vonChristian Ihle 14.07.2023

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Als 1986 zu Ehren des 100. Geburtstags des Automobils die ARD unter der Regie von „Klimbim“-Erfinder Michael Pfleghar die teuerste Show-Produktion (16 Millionen DM. 1986!) in der Geschichte des deutschen Fernsehens ausstrahlte, war die Presse nicht begeistert und teilte Kritik in einer Deutlichkeit aus, wie es sie selten gehagelt hatte:

„Die erbarmungslose Show, die per Eurovision im Fernsehen übertragen wurde, war nicht zu stoppen. (…) Während das peinigende Spektakel kein Ende nehmen wollte, trat der amerikanische ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen auf dem Kennedy Space Center in Florida von einem Fuß auf den anderen. An diesem Tag nämlich war über zwei furchtbare Dinge in der Welt zu berichten: die Stuttgarter Show und die Explosion des Space-Shuttles »Challenger«.“

(Der Spiegel, der auch die denkwürdige Entstehungsgeschichte schön zusammenfasst)

„Die Ereignisse, die später zu schweren Protesten in der ganzen Bundesrepubllk führen sollten, begannen um 20.15 Uhr. (…) Der Hauptdarsteller, Rennfahrer Niki Lauda, zeigte während der quälenden 80 Tatminuten nichts als ein eingefrorenes Indianergesicht und stand meistens nur herum. Dafür soll er 650 000 Mark bekommen haben. (…) Schon während der großen Schlußszene stürzten die Menschen fluchtartig aus dem Saal: ,Wir sind doch nicht hierhergereist, um den langweligsten Film aller Zeiten zu sehen‘, sagten viele wütend. Ein rheinischer Polltiker frohlockte: ‚Stuttgart sehen – und schlafen‘.

Die Ehefrau eines Industriekapitäns zeterte: ,Das darf doch nicht wahr sein! Da sperrt man 4000 erwachsene Menschen ein und zwingt sie, ein nervtötendes Film- Festival über sich ergehen zu lassen. Das war ja die reinste Folter!‘ (…) Experten haben gefordert, die Verantwortlichen an dieser die Nachtruhe störenden Anti-Unterhaltungssendung müßten ihren Millionen Opfern Schmerzensgeld zahlen.

Achtung: Bei dem Täter Michael Pfleghar besteht Wiederholungsgefahr!“

(Das Hamburger Abendblatt)

„16 Millionen Mark für zweieinhalb Stunden Folter ist ein Preis, der das Mittelalter in Erstaunen versetzt hätte. Doch immerhin bekam man auch etwas dafür: So grausam ging es auf den Burgen über Nürnberg und Salzburg nicht zu, wie am letzten Mittwoch in der (von der Industrie bezahlten) ARD-Show zum Hundertsten des Automobils „Die Zukunft hat Geburtstag“. Wencke Myhre und Karel Gott im Duett „Unterwegs in die Freiheit“, „Auto-Corso der Nationen“ (Citroën mit Can-Can-Girls und Nissan mit Geishas) und Niki Lauda, vom Auto-Tod gezeichnet, in einem Go-Cart aus Plastik durch Raum und Zeit schwebend – da hätten die Meister vom spanischen Stiefel noch lernen können. Schade nur, daß unser lieber guter Bundespräsident, der ja auch überall dabei sein muß, so arglos in die Falle tapste. Mancher Zuschauer hätte ihn gerne aus der Glotze zu sich ins rettende Wohnzimmer gezogen, doch die Hans-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart, Ort des peinlichen Gerichts, war so fern. Und man mußte hilflos zusehen, wie des freundlichen Mannes Gesicht, vom Schmerz gefurcht, zusehends versteinerte. Wie inzwischen aus dem Sender, dem Süddeutschen Rundfunk, zu hören war, soll die Schau, arrangiert von Sado-Spezialist Michael Pfleghar, demnächst auf den Markt kommen – allerdings nur in geschlossenen Videotheken. Neben „Venus im Pelz“ und „Sklaven der Lust“ wird sich, darüber herrscht unter Kennern kein Zweifel, „Die Zukunft hat Geburtstag“ mit Bravour behaupten.“

(Die ZEIT)

…dank dem unerschöpflichen Archiv-Fundus kann man sich die „100 Jahre Automobil“ tatsächlich auch heute noch in seiner Gänze geben:

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