Das war schon eine kleine Sensation zu Anfang Dezember des letzten Jahres, als der Veranstalter mit der Meldung rausrückte, dass die Sex Pistols am 04. Juli 2025 im Rahmen des alljährlichen Citadel Music Festivals in der Spandauer Zitadelle auftreten würden. Der letzte Auftritt der Band in Deutschland lag immerhin gut 29 Jahre zurück. Nachträglich empfahl es sich, auch das Kleingedruckte zu lesen, denn aus dem anfangs annoncierten Einzel-Konzert wurde ein richtiges Mini-Festival, denn es waren in feinsinniger Unterscheidung der Rangfolge noch The Meffs als Support, außerdem die Genre-Helden von The Undertones und den Stiff Little Fingers als Special Guests auf das Lineup gesetzt worden. Das diesjährige Citadel Music Festival scheint ein richtiges „Veteranentreffen“ zu sein, vor zwei Wochen erst reüssierte der zum „Godfather of Punk“ geadelte Iggy Pop, sein weibliches Pendant Patti Smith als „Godmother of Punk“ kommt auch noch.
Ein lauer und wohl auch lauter Sommerabend nimmt seinen Anfang. Wie immer vor den Konzerten in der Zitadelle knubbeln sich die Zuschauergruppen vor dem Eingangsbereich, vom Alter her eher in der zweiten Lebenshälfte mit bunten T-Shirts als Bekenntnis zum Genre (gerne mal „Punk`s not dead“) oder zur inneren Haltung, dabei auffällig viele Engländer. Noch schnell mit den Freunden ein Bier vom Stand, während die Polizisten in ihren Kleinbussen bei geöffneten Seitentüren einem entspannten Abend entgegensehen. Die netteste Flaschensammlerin Berlins mit Stammplatz im Zugangsbereich gibt Allen ein unentwegtes „Viel Spaß“ mit auf den Weg. Es kann also losgehen.
Diesen Job übernehmen pünktlich um 18.00 h The Meffs aus Colchester, nördlich von London gelegen im beschaulichen Essex. Aber nicht beschaulich genug, den Zorn der Band über soziale Ungerechtigkeiten, den Rechtsdrall oder den „Fucking Brexit“ zu besänftigen. Sie besteht als klassische Two-Piece-Formation aus Lily Hopkins an der Gitarre und dem Schlagzeuger Lewis Copsey. Bislang veröffentlicht wurden zwei EPs, ein paar Singles und im letzten Jahr der großartige Longplayer „What a Life“. Reichlich Stoff also für einen furiosen, energiegeladen Auftakt, garniert mit einer Coverversion des Prodigy-Klassikers „Breathe“. Nach kaum mehr als einer halben Stunde ist Schluss. Die Band bedankt sich, ist ganz angetan von dem Publikum – und dieses von der Band. Die darf wiederkommen.
Nach einer kurzen Umbaupause betreten dann The Undertones die Bühne. Die Band wurde schon 1975 im nordirischen Derry gegründet. Auf den Bildern ihrer Anfangstage sahen sie irgendwie immer ein wenig so aus, als hätte ihnen Mutti am Vorabend noch die Klamotten rausgelegt. Das sollte sich bald legen, denn Fahrt nahm die Karriere auf, als der legendäre Radiomoderator John Peel ihre Demotapes in die Hände bekam und den Kracher „Teenage Kicks“ zu seinem Lieblingslied erkor. So sehr, dass er eine Zeile hieraus zur Inschrift auf seinem Grabstein verfügte. Die frühen Jahre der Band wurden von der Stimme Feargal Starkeys geprägt, der nach Auflösung der Band eine kurze Solokarriere startete, sich aber jeder Wiedervereinigungsanfrage widersetzte. Der Band in seiner heutigen Besetzung hat das nicht geschadet. Von damals dabei sind noch der Gitarrist John O’Neil, Michael Bradly am Bass und Schlagzeuger Billy Doherty. Selbst der zweite Gitarrist Damian O’Neil ist schon seit 1976 in der Band, der richtig gute Sänger Paul Mcloone immerhin auch über 25 Jahre. Eine eingeübte Formation also, die ihr Set mit sichtlichem Spaß herunterspielt. Die Erwartungen des Publikums an die Hits früher Tage werden insbesondere aus dem selbstbetitelten Debütalbum und dem Nachfolger „Hypnotized“ voll erfüllt. Dabei sind neben „Teenage Kicks“ natürlich auch „Jimmy Jimmy“, „My Perfect Cousin“ oder – wie passend – “Here Comes The Summer”. Nach ca. 70 Minuten hieß es aber: Platz da für einen weiteren nordirischen Act.
