Nach den Pandemie-Jahren fühlte sich das Reeperbahnfestival 2023 erstmals wieder komplett an – ein gutes Booking vor allem junger britischer Acts war auffällig, einige große Legacy-Namen (Billy Bragg, The Pretenders, Arab Strab) und natürlich eine Unmenge anderer internationaler Acts. Lediglich im Bereich der deutschen Szene ist trotz einer sehr positiver Überraschungen wie dem neuen Glitterhouse-Act Iedereen noch Luft nach oben, könnte manches edgier, kantiger, spannender sein.
Ein Rückblick im Telegramm-Stil:
* Billy Bragg: sehr gut, sehr politisch. Viele Reden zwischendurch, ob gegen die AfD wetternd oder seinen Pro-Trans-Standpunkt begründend. Am besten die Zugabe, als er in 17 Minuten das komplette „Life’s a Riot with Spy Vs Spy“ Debütalbum durchgespielt hat.
* Iedereen: eine der großen Überraschungen. Die neue Glitterhouse-Band sind zwei Typen mit unterschiedlich dichter Haarpracht, die beide dreckig rocken wie dünne Zeltingers. Eine Wucht!
* The Last Dinner Party: Die nächste große britische Gitarrenband. Eine flamboyante Sängerin, mittels eines leuchtend roten Ballkleids in den Glamour von Old Hollywood getaucht, wird begleitet von bier Mitmusikerinnen, die ihre Songs in Cinemascope spielen. Theatralisch, groß, ein wenig gothic, viel pop, etwas baroque. Die Shakespear Sisters für eine neue Generation.
* Cucamaras: wenn alle Lieder schon so gut wären wie die letzten drei Songs (v.a. „Death Of The Social“ – wie die jungen Rakes & „Bleachers Yard“ – LCD Soundsystem via Yard Act), die Band wäre die absolute Bombe.
„We are Cucamaras. It’s a stupid band name, nobody can spell it. But we are in too deep now. And I just noticed I am dressed like I’m on a yoga retreat.“
* Penelope Scott: einerseits ein nicht mal voll gefüllter Molotow, andererseits 2,5 Mio monatliche Hörer (und Topsong sogar 230 Millionen Plays) auf Spotify. Die junge Amerikanerin spielt herrlich unzuordenbaren Indie/Chiptune-Pop, ist textlich manchmal nah an einer Kimya Dawson für die TikTok-Generation und hat mit „Rät“ über Elon Musk einen Megahit, der mir noch am nächsten Tag einen Ohrwurm bescherte. Einer der Höhepunkte.
* Paula Paula: auch in der Bandversion passt die „Neuköllner Chansons“ Beschreibung auf die Songs von Marlène Colle immer noch recht gut. Aber mit Gisbert & Co hinter sich wirkt alles größer. Marlènes Lyrics erinnern mich manchmal auch an Judith Holofernes‘ Texte der guten Wir Sind Helden – Sachen.
* Chalk: zum Abschluss des Festivals noch eine richtig starke Band. Irischer Post-Punk, der aber nah an Industrial arbeitet und so keine üblichen Genre-Vergleiche wie Joy Division oder Gang Of Four benötigt. Wer Whispering Sons letztes Jahr mochte, sollte hier einmal reinhören.
* deathcrash: nehmen NOISE-Rock wirklich ernst. So laut wie ein Flugzeug in der hoffnungslos überfüllten Skybar. Am Ende sehr intensiv.
* Etran De L’Air: flirrende Tanzextase, so hypnotisch dass es schon wieder psychedelisch wird.
* Bipolar Feminin: wie nach der LP schon vermutet doch mehr Rock als Punk, aber mit Präsenz und Wucht.
* Joe Unkown: irgendwo zwischen Grime, Hip-Hop und Punkattitude von der Straße. Guter Abriss. „Ride“ der größte Hit.
* Thala: deutlich grungier als ich sie von ihren Dream-Pop-Anfängen in Erinnerung hatte. Steht ihr live gut.
