vonChristian Ihle 11.02.2014

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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1. Der Film in einem Satz:


Fucking brillant.


2. Darum geht‘s:


Seligman, ein alleinlebender Herr mittleren Alters, findet eine verletzte, bewusstlose Frau in einem Hinterhof liegen. Er nimmt sie mit nach Hause, pflegt sie und fordert sie auf, ihre Geschichte zu erzählen. Sie trägt den Namen Joe und schildert ihr Leben als Nymphomanin. In mehreren „Kapiteln“ beschreibt sie ihren Werdegang, ihr sexuelles Erwachen, ihre pubertären Spielchen, ihre „Verderbtheit“.


[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=IqaMPZZhNn8[/youtube]


Selbst für Lars von Trier, den größten Querkopf des Weltkinos, ist „Nymphomaniac“ ein Projekt wie kein zweites. In seinem insgesamt fünfstündigen, in zwei Teile aufgesplitteten Epos verhandelt er verschiedenste Facetten von Sexualität in einer Art Meta-Film to end all Meta-Filme.

Allein die Grundausrichtung: Die Unterhaltung von Joe (Charlotte Gainsbourg) & Seligman (Stellan Skarsgard) bildet einen kühl-nüchternen Rahmen, im dem jede von Joe erzählte Episode kommentiert, diskutiert und mit beispielhaften Referenzen verdeutlicht (oder verdunkelt) wird. Darüber hinaus wird nicht nur der gerade von Joe erzählte Aspekt der Sexualität an sich noch einmal auf einer Dialogebene vertieft, sondern auf einer weiteren Ebene gleichzeitig auch noch die Funktion von Autor, Regisseur und Zuschauer in den Kontext des Films gesetzt und gleich in diesem Moment die Bewertung des Trier’schen Vorgehens mitgegeben – oder zumindest der Zuschauer dazu aufgefordert, den Ansatz von Triers, diese Geschichte *so* zu erzählen zu prüfen und zu akzeptieren oder zu verwerfen.





Von Trier diskutiert durch den fast klinisch-kühlen Aufbau der Rahmenhandlung Sexualität in einer dialektischen Weise. Seine Figuren Joe und Seligman (die möglicherweise zwei Facetten (s)einer Persönlichkeiten darstellen sollen: Verstand & Lust?) sind dabei bestrebt, in einem Zwiegespräch gegenteilige Meinungen abzubilden, die thematisieren, was Sünde sein kann – oder ob es Sünde überhaupt geben kann.

Was aber das Überraschendste an all dem ist: „Nymphomaniac“ ist trotz seines immensen theoretischen Überbaus der unterhaltsamste, flotteste, und, ja, lustigste von Trier – Film überhaupt. Er versieht (unausgesprochen) Schoko-Sperma-Geschmack mit einer Proust-Anspielung, erklärt die Fibonacci-Zahlen anlässlich der Folge der vaginalen bzw analen Penetrationen der Hauptperson oder versinnbildlicht die Kompositionen von Johan Sebastian Bach als Erklärungsansatz für eine Beziehung mit drei Männern.

So ist Nymphomaniac einfach alles: arg, lustig, explizit, hart, (bis an die Parodiegrenze) intellektuell, wild, neugierig, kurios verkopft und unsubtil.



3. Der beste Moment:


Wohl das erste Drittel des Films, wenn man sich noch ungläubig die Augen reibt, was für ein wahnsinniges Konzept sich von Trier hier ausgedacht hat und mit welcher Kompromisslosigkeit und intellektueller Lust er dieses Thema präsentieren will.


4. Diese Menschen mögen diesen Film:


Jedenfalls nicht jene, die wegen eines Skandals oder pornographischen Szenen ins Kino pilgern. Wenn „Nymphomaniac“ etwas nicht ist, dann sexy. Wer sich aber Gedanken über die Wirkweise von Erzählungen, das Konstrukt eines Films machen will und dabei auch noch zwei Menschen Argumente über Sünde und Sex austauschen hören möchte, der kann seine drei Stunden Lebenszeit nicht besser investieren als in „Nymphomaniac Vol. 1“.


* Regie: Lars von Trier
* imdb

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https://blogs.taz.de/popblog/2014/02/11/berlinale-4-nymphomaniac-vol-1-von-lars-von-trier/

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kommentare

  • Kuck mal, Geschmäcker sind verschieden. Ich fand den Film sehr langweilig und schlecht. Unerträgliche und prätentiöse „auf intellektuell gemachte“ Mono- und Dialoge, komplett unplausible Motivation fast aller Hauptfiguren, und dieser wirklich schmierige On-/Off-Liebhaber Jerome – bäh! Auch das bis zum Hals zugeknöpfte Hemd von Seligmann (ohne Krawatte) war viel zu dick aufgetragen. Das einzig interessante war die Szene, wo Mrs. H (Uma Thurmann) Joe wütend ihren Mann „überlässt“. Den zweiten Teil habe ich mir gespart, obwohl ich den Trailer mit der seltsamen DP-Experience mit den Schwarzen schon interessant fand.

  • Geniale Kritik. Aufbau, Stil, Wortwahl, sogar Länge stimmen perfekt – meiner unmassgeblichen Meinung nach.
    Man liest sonst so viel Mist.
    Also werde ich mich mal altmodisch fühlen und nach einer Filmkritik ins Kino wandern. Ist mir bisher kaum bis gar nicht so gegangen.

  • Ein großartiger und tatsächlich sehr witziger Film, wobei ich das Glück hatte, in Kopenhagen gleich beide Teile sehen zu können.

  • „Wer sich aber Gedanken über die Wirkweise von Erzählungen, das Konstrukt eines Films machen will …“ – Nein, danke! Vielleicht ein andermal.

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