vonChristian Ihle 15.08.2025

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Grand Theft Hamlet (2024, Regie: Sam Crane, Pinny Grylls)
bei mubi

Mit Sicherheit eine der originellsten Ideen, die aus der Zwangssituation des Daheimbleibens in der Pandemie geboren wurde: als zwei derzeit arbeitslose Schauspieler während ihrer ständigen „Grand Theft Auto“-Sessions eine große Theaterbühne im Videospiel entdecken, keimt die Idee, innerhalb des Videogames einmal „Hamlet“ aufzuführen. Eine Freundin schaltet sich zu und dokumentiert die Versuche, die vor allem anfangs natürlich spielimmanent gern vorzeitig damit enden, dass einer der „Schauspieler“ von einem „Zuschauer“ der Aufführung im Spiel erschossen wird. Da sieht man mal, wie vergleichsweise klein die Probleme von Schauspielern in der realen Welt sind, Künstlerkasse hin oder her!

Dass „Grand Theft Hamlet“ mehr ist als eine schöne Idee für einen spaßigen Kurzfilm liegt daran, dass er einerseits herausarbeitet, wie die offene Welt eines Videospiels auch eine gleichere Welt sein kann, weil jeder ist, was er sein möchte. Die Auflösung der an die verschiedenen Kategorien gebundenen Identitäten von Herkunft, Geschlecht oder Geld wird als Utopie quasi real – ausgerechnet in einem Spiel, das den Hyperkapitalismus amerikanischer Prägung an sein Ende denkt. Auf einer melancholischeren Ebene ist „Grand Theft Hamlet“ aber auch ein Kommentar, inwieweit eine virtuelle Welt ein Ersatz sein kann für ein nichtvorhandenes gesellschaftliches Umfeld, aber auch ob dieses Leben im Dort letztlich gesund ist oder nicht als Teufelskreis sogar noch die Einsamkeit im Hier verstärkt. (7/10)

Hundreds of Beavers (2022, Regie: Mike Cheslik)
zur Leihe

Ein Kuriosum gleich in mehrerlei Hinsicht: erstens natürlich aufgrund seiner Entstehnungsgeschichte (maximal LoFi-Film wird zum Festivalfavoriten und erreicht im Folgenden eine weltweite Kinoauswertung), zweitens wegen seines Ansatzes (praktisch ein Stummfilm, in dem Menschen in Tierkostümen und ein Jäger sich gegenseitig zu überlisten suchen) und drittens aufgrund seiner Vorbilder, die von Buster Keaton zu Roadrunner by Guy Maddin reichen.

Noch kurioser finde ich fast, dass „Hundreds of Beavers“ eigentlich wirklich nur eine Kurzfilm-Idee hat, aber gerade in seinem letzten Drittel erst an Tempo und solchem Einfallsreichtum zunimmt, dass Absurditätshöhen erklommen werden, die man sich anfangs nicht träumen ließe. Während ich zu Beginn noch milde gelangweilt, aber durchaus fasziniert dem Treiben zusah, war ich gegen Ende eingesogen in diese Welt der heimlichen Bieberherrschaft und des großen Vernichtungswillen unseres Trappers.

Allein für seine überbordende Fantasie bei wirklich schmaler Grundlage eine 7/10 wert. (7/10)

Broken Rage (2024, Regie: Takeshi Kitano)
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Muss man auch erst mal schaffen: dass sich ein 66minütiger Spielfilm wie Kaugummi zieht.

Kitanos „Broken Rage“ splittet sich in zwei Parts: der erste spielt wie ein recht ruhiger „Auftragskiller goes Undercovercop“-Film, im zweiten Teil erzählt Takeshi Kitano die gleiche Geschichte, aber nun als Slapstick-Komödie. Wenn man so will also Kitanos erster marxistischer Film („Die Geschichte wiederholt sich, aber als Farce“).

Problem nur: der sich in der Zwischenzeit selbst in der ernst gemeinten Variante wie ein alter tappsiger Tanzbär bewegende Beat Takeshi ist weiter entfernt von Buster Keaton oder wenigstens Leslie Nielsen als, sagen wir, Karl Marx und so läuft vor allem die Farce-Version gänzlich ins Leere.