* Skinny Pelembe: war vielleicht einfach für mich zum falschen Zeitpunkt – keinen rechten Zugang gefunden, zu ruhig.
* CVC: deutlich mehr 70ies Soft-Rock als ich von Platte her dachte. Style dazu passend gewählt, mehr nach einer Jazz/Prog-Rock-Band von 1973 kann man gar nicht aussehen.
* Kynsy: fand damals ihre allerersten veröffentlichten Songs sehr stark, muss allerdings sagen, dass auch zwei Jahre später immer noch ihre besten Stücke sind, wenn sie Strokes-Gitarren channelt.
* Daisy The Great: war etwas überrascht, wie countryesque das live dann doch klang – kannte vorher nur einen Song („Record Player“), der verspielter und weirder war als die Liveperformance.
* Die Selektion: Konzert in einer Location, die nicht für Bands gemacht ist. Aber aus den Umständen das Beste gemacht und gut intensiv.
* Cotoba: südkoreanischer Mathrock mit Pop-Tendenzen. Komplett falsche Musik für strahlenden Sonnenschein um 13 Uhr auf einer zu großen Open-Air-Bühne.
* Sprints: bin ja großer, großer Fan ihrer ersten Singles (leider alle ausverkauft, wer welche übrig hat für einen schmalen Taler… melden!), die mehr rauh produzierten, trockenen Post-Punk beinhalten. Dieser Dry Cleaning – Weg wird allerdings auf der neuen Single (auf City Slang erschienen) zugunsten einer rockigeren, mehr ausproduzierten Richtung nicht mehr so recht begangen und das Livekonzert hat diese Entwicklung auch widergespiegelt. Letztes Drittel hatte dann aber so viel Energie, dass es trotzdem toll war.
* The Vices: das war doch öder als gedacht, müsste entweder mehr Pop sein oder mehr Strokes, so zwischen den Stühlen.
* Arab Strap: hatte ich mir ein wenig mehr erhofft. Wirkt mit ihrer Zwei-Mann-Besetzung auf großer Bühne doch etwas statisch, da außer Vocals, Gitarre und sporadischem Percussion-Einsatz von Aidan Moffat der Rest vom Band und nicht von *der Band* kommt. Etwas zu ruhig für meinen Moment.
* The Pretenders: war für mich die vielleicht größte Enttäuschung. Das ist doch recht in der Zeit stehen gebliebener 80ies Rock, die New Wave Anfänge konnte ich nirgendwo mehr entdecken.
* Picture Parlour: mit „Norwegian Wood“ (kein Cover) erst einen Song veröffentlicht, der ist aber ein richtiger Hit. Der Wille zu großen Motorcycle-Emptiness-Gitarrenlinien bestimmt alle ihren guten Lieder, allerdings hat das halbstündige Konzert schon auch noch seine Längen.
* Deadletter: lebt vor allem vom Frontmann, eine Mischung aus einem jungen Damon Albarn mit Ian Brown Swagger. Live stark, bin gespannt, ob sie diese Attitude auf Platte pressen können.
* The Bug Club: wären mit einem kleinen Club besser bedient gewesen als Open Air, aber schöne/kuriose Mischung aus Helen-Love-Indiepop-Songs mit Gitarrensoli.
* Tramhaus: niederländischer Postpunk mit Joey-Ramone-Lookalike an den Vocals, sicherlich ein Tipp.
* The Mary Wallopers: Neo Pogues. Dahingehend ganz interessant, dass es Irish Folk irgendwie in Richtung Bluegrass/Appalachian bringt, was ja musikhistorisch einen Kreis macht. Starkes Cover von „Cod Liver Oil & Orange Juice“, das ich auch jetzt noch als absoluten Ohrwurm habe
* English Teacher: hatte mir zu viel Prog-Tendenzen, schade – mehr erhofft.
Desweiteren gesehen:
* Egyptian Blue
* Featurette
* Carys
* Poulish Kid
* Shitney Beers
* Emilie Azaaria