„Als hätte man aus Baumarkt-Deko ein Musical gemacht: Julia Engelmann war ein YouTube-Phänomen, jetzt will sie Popstar werden und veröffentlicht ihr „Poesiealbum“. Das hat uns gerade noch gefehlt. (…)
Sie wollen wissen, ob Sie Julia Engelmanns Album mögen würden? Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind in einem Baumarkt. Was bedeutet, dass Sie an weichen Toilettendeckelbezügen vorbeigelaufen sind und mit Emoticons verzierte Abflussstopfen gesehen haben. (…)
Wären Sie quasi im Begriff, sich einen lächelnden Abflussstopfen zu kaufen? Dann wird Ihnen Julia Engelmanns Album „Poesiealbum“ ausgesprochen gut gefallen – garantiert. Denn es klingt wie Obi-Deko, das Musical. (…)
Wenn diese Art von erbaulicher Kunst aber eher Widerwillen in Ihnen auslöst, werden Sie „Poesiealbum“ nicht mögen. Vermutlich wird Sie das musikalische Debüt der 25-jährigen Poetry-Slammerin und SPIEGEL-Bestsellerautorin („Eines Tages, Baby“, „Jetzt, Baby“ und „Wir können alles sein, Baby“) sogar auf eine beunruhigende Art und Weise wütend machen. Beim Hören ihrer 14 selbstgetexteten Songs werden sich Ihre Fingernägel in Ihre Wohnzimmertapete graben, und ehe Sie sich versehen, reißen Sie sie auch schon ab. (…)
Hinter den 14 Liedern stecken unter anderem der Komponist und Produzent Ali Zuckowski („80 Millionen“ von Max Giesinger, „Rise Like A Phoenix“ von Conchita Wurst) sowie der YouTuber-Produzent Benjamin Bistram (Ape Crime, Y-Titty). Sie haben Musik geschaffen, die an sich kaum wahrnehmbar ist. Es sind gut gelaunte Musik-Betten, die man auch unter jeden Fernsehmagazinbeitrag legen könnte.
In ihren Songs tritt Engelmann als Ich-Erzählerin auf, die online nach Lesebrillengestellen sucht („Das Lied“) und noch nie den Film „Titanic“ oder ein Glühwürmchen gesehen hat („Bestandsaufnahme“). Sie singt vom Verliebtsein, von Trennungen und Selbstzweiflen – und widmet sich einem der aktuell beliebtesten Sujets im Pop: Die der conditio humana geschuldeten Leiden auf einer Party wegzusaufen. Bei Engelmann klingt das so: „Lass mal ne Nacht darüber tanzen“. Aber während ihre musikalische Kohorte von Sex und Drogen in der Nacht singt, will sie alles vergessen, indem sie bis zum Morgengrauen „electroswingt“ und dabei gratis „Leitungswasser“ trinkt. „Alle rauchen, nur wir nicht“, singt sie dann.
Julia Engelmann stilisiert sich also bewusst zur „Queen of Uncool“, und das muss man auf Englisch schreiben, denn Engelmann liebt Anglizismen, sie baut sie ständig ein: „Ich bin keine hotte Torte, eher so ’ne zu treue Tomate“ könnte dabei wahrscheinlich mühelos den Preis für die geschmackloseste Songzeile 2017 gewinnen, wäre da nicht auch noch das Lied, in dem sie das Leben mit einer Netflix-Marathon-Metapher erklärt: „Ey, lass mal wieder hinhocken, ich will mit dir alles bingewatchen. Ey, kannst Du mir deinen Pin droppen?“ („Cliffhanger“). Engelmann liebt Klischees. In „Sowas von Magie“ stellt sie fest: Verliebt sein, das hat etwas Magisches. In „Das Lied“ singt sie: „Es geht nicht darum, wen, sondern darum, dass du liebst.“ Alles, was ein Songschreiber sonst aus seinen Texten streicht, umarmt sie. Ihre aktuelle Single heißt tatsächlich „Grüner wird’s nicht“, womit sie einen der berühmtesten Fahrschullehrer-Sprüche vertont. (…)
„Poesiealbum“, insofern passt der Titel, ist naiv und brav. Das ist an sich in Ordnung, wird aber ärgerlich, wenn sich Engelmann – natürlich mit allerbesten Absichten – in ihre Albuminfo schreiben lässt, dass ihr das Thema „Mental Health“ am Herzen liegt, weil „vor allem junge Menschen zunehmend unter Depressionen leiden“. Auf ihrem Album singt sie dann aber: Hey, du musst nicht traurig sein, hör einfach mal „Coldplay in der Küche“ und „iss eine Grapefruit zu Frühstück“, als sei eine Depression nur eine Laune, keine Krankheit. Julia Engelmann ist ein Fall von gut behütet, bei dem der Hut so tief sitzt, dass er taub macht. (…) Engelmann-Poesie ist, wie die Wanddeko-Sprüche im Baumarkt, eine Poesie der totalen Affirmation. (…) Was nun? Stellen Sie sich einfach an Ihre neu tapezierte Wand und schlagen – ganz leise – Ihren Kopf dagegen.“
(Julia Friese bei Spiegel Online über das Debütalbum von Julia Engelmann)
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