vonChristian Ihle 19.10.2016

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Womöglich die längste Schmähkritik der Geschichte, aber sowohl in dieser (stark gekürzten!) Form als auch im Original auf zeit.de lesenswert!

„Terror ist ein Theaterstück, das, soviel muss man wohl vorausschicken, mit Terror denkbar wenig zu tun hat. Der Titel ist vielmehr ein heiserer, populistischer Schrei nach Aufmerksamkeit. (…) Der Einstieg über den Begriff des „Terrors“, verbunden mit einer naturalistisch imitierten Gerichtsverhandlung mit Anklage, Beweiserhebung, Urteil und vor allem der Aufforderung an den Zuschauer, an letzterem aktiv – als eine Art Geschworener, durch „Entscheidung über das Schicksal eines Menschen“ – mitzuwirken (!), ist eine unverschämte, schwer erträgliche Manipulation der Öffentlichkeit im Namen eines quasistaatlichen Anliegens, ohne dem auch nur die mindesten staatlichen Garantien an Wahrhaftigkeit und Unvoreingenommenheit zugrunde zu legen. Das ist ein starkes Stück. (…)

Der Film stellt – im Verhältnis 1 : 1 nach der Vorlage des Theaterstücks – ein schwieriges Rechtsproblem dar. Er behauptet – wie der Autor Schirach –, das geltende Recht unseres Staats habe für dieses Problem keine Lösung. Das aber ist falsch. Und zwar nicht nur ein kleines bisschen, nicht nur im Rahmen dessen, was „Künstler“ gemeinhin als belanglose „Paragrafen-Reiterei“ abtun (solange es nicht um ihre eigenen Gagenverträge geht). Sondern richtig grundfalsch. Im Sinne von: abwegig, fernliegend, irreführend. Das Gegenteil nämlich ist richtig.

Der Film sagt uns: Wir müssen uns entscheiden, ob der Pilot „wegen 164-fachen Mordes“ zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen („schuldig“) oder ob er freizusprechen ist („unschuldig“). (…) Eine vermeintliche Staatsanwältin – man sah Frau Gedeck wahrlich schon in besser gespielten Rollen – sagt Ja, ein vermeintlicher Verteidiger sagt Nein, eine vermeintliche Nebenklägerin darf ein bisschen auf die Drüsen des Augenwassers drücken, für den Fall, dass eine liebe Zuschauerin noch nicht begriffen hat, dass es hier wirklich ums Ganze geht und man einen geliebten Menschen schrecklich vermisst, wenn er durch die automatische Schiebetür des Flughafens einfach nicht mehr heraustritt. (…)

„Moral und Recht“, so wird der Zuschauer ein ums andere Mal belehrt, sind „strikt zu trennen“. Das soll sich angeblich irgendwie aus Kant ergeben. Leider ist diese holzschnittartige Behauptung so falsch, dass man sich schämen sollte, sie Herrn Kant nachzurufen. Denn die Behauptung, wie sie Schirach und seine Drehbuch-Künstler vortragen, desavouiert ja gerade das, was Kant am Wichtigsten war. Das Recht, so Schirach, liefert bestenfalls irgendwelche Argumente: Manche sagen so, manche sagen so. Man kann es drehen und wenden, wie man will. Spitzfindigkeiten, „irgendwelche Absätze von Paragrafen“. Die Wahrheit liegt jenseits des Rechts – so fantasiert das Stück daher, ohne sich dem Recht überhaupt angenähert zu haben. (…)

Der Tatbestand ist objektiv und subjektiv erfüllt. Fragt sich: Rechtswidrig? Um diese Frage dreht sich das ganze Stück und damit auch der Film. Sie lautet, umformuliert: DARF der Pilot K, als Organ des Staats, unschuldige Staatsbürger (Menschen) töten, um a) eine größere Anzahl zu retten, b) ein Zeichen zu setzen, c) die Gerechtigkeit zu verwirklichen?

Diese Frage ist entschieden: Das Bundesverfassungsgericht hat mit Gesetzeskraft (!) entschieden, dass Paragraf 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes (alter Fassung) wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde verfassungswidrig und nichtig sei. Das war am 15. Februar 2005 im Verfahren 1 BvR 357/05. Nichts (!) an Argumenten ist seither hinzugekommen. Meine (zahlreichen) Gespräche mit Protagonisten des Theaterstücks und des Films haben mir gezeigt, dass von 100 Personen, die im Zusammenhang mit Schirachs Terror über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts reden, 99 Komma 9 dieses Urteil nicht gelesen haben. Sie quatschen herum, weil es ihnen zu schwierig ist, sich mit der Sache zu befassen, die sie auf „einfache“ Weise dem breiten Publikum nahebringen wollen. Statt des in der öffentlichen Diskussion schon vor zehn Jahren erreichten Argumentationsniveaus legen sie also das Niveau zugrunde, das sie selbst innerhalb von zwei oder drei Tagen erreichen können. Sodann unternehmen sie es, dieses Niveau wiederum „herunterzubrechen“ auf das Niveau, das ihre „lieben Zuschauer“ und „lieben Leser“ angeblich allerhöchstens erreichen können. Wir sind damit auf dem Level der Schwarzwaldklinik angekommen. Wer das kritisiert, wird der „juristischen Spitzfindigkeit“ geziehen oder – schlimmer – der „Abgehobenheit“.

