vonLeisz Shernhart 04.06.2024

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Gestern habe ich mich mit meiner Nichte zum Mittagessen getroffen. Sie besucht derzeit die zehnte Klasse eines allgemeinbildenden G 8- Gymnasiums im ländlichen Großraum Stuttgart. Sie hat mir erzählt, dass bei ihr nun die Kurswahlen für die Oberstufe anstünden. Eigentlich wollte sie unter anderem als Leistungsfach Französisch sowie das Oberstufenwahlfach Literatur und Theater, ein sogenanntes Orchideenfach, wählen. Bei unserem gestrigen Treffen hat sie mir dann erzählt, dass an ihrer Schule weder ein Französischkurs noch ein Literatur-Und-Theater-Kurs zustande kämen. Sie wurde von den Oberstufenberaterinnen ihrer Schule dazu angehalten, ihr Kurswahlformular entsprechend abzuändern. Einen wirklichen Grund wollte man ihr nicht nennen. Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass sich nicht ausreichend Schüler*innen für diese Kurse entschieden hätten, weswegen man diese nun auch nicht anbiete. Meine Nichte war sehr geknickt und ich war voller Unverständnis, weswegen ich, nach Rücksprache mit meinem Bruder, beschlossen habe, der Sache etwas genauer auf den Grund zu gehen. Auf eine entsprechende Nachfrage bei der Abteilungsleitung Oberstufe erklärte man mir dazu heute per Mail Folgendes:

 

Sehr geehrter Herr Shernhart,

vielen Dank für Ihre Mail. Sie werden sicherlich verstehen, dass wir am ….-Gymnasium in der Oberstufe nur Kurse anbieten können, wenn diese von einer ausreichenden Zahl an Schüler*innen belegt wurden. Aufgrund der neuesten Vorgaben der vorgesetzten Dienstbehörde (Regierungspräsidium Stuttgart) darf die Mindestanzahl für das Zustandekommen eines Oberstufenkurses 20 Schüler*innen nicht mehr unterschreiten, da ansonsten nicht genügend Deputatsstunden im Kollegium zur Verfügung stehen. Sollte Ihre Nichte sich im Angebot des ….-Gymnasiums nicht wiederfinden, müsste sie sich leider gegebenenfalls für die Oberstufe anderweitig orientieren. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen

StD‘ A.B.

(Abteilungsleitung Oberstufe, Fachberaterin Mathematik)

 

Wenn ich diese schmucklose Antwort richtig verstehe, haben die Gymnasien von ihrer vorgesetzten Dienstbehörde die Dienstanweisung erhalten, bestimmte Kurse nur noch dann anzubieten, wenn sich dies auch „lohne“. Offensichtlich haben damit kapitalistische Strukturen, wie das Ökonomieprinzip, endgültig auch die Bildungslandschaft unterwandert. Schulfächer haben augenscheinlich nur noch dann eine Existenzberechtigung, wenn sie wirtschaftlich sind. Eine Lehrkraft für sieben Deputatsstunden (im Falle meiner Nichte fünf Wochenstunden für einen Französisch-Leistungskurs und zwei wöchentliche Schulstunden für einen Literatur-Und-Theater-Kurs) zu bezahlen, rechnet sich demnach laut Regierungspräsidium Stuttgart erst ab einer Auslastung von 20 Schüler*innen. Wem das nicht passe, der möge sich sinngemäß eine andere Schule suchen.

abo

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Ich empfinde das, ehrlich gesagt, als Zumutung. Zudem kommt dies einer Bankrotterklärung für das Baden-Württembergische Schulsystem gleich. Schule sollte sich nicht dem Diktat der Wirtschaftlichkeit unterwerfen müssen! Selbst wenn nur ein einziger Schüler oder eine einzige Schülerin, der individuellen Neigung folgend, sich für einen bestimmten Kurs entscheidet, sollte dieser angeboten werden. Das vom Regierungspräsidium Stuttgart angeordnete Spardiktat dürfte der Dolchstoß für musisch-künstlerische Orchideenfächer bedeuten. Diese sprechen häufig nur eine ganz bestimmte Zielgruppe innerhalb der Schülerschaft und eben nicht die breite Masse an. Vor diesem Hintergrund einen Kursteiler von 20 Schüler*innen mit dem Rotstift anzusetzen, ist realitätsfern. Noch schlimmer ist es, dies bei einem Kernfach wie Französisch zu tun. Damit setzt sich nicht zuletzt der Trend einer Wegrationalisierung der Geisteswissenschaften zugunsten der sogenannten Mint-Fächer fort. Mit Physik und Mathematik kann man schließlich Sportwägen in Windkanälen konstruieren, die man nach einem BWL-Studium teuer verkaufen kann, um Wachstum zu generieren. Wer braucht in einer solchen Welt schon Fächer wie Literatur und Theater oder Französisch? Meiner Meinung nach kennt die deutsche Sprache für eine solche Entwicklung nur einen einzigen treffenden Begriff: beschämend.

 

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