Das sind die Stiff Little Fingers, ehedem aus Belfast, benannt nach einem Song der „Vibrators“. Etwas später gegründet als die Band ihrer Landsleute, waren sie dafür immer etwas politischer. Der Nordirland-Konflikt prägte ihre frühen Songs. Im Jahr 1978 veröffentlichten sie mit „Suspect Device“ und „Alternative Ulster“ zwei beachtenswerte Singles, die sich beide auf ihrem sodann veröffentlichten großartigen Debüt „Inflammable Material“ befanden und heute noch zum Live-Repertoire gehören.
Die Gitarre des einzig verbliebenen Gründungsmitgliedes und Masterminds, Jake Burns, sowie das von Steve Grantley bediente Schlagzeug schimmern in irish-green. Schelmisch das T-Shirt des Drummers mit der Aufschrift „ABBA“, was aber von der textilen Reminiszenz des Bassisten Ali McMordie an die „New York Dolls“ wieder wettgemacht wird. Gemeinsam mit dem zweiten Gitarrist Ian McCallum knüpft die Band genau da an, wo The Undertones zuvor aufgehört hatten – mit dem Abfackeln guter Drei-Minuten-Kracher. „Inflammable Material“, doch entflammbar. Mit dabei ist auch „Strummerville“, ein Song in Gedenken an Joe Strummer, dem Burns in seiner Ansage nochmals seine große Bewunderung ausdrückt. Strummer und seine Band „The Clash“ übten seinerzeit großen Einfluss auf die Band aus, brachten ihnen die Reggae-Tunes bei und schärften das Sendungsbewusstsein. Im sonstigen Repertoire des Auftritts des heutigen Abends finden sich vor allem die Hits alter Tage und – eigentlich auch unvermeidbar – das Cover von Bunny Wailers „Root, Radics, Rockers, Reggae“.
Gut eingeheizt steuert der Abend gegen 21.50 dem Auftritt der Headliner zu: Die Sex Pistols feat. Frank Carter. Deren Geschichte ist schon oft erzählt. Gegründet 1975 in London gelten sie bis heute als stilprägendste und einflussreichste Punkband aller Zeiten, wenngleich die bleistiftknabbernde Journaille die Urheberschaft gerne mal an andere Größen des Business verteilt (Godfather, Godmother und so). Im Original bestand die Band aus Glen Matlock (Bass) Steve Jones (Gitarre), Paul Cook (Drums) und natürlich John Lydon aka Johnny Rotten als Sänger. Der allerdings ist schon längst nicht mehr dabei. Das hat seinen Grund in einem heillosen Zerwürfnis mit seinen ehemaligen Bandmates. Trotz einiger Reunion-Versuche überzogen sich die Herren im Zahlenverhältnis 3:1 mit Rechtstreitigkeiten, in den es um Geld, Namens- und Verwertungsrechte und letztlich auch um Reputation ging. Am Ende ging das Dreier-Bündnis wohl als Sieger hervor. Jedenfalls bedienen sie sich weiterhin als Sex Pistols aller jemals geschriebenen Songs. Das lässt Herrn Lydon allerdings nicht kalt. Als ruchbar wurde, dass sich die Band mit („featuring“) Frank Carter einen neuen Frontmann ausgesucht hatte, abqualifizierte er das Vorhaben als Karaokeshow, zumal es „seine“ Songs seien. Zugegeben, ohne Johnny Rotten wäre die Band niemals so groß geworden, hätte insbesondere keinen fast 50 Jahre währenden Nachhall produziert. Dieser (damals) dürre, großäugige Duracell-Punk hatte schon eine wahnsinnige Bühnenpräsenz. Aber waren es seine Songs? Nun ja, zehn der 12 Songs ihrer epochalen und einzigen LP „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“ werden kompositorisch im Wesentlichen Glen Matlock zugeschrieben, der Klassiker „Pretty Vacant“ sogar vollständig in