Konzerte, sind ein zeitgenössischer, spiritueller Ersatz für Agnostiker und Atheisten. Und gleichzeitig ermöglichen Konzerte eine gewisse Form von Voyeurismus. Die meisten Menschen haben ihren Alltag, ihren Job, ihre Absicherung, ihr Streben nach Sicherheit. Und dann gehen Sie zu einem Konzert und beobachten einen Künstler, der etwas völlig anderes tut. Etwas, das in ihrem Alltag nicht stattfindet. Nämlich Kontrollverlust, Chaos, etwas Verrücktes. Das meine ich mit einer Befriedigung von Voyeurismus. Das ist nichts schlechtes. It’s an abstract dealing with the world!
Kannst du verstehen, wenn Musiker irgendwann nicht mehr nur abgebrannt sein, sondern sich ein finanzielles Polster schaffen wollen. Oder verhindert das gute Musik?
Es ist total verständlich, wenn man von seiner Musik leben will. Aber wenn das der Hauptgrund ist, Musik zu machen, wenn man deswegen überhaupt anfängt, Musik zu machen – dafür habe ich dann kein Verständnis. Ich bin lieber total blank und habe Spaß an meiner Musik. Aber ich glaube auch nicht, dass Geld deine Fähigkeit, tolle Musik zu machen, reduziert. Gleichzeitig ist es guter Musik natürlich sehr förderlich, wenn du total am Boden bist. Die besten Kunstszenen sind aus extremer Armut oder extremem Reichtum entstanden. Immer dort ist die extremste Kunst zu finden.
(Interview: Robert Heldner)
Das Album „Visions“ ist bereits erschienen:
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kommentare
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GRIMES ist eigentlich eine Hamburger Punkband, also was soll dieser Etikettenschwindel?
womoeglich hat sich das nicht bis in das vereinigte gelobte land rumgesprochen
hat die hamburger band ein trademark angemeldet?