Sie verwechseln dabei typischerweise verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Niveau“: Sachniveau und Sprachniveau. Sie haben keine Lust oder keine Kraft, sich dem Sprachniveau der Experten anzunähern, und wissen sich dabei eins mit den „lieben Zuschauern“, die das im Durchschnitt erst recht nicht können. Anstatt dass die Vermittler nun ihre Pflicht erkennen, das Sachniveau so zu erreichen und zu durchdringen, dass sie es sprachlich vereinfachen können, ohne es sachlich-argumentativ der Lächerlichkeit preiszugeben, gehen sie den gerade umgekehrten Weg und passen ihr eigenes Sachniveau an das gefühlte Sprachniveau ihrer Kundschaft an. An ihrer eigentlichen Aufgabe scheitert diese mediale Wirklichkeit notorisch und penetrant. Und da sie das weiß, hat sie zugleich die zirkuläre Figur ihrer Rechtfertigung eingebaut: Das „Niveau der Zuschauer / Leser / Hörer“ ist so gering, dass es einfach nicht möglich ist, die jeweilige Sache sachgerecht darzustellen. Das ist natürlich gelogen. Es erlaubt aber, der eigenen Faulheit oder Unzulänglichkeit praktisch unbegrenzt nachzugeben und sich selbst dabei noch permanent als überlegenen Sachwalter der Interessen des dummen Volks da draußen aufzuspielen. (…)

Die Lösung des Falles aber, und die „Gerechtigkeit“ gegenüber dem fiktiven Angeklagten, liegt auf einer ganz anderen Ebene, nämlich derjenigen der persönlichen Zumutbarkeit. Über diese Frage muss von Strafgerichten entschieden werden; sie stellte sich dem Bundesverfassungsgericht gar nicht.

Theaterstück und Film unterschlagen diesen – entscheidenden! – Unterschied nicht nur, sondern leugnen ihn obendrein ausdrücklich: „Der Richter“ (Vorsitzender) belehrt den Angeklagten nachdrücklich, auf seine „innere Sicht“, seine subjektiven Meinungen und Motive komme es im Strafverfahren überhaupt nicht an; hier gehe es „allein um die Feststellung der Tatsachen“. Dieses ist eklatant falsch und geradezu die Umkehrung des rechtsstaatlichen Ansatzes. Es ist komplett falsch, wenn Schirach durch Weglassen suggeriert, für die Entscheidungen zwischen Rechtmäßigkeit und „Gewissen“ halte das Recht keinerlei Maßstäbe bereit. Die Zuschauer werden durch diesen Unsinn gezielt und von vornherein desinformiert und auf eine Fährte gelockt, die es dem Autor zuletzt gestattet, seine alberne „Abstimmungs“-Dramaturgie durchzuführen. Das ist schäbig. (…) Ein Strafprozess, in dem der Vorsitzende sich die Information über die persönlichen Motive und Sichtweisen des Beschuldigten verbittet, wäre eine Farce. (…)

Der Film faselt zwar über „Schuld“ und „Unschuld“, meint und erklärt aber etwas anderes. Dass er die grundlegende Kategorie der (strafrechtlichen) Schuld nicht kennt, ist ein fachlicher und ein künstlerischer Skandal zugleich. Entweder weil der Autor sie selbst nicht verstanden hat (was schlimm genug wäre), oder weil er sie vorsätzlich verschweigen will (was noch schlimmer wäre). Der Text des Stücks und all die „Belehrungen“, die man den Zuschauern, auch im Film, angedeihen lässt, machen es noch schlimmer – hier wird wahrlich alles durcheinandergebracht, was nur geht: Ein einziges Desaster der Unkenntnis, und mittendrin der liebe Zuschauer, der nun aufgefordert ist, in einer „realen“ Rechtsfrage auf der Grundlage der „realen“ Rechtslage eine „Entscheidung über Schuld und Unschuld“ zu treffen.

