vonChristian Ihle 31.07.2024

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Doctorella, die Band von Sandra & Kerstin Grether (vervollständigt durch Sascha Rohrberg und Daniel Benyamin), hat seit ihrer letzten Veröffentlichung ein „The“ dazugewonnen, nach Eigenaussage die „rrockige Neuerfindung“ des Konzepts. Die erste Single aus dem neuen Album „Mondscheinpsychose, Bordsteinrose“ allerdings schaut noch mehr Richtung Noise-Pop.
Angemessen für die Geschichte der Grethers ist „Cliffhanger“ natürlich randvoll mit popkulturellen Referenzen und kämpferischen Slogans. Identifiziert habe ich schon einmal: Rihanna, France Gall, Babsi Tollwut und Bikini Kill.

Ich schaff Herrenmenschendeutschland ab wie Kathleen
Hanna
Force from above, power and love
Yours, Doctorella

Hier die Premiere des mit Überblendungen arbeitenden Videoclips, der die Songtexte bondage-heavy visualisiert, weiter unten ein Interview mit Kerstin & Sandra Grether über die neue Platte und die alte Hamburger Schule Diskussion:

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Das erste Video zu eurer neuen Platte verfolgt einen ungewöhnlichen Ansatz, arbeitet mit Überblendungen und Bondage-Bilder. Was war euer visuelles Konzept zum Video und wie verbindet ihr die Lyrics mit den Bildern?

Kersty: Mir war es wichtig, dass das Video schön und kunstvoll wird, weil es ja auch ziemlich krass und sexuell-explizit ist. Und ich die Person spiele, die gefesselt wird. Das ging für mich nur in einer vertrauensvollen, feministischen Atmosphäre voller leuchtender Überblendungen, Farben und Emotionen. Ich wollte, dass die Bilder nicht so 1:1 sind und Raum für Träume lassen. Die Regisseurin Mercedes Reichstein, die Riggerin Ann Antidote (die „im echten Leben“ auch eine
Musikerin ist) und die Künstlerin Bettina Semmer (in deren Atelier das alles spielt), haben mich dabei ermutigt, die Fährte eines wagemutigen Begehrens aufzunehmen, die der Songtext auslegt.

Die Musik von Cliffhanger, dieser vielschichtige Noise-Pop, hat mich da natürlich auch durchgeführt. Nicht zuletzt ist „Cliffhanger“ auch der Song zu meinem im Oktober erscheinenden dritten Roman „Bravo Bar“, in dem der unterbeschäftigte Musikjournalist Timo davon träumt, sich von der erfolgreichen Straßenrapperin Rachelle fesseln zu lassen. Jetzt hab ich nur noch das Problem, was ich unserer Mutter sagen soll, wenn sie fragt „habt ihr mal wieder ein schönes Video auf youtube?“ 🙂

Sandra: Ich beeile mich mit meinem Video zur zweiten Single „Saint White Male“, versprochen! Da darf sie einfach nur ihrer Tochter beim E-Gitarre-Spielen zuschauen.

Eure Band hat ein „The“ gewonnen! In Erinnerung an die große „The“-Band-Zeit der frühen Nuller Jahre: wird Doctorella nun also garagenrockiger?

Kersty: Yeah Yeah Yeah! „Mondscheinpsychose, Bordsteinrose“ ist auf jeden Fall eine musikalische Neuerfindung in Richtung Garagenrock der Nuller Jahre, aber auch inspiriert von der aktuellen Londoner Post-Punk-Riege. Wir haben mit Daniel Benyamin einen neuen Schlagzeuger und Produzenten dabei, der von der emotionalen Bandbreite und Melodiosität unserer ersten beiden Platten geflasht war, aber meinte: „Wenn ihr das jetzt mit mehr Noise-Rock und Garage machen würdet, dann wärt ihr nicht mehr zu toppen.“

Sandra: Das musste man mir, größtem Fan von The Strokes und The Libertines; aber auch von The Velvet Underground und The Clash, nicht zweimal sagen! Ich hab mir mit 13 übrigens ein „Clash-“ Tattoo stechen lassen, das „The“ habe ich mir aber damals, aus Gründen der Schmerzensvermeidung, gespart. Das müsste ich jetzt eigentlich auch noch nachholen 🙂

Kürzlich waren wir ja alle in eine große Hamburger Schule Diskussion verstrickt – wie ist Euer Eindruck mit etwas Abstand dazu?
Wie empfandet ihr die Vertonung der "Oral History" von Jan Böhmermann und Olli Schulz?

Kersty: Auch mit etwas Abstand: ich bereue nichts!:) Ich liebe es, genau so wie diese Sache gelaufen ist. Auch dank deines couragierten Eingreifens, Christian, konnte ausnahmsweise mal Musikgeschichte so heiß gegessen werden, wie sie gekocht wird. Das war auch der Hamburger Schule würdig. Du hast ja damit das Drehbuch geliefert und damit einen dieser unvergesslichen situationistischen Punkmomente geschaffen, über die Greil Marcus immer schreibt.