Text und Musik. Ein Streit mit Manager Malcolm Maclaren trieb Matlock allerdings schon zum frühen Aufnahmezeitpunkt aus der Band, er wurde durch den nach Meinung seines kurzzeitigen Basslehrers Lemmy Kilmister vollkommen talentfreien Sid Vicious ersetzt. Der musikalisch wohl Begabteste der Truppe, Steve Jones, war jedenfalls für den harten, staccatoartigen Anschlag verantwortlich, der den Sound erst geprägt hat. Irgendwie war es also eine Gemeinschaftsleistung, was John Lydon auch heute noch in persönlicher Geschichtsklitterung verkennt. Apropos, verkennen: Als alter Griesgram lobpreist er Donald Trump, unterstütze Nigel Farage ideell beim Brexit-Gezeter und sieht in den rechten Bewegungen die richtige Strategie im Kampf gegen das (linke) Establishment. Rubbish! Immerhin avancierte er damit zum Leumundszeugen auch deutscher, rechtslastiger Postillen. Aber lassen wir John Lydon mit seiner Behäbigkeit, seinem zum Iro aufgebürsteten Resthaar und den farbmutigen Klamotten aus der Kleiderkammer einen guten Mann sein und machen die Probe auf’s Exempel. Können die anderen es noch? Diese Frage stellten sich viele der gut 10.000 Zuschauer*innen, mag auch kaum jemand die Band jemals zuvor live gesehen haben.
Das Bühnenbild lässt schon erahnen, wie die Show verläuft. Eingetaucht in die Farben neongelb/-rot steht die ikonische Cover-Design ihres Longplayers Pate für den gesamten Auftritt. Zwei gezeichnete, in leichtem Winkel zueinander stehende Lautsprecherboxen mit der Aufschrift „Nowhere“ und „Boredom“ sind eine Anspielung an den Werbeflyer ihrer Single „Pretty Vacant“, auf dem zwei Busse mit diesen nihilistischen Fahrzielen beschildert waren, nach Nirgendwo und in die Langeweile. Für heute ist kaum mit Langeweile zu rechnen. Als Einlaufhymne wird „God save the Queen“ in der Orchester-Version aus dem Film „The Great Rock‘n’Roll Swindle“ gespielt. Dann geht es richtig los. Die Sex Pistols spielen ihr komplettes Album bis auf das Spottlied „E.M.I.“ durch. Auf „Holidays in the Sun“ folgt „Seventeen“, folgt „New York”, folgt “Pretty Vacant”. Bei diesem Song hält es den ohnehin kaum zu bremsenden Frank Carter dann auch nicht mehr auf der Bühne, er taucht buchstäblich in die Menge. Eine echte Rampensau. Die aus einem „Motörhead“-Shirt lugenden bunten Arme sind wie der ganze Kerl immer in Bewegung, während die Kerntruppe konzentriert runterrockt. Es folgen noch die weiteren Songs, irgendwann auch das seinerzeit schon als B-Seite gecoverte „No Fun“ von The Stooges. Rührend wird es, als Carter „My Way“ in der eigentlich unnachahmlichen Version von Sid Vicious fast genauso rau und brüchig vorträgt. Matlock und Jones setzen sich dazu auf das Schlagzeug-Podest, so, als wollten sie sich zurücknehmen, um dem tragisch Verstorbenen die Ehre zu erweisen. Man weiß es nicht… Mit dem heutigen Schlusslied „Anarchy in the U.K.“ kocht die Stimmung noch einmal richtig hoch, aus tausenden Kehlen wird es zum Sing-along.
Und, war das Punkrock? Ja, war’s. Der Phantomschmerz blieb auch aus, es fehlte nichts und nichts tat weh.
Kleiner Schmunzler am Rande: Nur auf dem vergrößerten Foto erkennbar der Schriftzug auf Jones‘ Gitarre: „Rotten Management“. Hat das einen Bezug?
Text: Gero Riekenbrauck
Fotos: Martin von den Driesch
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