Das ist die größtmögliche Verarschung des Publikums. Wer Unrecht und Schuld in eins setzt, fällt um Jahrhunderte (!) hinter unsere Rechtskultur zurück und benutzt seine Zuschauer als Gaudi-Gäste für eine Rechtsshow der billigen Sorte. (…)

Tatsächlich könnte die Lösung des Falls wie folgt gehen: Die Tötung ist selbstverständlich rechtswidrig (außer der des Terroristen; die ist durch Nothilfe gerechtfertigt). (…) Kein Minister oder General kann aus der Tiefe seines Fernsehsessels einem Soldaten „befehlen“, unschuldige Menschen umzulegen. Kein Unschuldiger hat – das wäre die zwingende Konsequenz! – die Rechtspflicht, sich töten zu lassen. Sondern jeder hätte selbstverständlich das Recht auf Notwehr gegen die eigene Tötung! Und genauso hätte jeder Angehörige eines Opfers das Recht auf Nothilfe, um die Tötung zu verhindern.

Was für Herrn Piloten Koch „gerecht“ ist, finden wir ebenfalls im Recht: Es könnte ein „Entschuldigungsgrund“ vorliegen, der sich in einer entsprechenden Anwendung des Paragrafen 35 Strafgesetzbuch findet:

„Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige (!) Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. (…)“

Schuldlosigkeit des einzelnen trotz Rechtswidrigkeit seiner Tat, auf der Grundlage einer umfassenden Bewertung seiner individuellen (!), persönlichen (!) Lage und der Zumutbarkeit (!) rechtmäßigen Verhaltens. Das ist die Möglichkeit, die das Recht (!) bietet und nahelegt. In der Strafrechtswissenschaft heißt die Lösung „übergesetzlicher Notstand“. Er ist an enge rechtliche (!) Voraussetzungen gebunden und entschuldigt den konkreten Täter, obwohl seine Handlung rechtswidrig ist. (…) Über die Schuld und Verantwortung des Piloten Koch kann man also nach rechtlichen Maßstäben entscheiden, ganz ohne dass man deshalb anordnen müsste, der Staat dürfe die Tötung seiner Bürger anordnen, wenn das „Prinzip des geringen Übels“ es gebietet. (…)

Das ist das Infame an der Schirach’schen „Ungenauigkeit“: Indem er den Staat gleichsetzt mit dem armen moralischen Würstchen auf der Anklagebank, verniedlicht er den Leviathan der Gewalt und macht zugleich den Menschen und Bürger Koch zum Objekt staatlicher Gewalt: Weil das Prinzip der Menschenwürde gilt, so spricht treuherzig Frau Gedeck in die Kamera, deshalb „muss Herr Koch die Konsequenzen tragen“. Meint: Lebenslang in den Knast. Das soll angeblich die Botschaft sein, die das „formale Recht“ zu diesem Fall hat: Der Einzelne muss sich um des staatlichen Prinzips willen opfern lassen.

Das alles ist so dermaßen falsch und verquast und verdreht, dass einem übel wird. Das Recht unseres Staates sagt nämlich genau das Gegenteil: Aus dem Grundsatz der Menschenwürde, der gleichbedeutend ist mit der Idee des Rechts, folgt gerade eben nicht, dass der einzelne Bürger vom Staat wie ein Objekt, eine Sache, ein Beispielsfall für irgendein Großes & Ganzes behandelt werden darf. (…)

Der Autor von Schirach versteht vom Strafrecht nichts. Er mag in seinen holzschnittartigen Kriminalgeschichten all die Mörder und Räuber umherschleichen lassen, wie er will, aber er sollte die Finger von ernsthaften Strafrechtsfragen lassen. Wer Rechtswidrigkeit und Schuld so verheerend durcheinanderbringt, sollte wahrlich keine Aufklärungsstücke über unzureichende Strafrechtsdogmatik verfassen. (…) Das Stück Terror schreibt sich an einem langen Wochenende so derart offensichtlich mühelos dahin, dass doch irgendeinem Regie-Giganten auffallen müsste, dass er aus dem zweiten Semester Dramaturgie sowas auch noch in der Schublade hat. Aber wahrscheinlich sind es gerade die Hölzernheit der Dialoge, die Befremdlichkeit des sinnfreien Sinns, welche das Werk mit dem Geruch der Gelehrtheit ausstatten, die den meisten unserer Kreativen so überaus schmerzlich abgeht. (…)

Die lieben Zuschauer werden nach Strich und Faden verarscht, und zwar sowohl vom rechtsgelehrten Autor als auch vom quotengeilen Sender. Ihnen werden Belehrungen über die Rechtslage zuteil, die hinten und vorne falsch sind und die entscheidende Fragestellung gar nicht enthalten. Auf dieser Bananen-Ebene dürfen sie dann „abstimmen“ und „über das Schicksal eines Menschen entscheiden“. Eine Kunst, die aus Lüge, Denkfaulheit und Inkompetenz besteht, ist nicht mehr als die Imitation ihrer selbst. “

(Thomas Fischer in seiner berüchtigten Kolumne in der ZEIT)

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