Jan Böhmermanns und Olli Schulz Umsetzung fanden wir auch klasse, man hat dem angehört, dass sie auf der Höhe der gesellschaftspolitischen Diskurse sind. Böhmi, der uns gelesen hat, hat uns stilsicher interpretiert.

Sandra: Auch wenn wir sehr großmäulig aufgetreten sind in der Diskussion, so lag dem ein ziemliches Ohnmachtsgefühl zugrunde. Ich wäre auch lieber bescheidener gewesen. Aber ich dachte, ich beschäftige mich schon mein ganzes Leben mit dem Thema Sichtbarkeit von Frauen in der Popkultur und Rockmusikgeschichte. Wie soll ich noch über andere schreiben, wenn ich im stillen Kämmerlein dabei zuschaue, wie ich sowohl als Journalistin aus der Geschichte gestrichen werde, als auch als Musikerin, die Riot Grrrl in die Hamburger Schule eingebracht hat.

Kersty: Ich musste ja erst mal meine Rolle als journalistisches Sprachrohr der Hamburger Schule in der Spex klarstellen. Im Nachhinein wünsche ich mir, wir hätten in unserem Post noch mehr auf die Kacke gehauen, was die Rolle von Parole Trixi betrifft.
Ab Herbst 1997 schon kam man in dieser Szene an Parole Trixi einfach nicht mehr vorbei. Und auch an mit ihnen verbundenen Bands wie TGV und Schlampen Ficken Besser. Parole Trixi war ja nicht nur Sandra, es war ein feministisches Kollektiv, ein Aufschrei von vier oder fünf Bandmitgliedern, die sehr kreativ und sehr vernetzt waren in der Szene. Kristof Schreuf hat sie immer als seine Lieblingsband bezeichnet, bis zuletzt. Der Clou ist ja noch, dass Almut Klotz auch Gründungsmitglied war. So eine feministische, ich möchte fast sagen „Supergroup“ „vergisst“ man doch nicht einfach; da steckt doch mehr dahinter als ein Platzproblem…
Man stelle sich mal vor, es gäbe eine Doku über Feminismus in der HC-Szene von Olympia, Washington, Anfang der Neunziger Jahre und Bikini Kill würden nicht erwähnt, weil ihre Platte erst zwei Jahre später erschienen ist als irgendeine von Fugazi …
Davon abgesehen stimmt es einfach nicht, dass Hamburger Schule im Jahr 2000 vorbei war. Ich verstehe nicht, zu welchem Zweck das gerade wieder überall behauptet wird. Die wahre Sensationsmeldung wäre doch gewesen: nach 35 Jahren machen die Hamburger Schule Bands und Akteur:innen immer noch von sich reden…

Um bei all der Hamburger Schule – Geschichte auch mal wieder in die Neuzeit zu kommen: gibt es Bands oder Künstlerinnen dieser Tage, die die Fackel der Hamburger Schule hochhalten bzw. ähnlich wertvolles einbringen?

Kersty: Zum einen würde ich sagen, die Bands, die es damals taten, machen fast alle immer noch herausragende Alben; Tocotronic, Bernadette La Hengst oder Knarf Rellöm, der gerade eine tolle Fusion mit Mittekill hingelegt hat. Dann in Hamburg ansässige Artists wie Bürgermeister der Nacht (inklusive Solo-Platten), Frau Kraushaar oder MPCLafote, die auch weiterhin mit Aktivitäten wie Plattenläden oder als Barbetreiber und Podcaster genau diese Szene-Orte und den Diskurs am Laufen halten.

Sandra: Oder auch Musiker in Produzentenfunktion, wie etwa Thies Mynther oder Mense Reents, seinerzeit von der Gruppe Stella, heute in neuen Produktionszusammenhängen mit so spannenden Musikerinnen wie Fee Kürten/ Tellavision oder Sophia Kennedy. Tobias Levin produziert auch immer noch tolle Platten. Wir würden auch Bands, die heute in Berlin leben, dazuzählen, wie natürlich unsere eigene oder z.B. auch die Gruppe Gewalt, die gerade im Hamburger Clouds Hill Studio ein neues Album aufgenommen hat. The Doctorella hat immer schon mit Hamburger Labels wie Alfred Hilsbergs „ZickZack“ oder dem „Broken Silence“-Vertrieb zusammengearbeitet und wir haben unsere Musik und unsere m von den Reimschemata des Rap, bzw. aktuell Trap, beeinflussten Lyrics auch immer schon als „Diskurs-Rock“ verstanden: unabhängig davon, ob wir mal poppiger oder mal rockiger klingen.

Kersty: Der Text ist immer noch unsere Party! Lyrisches Empowerment ist uns genauso wichtig wie feministisches.

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https://blogs.taz.de/popblog/2024/07/31/the-doctorella-fuenf-fragen-an-videopremiere/

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