vonChristian Ihle 05.06.2024

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Schon im Jahr 2000 wusste Rocko Schamoni in seinem Buch „Risiko des Ruhms“ („Dieser knallharte Tatsachenroman ist ein Lebensbekenntnis, das den Leser trifft wie eine gefrorene Axt“) von der Gründungssitzung der Hamburger Schule zu berichten:

„Ich weiß noch genau, wie alles anfing. Das war so um 1987 rum, und ein paar von uns hingen ständig im Schanzenviertel ab, abends oft im Restaurant Goldener Stern am Pferdemarkt. Meistens war der Mann dabei, der für uns eine Art Vatergestalt geworden war und den wir zärtlich Hilsberg nannten: Alfred Hilsberg. An einem Abend im November 89 waren wir mit ca. zehn Leuten inkl. Hilsberg im Goldenen Stern, um über die Perspektiven zeitgenössischer Popmusik unter Berücksichtigung politischer Aspekte zu reden. Außer Hilsberg waren anwesend: Tobias Levin (Cpt Kirk &), Knarf Rellöm (damals noch bei Monkey Men), Lars Greve und Mathias Halfpape (beide von Selig), Andreas Dorau (Fähnlein Fieselschweif), Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Frau Rabe (Goldene Zitronen), Kerstin & Sandra Grether (Zillo, beide das erste Mal in Hamburg) und Alf Burchardt (Goethes Erben). Meist ging es drunter und drüber bei uns, und wir redeten uns die Mäuler wund über jedes noch so kleine Thema, wir waren einfach jung und voller romantischer Ideen. So war es auch an diesem Abend, elf junge Leute schwatzten aufeinander los, und ein Alter saß schmunzelnd, aber auch nachdenklich daneben und beurteilte die entstehenden Kopfgeburten. Meist rauchte unser Hilsberg dabei sein Pfeifchen, was die Gemütlichkeit der Atmosphäre steigerte, und hin und wieder gab er uns allen eine Runde Tee aus.

(…)

„Hört euch genau an, was Jochen zu sagen hat, begreift es, es geht um Einigkeit. Es geht um sozialdemokratische Prinzipien, wie sie zu Brandts Zeiten noch gepflegt wurden, um eine gemeinsame Stoßrichtung, darum, mit kleinen Mitteln große Ziele zu erreichen. Ihr müsst euch ein Programm überlegen und einen eigenen Namen.» Zustimmendes Raunen in der Runde, während Hilsberg sich wieder setzte. Dann erfolgte eine lange Debatte über Programm und Namen der kleinen Gruppe. Über programmatische Inhalte konnten wir zu keinerlei Klarheit gelangen, deswegen wandten wir uns der Namensgebung zu.

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Die Ideen überstürzten sich, ich kann an dieser Stelle nur einige wiedergeben. Ich glaube, von Selig kam die Idee «P. O. F.». (Pop Armee Fraktion), Tobias Levin schlug «Fresci Tedesci» vor, was so viel heißen soll wie «frische Deutsche», Frau Rabes Idee war «die Horde», und Dorau warf «Füchschenbau» in die Runde. Wir merkten rasch, dass wir nicht auf der richtigen Spur waren, und richteten unseren Blick irgendwann erwartungsvoll auf Hilsberg. «Damit müsst ihr schon selber fertig werden», meinte er und blickte auf Jochen. Durch den Blick ermutigt, brachte Jochen seinen Vorschlag: «Was haltet ihr von ‹Die Hamburger Schule»?» Wir alle waren spontan begeistert und klopften mit den Knöcheln auf den Tisch. «Gut, das soll euer Name sein, jetzt braucht ihr noch Vereinsstatuten und eine Kleiderordnung», meinte Hilsberg. Für die Statuten brauchten wir Stunden, aber wir kriegten sie tatsächlich fertig, hier ein paar Auszüge: 1) Die «Hamburger Schule» ist eine nichtkommerzielle Vereinigung, die einzig der kritischen Referenz von Kultur verpflichtet ist. 2) Die Mitglieder dürfen sich bis zu ihrem Austritt keinem anderen Verein ähnlichen Charakters anschließen. 3) Die Treffen finden wöchentlich zu festen Zeiten statt, einmal im Monat wird die «Werkschau» veranstaltet, in der jedes Mitglied seinen derzeitigen künstlerischen Standpunkt zur Überprüfung bereitstellt. 6) Regelmäßige Besuche von kulturellen Veranstaltungen sind Pflicht und werden von einem «Kulturgremium» festgelegt. 8) Es besteht Parteipflicht über den Stand der Inhalte der «Hamburger Schule», jeder Bruch wird von einem «Maßnahmengremium» geahndet. 10) Diskurs ist zentrale Lebenspflicht … und so weiter und so fort.

(…)

Kurz vor Weihnachten 1990 hatten wir «Werkschau» im Goldenen Stern. Es waren alle Mitglieder anwesend, zu dieser Zeit bestanden wir aus ca. zwanzig Personen. Jeder hatte etwas dabei, eine These, einen neuen Song, ein Bild, einen Standpunkt. Irgendwann kam unser Szenebenjamin an die Reihe, seine Produkte vorzuzeigen, der Jüngste in der Gruppe: Schorsch Kamerun, der so ein bisschen der Nachzügler war und von allen verhätschelt wurde. Er hatte sich augenscheinlich nicht vorbereitet und fing an, sich über die strengen Regeln aufzuplustern. Besser gesagt: Er schimpfte wie ein Rohrspatz von wegen, das sei ja wie in der richtigen Schule und er habe keine Lust, jetzt kurz nach dem Abi schon wieder Hausaufgaben machen zu müssen, und die Regeln kämen ihm auch vor wie in einem Kleingartenverein. Wir guckten uns an, alle hielten die Luft an, aber schließlich prustete irgendjemand los, und dann konnte sich keiner mehr zurückhalten, und wir brachen alle in schallendes Gelächter aus. Er war aber auch zu witzig – der Kleine -, und es war ja auch in Ordnung, dass er mal ein bisschen aus seiner Haut platzte, war er doch quasi noch ein Halbstarker. Nachdem wir uns zu Ende amüsiert hatten, erklärte Bernd Begemann unserem Küken, wie wichtig solche Regeln für ein Erwachsenenleben im Verein sein können, und das sah «Little Schorsch» – wie ihn Hilsberg nannte – dann auch ein. «Der Verein ist dein Leben!», sagte Bernd trefflich, und wir klopften auf den Tisch.“

(aus „Risiko des Ruhms“, Rocko Schamoni – erschienen bei rowohlt)

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