Ein guter Gag über die Verhörmethoden der Polizei, ansonsten entweder zu stumpf (Stuhl zerbricht) oder zu abstrakt (Kitano trägt Mausmaske). (3/10)

Harvest (2024, Regie: Athina Rachel Tsangari)
im Kino

Flirrender, grobkörniger Film über eine Gesellschaft zwischen ruralem Zusammenleben und dem Einbrechen der modernen Welt (modern = Mittelalter). In seinen besten Momenten atmet Tsangaris Film in seiner Unbedingbarkeit der Darstellung dieses alten, verlorenen Zusammenlebens den Geist des frühen Herzog (circa „Kaspar Hauser“) und spielt wie ein weniger auf den Exzess getrimmter Bruderfilm zu „Des Teufels Bad“.

P.S.: erstaunlich präzise Ben-Becker-Verkörperung von Caleb Landry Jones in der Hauptrolle. (6/10)

The Beast (2023, Regie: Bertrand Bonello)
bei mubi

Für gut eine Stunde von Bertrant Bonellos Riff auf Henry James‘ „The Beast Of The Jungle“ war ich völlig lost, verloren in seiner Welt.
Zukunft? Vergangenheit? Real? Virtuell? Geträumt? Doch irgendwann schält sich ein Gefühl für die Idee heraus, wenn auch kein völliges Verständnis für die Mechanismen der Handlung, wenn man die überhaupt so nennen will.

Das letzte Drittel von „The Beast“ ist dann wirklich enorm stark, intensiv, immer noch verwirrend, aber doch irgendwie auf den Punkt. Nicht nur deshalb erinnert mich das Ende an die allerletzte Folge von „Twin Peaks: The Return“. Eine grobe Ahnung von existentieller Angst, die sich aber mit enormer Wucht vermittelt.

Darüber hinaus ist die nach verschiedenen Zeitebenen (Realitäten? Virtuellen Realitäten?) strukturierte Geschichte vor allem in ihrer 2014er Version beängstigend stark – auch hier springen wieder meine Lynch-Reflexe an, diesmal ist es „Lost Highway“, nur als moderne Incel-Slasher-Variante.

Ein beeindruckend freier Film, in brillanten Bildern und mit einer der karrierebesten Performances von Lea Seydoux. (8/10)

Dahomey (2024, Regie: Mati Diop)
bei mubi

Wenn du dir einen Berlinale-Gewinner schnitzen möchtest: politisch bemühter, „poetischer“ Kommentar im Geiste des Post-Kolonialismus, dessen größter Vorzug seine kurze Laufzeit ist. (4/10)

Bruno Reidal: Confession of a Murderer (2021, Regie: Vincent Le Port)

Eine kühle, irritierend unwertende Analyse von mörderischem Sadismus.

Der 17jährige Bruno Reidal ermordet einen 13jährigen Jungen. Vor Ärzten erzählt er seine Jugend (ungeliebt von der Mutter, sexuelle Belästigung durch einen Fremden, Katholische Schuld) und die Entwicklung von Mordgedanken, die ihm allein Befriedigung zu verschaffen vermögen.

Vincent Le Port verwendet zwar durchaus deutliche Bilder, beschreibt aber diesen Weg zur unvermeidlichen Eskalation mit größter Ruhe, die einen harschen Kontrast zu den gezeigten Bildern aufwirft. (6/10)

Lovely Rita (2001, Regie: Jessica Hausner)
zur Leihe

Jessica Hausners Debütfilm atmet in seiner stillen, gemein beobachtenden Art Haneke’schen Geist, hat aber dazu ein gutes, unhanekehaftes Gespür für die verwirrende Zeit einer Teenagerin, die sich einfach immer und überall lost fühlt.

Schuleschwänzen, Busfahrerangraben, den kranken Nachbarsjungen zu Quatsch verführen, Toilettendeckel offen stehen lassen – Rita lässt nix aus, um ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Wie sehr – und wie unvermutet – „Lovely Rita“ am Ende eskaliert, überrascht uns Zuschauer aber doch völlig und bringt die Abfolge von Episoden der Gesellschaftsverweigerung zu einem Ende, das nachhallt. (6/10)

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